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E-Book

Haudegen

Zusammen sind wir weniger allein

AutorHagen Stoll, Sven Gillert
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641190415
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ihr Weg führte aus Ostberliner Plattenbauten an die Spitze der Albumcharts. Sie verbinden Rockmusik mit ebenso geradlinigen wie berührenden Texten. Sie tragen die Namen ihrer Fans als Tätowierung immer bei sich: Haudegen ist die deutschsprachige Rockband der Stunde. So packend Hagen Stoll und Sven Gillert Musik machen, so aufrichtig erzählen sie jetzt ihre eigene Geschichte - ein Buch über die Wucht des Lebens und die Kraft der Musik.

Hagen Stoll, Jahrgang 1975, wächst im Ostberliner Stadtteil Marzahn auf. Nach einer Lehre auf dem Bau und Gelegenheitsjobs als Türsteher, Eisverkäufer und Putzfachkraft beginnt er sich Mitte der 1990er Jahre für die aufkeimende deutsche Rap-Szene zu interessieren. Er arbeitet als Produzent, unter anderem von Sido und wird als Joe Rilla zum Sprachrohr der ostdeutschen Jugendkultur und der 'Platten'. 2009 gründet er mit seinem Jugendfreund Sven Gillert die Gruppe Haudegen und konzentriert sich von nun an auf Rockmusik in bester Liedermacher-Tradition. Ihr Debütalbum 'Schlicht & Ergreifend' landet auf Anhieb auf Platz 9 der deutschen Charts. Hagen Stoll lebt und arbeitet in Berlin.

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Leseprobe

2. GROSSVATER SAGT

  • Womit soll ich anfangen?
  • Warum nicht mit deiner Geburt?
  • Na schön.

Ich war unbeabsichtigt. Meine Mutter ist nur sechzehn Jahre älter als ich, da kann man sich denken, dass keine Absicht vorlag. Was aber die Sache noch kritischer machte: Obendrein war ich nicht gerade willkommen. Mein Großvater, das Familienoberhaupt, konnte meinen Erzeuger nicht leiden und wollte darum erst mal nichts von mir wissen. Mein Erzeuger war allerdings auch eine Pfeife – Scheiße bauen und Mädels flachlegen, das war sein Ding. Einmal habe ich ihn gesehen, als Kind, da lungerte er vor unserer Haustür herum, ein großer, kräftiger Kerl in Jeansklamotten, die Ärmel hochgekrempelt, tätowiert bis an den Hals, ein echter Weiberheld.

»Wer issn det?«, frage ich meine Mutter.

Sie: »Den musst du nicht kennen.« Und als ich nachbohre: »Ein schlechter Mann.«

Sie lässt ihn stehen, aber ich will’s jetzt wissen. »Isser det?«, frage ich sie.

Und meine Mutter stöhnt: »Ja, det isser.«

Ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir sehen haargenau gleich aus.

Ein Schlägertyp. Mein Großvater hatte bald heraus, wer meiner Mutter den Bauch gemacht hatte, und von Stund’ an war ich ihm ein Dorn im Auge, obwohl es mich noch gar nicht gab. Der Rest der Familie schwieg dazu, niemand hätte ihm zu widersprechen gewagt. Wer sich nicht fügte, bekam von meinem Großvater eins aufs Maul, bis er’s kapierte.

Man darf sich meinen Großvater nicht wie einen Großvater vorstellen. Der hatte zu Hause das letzte Wort. Der regierte mit harter Hand. Wenn man Glück hatte, schlug er mit dieser Hand nur auf den Tisch. In seinen guten Jahren – und damals war er in seinen besten Jahren – war dieser Mann knapp zwei Meter groß, wog hundertvierzig Kilo und hatte Oberarme wie ein Steinsetzer, dazu Riesenpfoten und ein kantiges Gesicht. Seine Handflächen, aber auch seine Finger waren mit einer dicken Schicht harter Hornhaut überzogen, und wenn deine Hand zur Begrüßung in seiner verschwand, hast du um deine Hand gefürchtet. Er liebte seine Familie. Aber verträglich war er nur, solange jeder nach seinen Regeln spielte. Wer sich nicht daran hielt, bekam diese Hände zu spüren.

Es hatte Zeiten gegeben, da war er für irgendwelche Firmen irgendwohin gefahren und hatte irgendwelche Leute zusammengeprügelt, damit sie ihre Rechnungen bezahlten – das war damals normal, es herrschte ein viel rauerer Umgangston, wenn jemand sich nicht an die Abmachungen hielt. Auch später hatte er hier mal eine Keilerei, da mal eine Keilerei, und wenn Ebbe in der Brieftasche war, fragte er sich: Bei wem könntest du noch Geld eintreiben? Um an Cash zu kommen, beteiligte er sich auch als Preisboxer an Hinterhofboxkämpfen. Er verfügte über einen ganz ordentlichen rechten Haken, und so entschied er die Sache oftmals in den ersten zwei Runden für sich und hatte wieder Kohle.

Einmal habe ich ihn nach dieser Wahnsinnsnarbe gefragt, die von links nach rechts quer über seine Nase verläuft. »Da wollten se mir die Neese abschneiden«, sagte er.

»Warum denn?«

»Na«, sagte er, »weil ick den Kampf verlieren sollte. Ick sollte gegen einen boxen, den sie von ganz unten nach ganz oben befördern wollten, der musste halt alle Kämpfe gewinnen, und weil se sich bei mir nich’ sicher waren, sollte ick mir rechtzeitig geschlagen geben. Aber ick verliere keenen Kampf. Nicht auf diese Art.«

Da haben sie meinen Opa in einer dunklen Gasse zusammengefaltet und ihm bei der Gelegenheit die halbe Nase abgeschnitten. Die hing tatsächlich runter. Er ist damit ins Krankenhaus gefahren und hat sie sich wieder annähen lassen.

Mein Großvater war schon ein Alphatier. Eigentlich der Urhaudegen. Wenn der einen Raum betrat, wussten alle Bescheid. Und dieser Mensch wollte nun nichts von mir wissen. Dann kam der 12. März 1978. Es war einer der kältesten Winter, die wir je hatten, Berlin versank im Schnee. An diesem Tag wurde ich in Friedrichshain geboren, im selben Krankenhaus wie Hagen, nur drei Jahre später. Mit meinen zwölf Pfund war ich vermutlich das schwerste Baby von ganz Berlin, und mit diesem Brocken im Arm stapfte meine blutjunge Mutter nun nach Hause, also dorthin, wo mein Großvater nach seiner Nachtschicht im Gaswerk im Bett lag und schlief. Sie war eben die Tochter ihres Vaters, sie traute sich das, und daheim angekommen ging sie aufs Ganze. Sie schlich mit mir ins Schlafzimmer, legte mich neben meinem Großvater auf dem Kopfkissen ab und ging wieder raus, blieb aber mit meiner Oma hinter der Tür stehen und behielt das Bett, den Großvater und mich durch den Türspalt im Auge. Ein tollkühnes Manöver, und was passiert? Großvater wird wach, dreht sich zu mir um, sieht mich, hebt mich auf, kommt mit mir auf dem Arm aus dem Schlafzimmer und übergibt mich meiner Oma. »Der darf bleiben«, sagt er. »Der hat mich angelächelt.«

So kam es, dass ich bei ihnen blieb. Bei meinen Großeltern vorerst, aber auch später immer wieder für längere Zeit, denn meine Mutter war halt sehr jung, sie musste Geld verdienen und fing gerade eine Ausbildung an. Meine Versorgung und Erziehung lagen also im Wesentlichen in den Händen meiner Großeltern, worüber ich heute sehr froh bin, denn auf diese Weise hatte ich gleich eine große Familie und eine total verrückte Familie und mit Sicherheit den verrücktesten Großvater der Welt. Mein Vater spielte überhaupt keine Rolle. Der hatte mich gezeugt und sich dann vom Acker gemacht, wie es mein Großvater vermutet hatte. Ich glaube, er hat später seine Packung gekriegt. Mein Großvater muss ihn in irgendeinem Hinterhof erwischt und mit dem Knüppel verdroschen haben.

Meine Großeltern hatten mehr Platz als meine Mutter in ihrer neuen Einzimmerwohnung in der Chodowieckistraße, wo der Flur als Kinderzimmer herhalten musste. Ganz ungefährlich war der Aufenthalt im Haus meiner Großeltern allerdings nicht. Praktisch jede Familienfeier artete in eine Schlägerei aus, und es wurde viel gefeiert. Natürlich war immer jede Menge Alkohol im Spiel – auch mein Großvater hat ordentlich gebechert, Schnäpse mit Vorliebe, braune und klare. Eines Tages – ich kann kaum älter als ein Jahr gewesen sein – hatte er seine beiden Brüder Ralph und Detlef zu Besuch. Dieser Ralph war zwar schmächtiger als seine Brüder, aber genauso unfein wie der Rest der Verwandtschaft. An diesem Tag nun kam es zwischen meinem Großvater und seinem Bruder zum Streit, und Ralph rannte wutentbrannt auf die Straße, wo er einen Pflasterstein auflas und gegen eins unserer Fenster feuerte. Und traf. Es war das Fenster, hinter dem ich in meinem Kinderbett schlief. Der Stein, eine richtige Klamotte, verfehlte mich nur knapp. Auf der Höhe meines Kopfes war das Holz des Gitterbettes gesplittert, und die Scherben der zersprungenen Scheibe lagen überall herum, auch in meinem Bett.

Als mein Großvater den Knall hörte, kam er ins Schlafzimmer gerannt und sah die Bescherung: Die zersplitterte Scheibe, die Scharte des Steins an meinem Bett, die Glasscherben, den Pflasterstein, mich. Er drückte mich meiner Oma in den Arm – »Guck mal, ob dem Bengel was fehlt« – lief runter, erwischte seinen Bruder und verabreichte ihm die Tracht Prügel seines Lebens. Verdrosch ihn auf offener Straße und jagte ihn danach zum Teufel. Das ging nun doch zu weit. Über diesen Menschen wurde bei uns nie wieder gesprochen. Meine Familie hatte ihn für immer aus der Liste der Lebenden gestrichen.

Eine selten ungnädige Reaktion. Aber diesmal gab mein Großvater kein Pardon, weil ich sein Liebling war. Ich hatte es nämlich in kürzester Zeit sozusagen vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht, will sagen: Vom ausgestoßenen Ungeborenen zur Nummer eins auf Großvaters Bestenliste. Was nicht allein an meinem Lächeln lag, sondern … Aber dafür müsste man das altertümliche Machtgefüge meiner Familie kennen. Also: Meine Großeltern hatten fünf Kinder, meine Mutter, meine Tante Jacqueline und meine drei Onkel, nämlich die Zwillinge Mario und René sowie Enrico. Enrico war der Jüngste, nur acht Jahre älter als ich, während meine Mutter das älteste der Kinder war, die große Schwester, weshalb sie den höchsten Rang von allen Kindern bekleidete und damit gleich nach meinem Großvater und meiner Oma kam. Das heißt: Wenn meine Mutter ein Machtwort sprach, konnten nur noch Großvater oder Großmutter ein Veto dagegen einlegen. Da gab es eine klare Hierarchie, die keiner angezweifelt hätte, die instinktiv von allen respektiert wurde – bei uns war der Instinkt sowieso entscheidend. So funktionierte das im Hause Gillert, und deswegen hatte ich als Sohn meiner Mutter eine Sonderstellung in der Familie; ich war sozusagen der Liebling aller.

Jacqueline, Mario, Enrico, René? Das waren natürlich ausgefallene Namen. Die gingen alle ins Italienische oder Französische. Meine Mutter heißt Cornelia, sogar was Römisches. Und in der Tat: Mein Großvater hat immer mit einem Auge nach Frankreich geschielt und mit dem anderen wohl nach Italien geblinzelt, weil meine Familie aus dem romanischen Kulturkreis stammte. Die Gillerts waren nämlich Hugenotten und irgendwann aus Frankreich eingewandert. Kein Wunder, dass wir keine englischen Bulldoggen hatten, sondern französische.

Im Übrigen geriet der gesamte Nachwuchs meinem Großvater nach. In späteren Zeiten sind dann auch fast alle mit dem Gefängnis in Berührung gekommen, das war der Preis für ihren Lebensstil. Ich erinnere mich: Wenn wir uns am Strand versammelten und meine Onkel sich auszogen, war unser Strandabschnitt leer – die waren nämlich alle in irgendeinem Knast tätowiert worden. Sie hatten...

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