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E-Book

Das Erbe der Kriegsenkel

Was das Schweigen der Eltern mit uns macht

AutorMatthias Lohre
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641188238
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine persönliche Geschichte, in der sich Millionen Deutsche wiederfinden
Als der Vater des Journalisten Matthias Lohre stirbt, stirbt damit auch die Beziehung zu seinen Eltern. Eine Beziehung, die sich oft fremd angefühlt hat. Die Auseinandersetzung mit seinen Eltern wird für Lohre zu einer Reise in die Vergangenheit und zu einer Suche nach Versöhnung. Er zeigt exemplarisch, womit Kinder von Kriegskindern bis heute kämpfen: mangelndem Selbstwertgefühl, Schuldgefühlen und diffuser Angst. Geprägt durch eine Katastrophe, die sie nicht erlebt, aber doch zu spüren bekommen haben. Eine ermutigende Geschichte und eine letzte Chance für alle 40- bis 60-Jährigen, die Seelentrümmer ihrer Vergangenheit aufzuspüren.

Matthias Lohre, geboren 1976, arbeitet als Journalist und Autor in Berlin und berichtet über Politik aus der Hauptstadt und den Bundesländern. Neun Jahre Redakteur der taz, zuletzt als politischer Reporter. Heute ist er u.a. für Die Zeit und ZEIT ONLINE tätig. Autor des Bestsellers 'Das Erbe der Kriegsenkel'.

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Leseprobe

Anfang & Ende

Warum diese Geschichte?

I

Die letzte Reise meines Vaters dauerte 26 Stunden, und sie endete auf der A2 nahe Herford unter einer blauen Plastikplane. Begonnen hatte sie hundertvierzig Kilometer entfernt, als mein Vater an einem Dienstagmittag in die Hosentasche griff, wo er schon immer den Autoschlüssel aufbewahrte. Dann schloss er die Fahrertür seines kleinen Peugeots auf, stieg ein und rollte vom Hof des Seniorenheims, in dem er seit wenigen Monaten lebte. Er fuhr über Landstraßen und Autobahnen, die er lange nicht befahren hatte. Dabei wurde er doch immer so nervös, wenn Unvorhergesehenes geschah. Und jetzt – alt, mager und leicht zu verwirren – konnte er Überraschungen weniger denn je gebrauchen. Trotzdem schaffte mein Vater es irgendwie bis zu einer Autobahnraststätte und hielt an. Am Mittwoch um 17:18 Uhr, Feierabendverkehr, Herbstwetter, es war schon dunkel, startete er wieder seinen Wagen und lenkte ihn auf die Auffahrt. Nach 70 Metern auf dem Beschleunigungsstreifen riss er das Steuer herum und fuhr in entgegengesetzter Richtung auf der linken Spur. Vielleicht sah er noch die Scheinwerfer des weißen Volvos, die rasend schnell näher kamen, blendende Lichter in der Dunkelheit, bevor er frontal mit ihm zusammenprallte.

Wo verbrachte mein Vater seine letzten 26 Stunden? Solange ich lebe, buchte er kein Hotelzimmer. Schlief, aß, trank er, den Routineabweichungen immer nervös gemacht haben, in dieser Zeit überhaupt? Wohin wollte er? Und warum riss er, der stolz gewesen war, noch nie einen Unfall verursacht zu haben, an diesem trüben Novembertag des Jahres 2012 auf der Autobahn seinen Wagen herum? Hatte er geahnt, dass Gedächtnislücken und Verwirrtheit sich nicht mehr allein durch Arzneinebenwirkungen und zu wenig Wassertrinken erklären ließen? Hatte er gespürt, dass seine Aussetzer etwas Schlimmeres, etwas Endgültiges ankündigten? Wollte er sterben, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach meiner Mutter? Und nahm er dafür den Tod anderer Menschen in Kauf? Ich wusste es nicht. Aber was wusste ich, als sie noch lebten, schon über meine Eltern?

Als ich den Anruf erhalte, der die Todesnachricht bringt, ist es Nacht. Danach lege ich das Handy beiseite, gehe aus dem Schlaf- ins Wohnzimmer und greife nach dem Tablet. Das Display leuchtet im Dunkeln, ich mache kein Licht. Vielleicht in der Hoffnung, mich verstecken zu können. Vor dem Schock, der Scham und mir selbst. Vor der Nachricht aber kann ich mich nicht verbergen. Wenige Stunden nach seinem Tod gibt es schon Agenturmeldungen über den »Geisterfahrer«, mehrere Medien verbreiten sie auf ihren Internetseiten: »Der 81-Jährige starb noch an der Unglücksstelle. Der 43-jährige Fahrer des anderen Wagens musste mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Warum der 81-Jährige in die falsche Richtung auf die Autobahn fuhr, war zunächst unklar.«

Über und neben dem Artikel leuchten Reklamebanner. Lächelnde Menschen werben vor sattem Grün für Lebensversicherungen. Zwei Leser bewerten die Panorama-Meldung mit vier von fünf Sternen. Sogar Fotos vom grell beschienenen Unfallort gibt es schon, zum Anklicken und Vergrößern. Feuerwehrleute in Schutzanzügen, schweres Gerät, Scheinwerfer. Der frontal zusammengequetschte blaue Kleinwagen meines Vaters liegt an der Leitplanke wie ein erschöpfter Boxer in den Seilen. Ein Foto zeigt neben dem Wrack eine blaue Plastikplane. Erst nach ein paar Sekunden begreife ich, dass sie nicht Teil des Autos ist. Sondern ein Beutel. Darin liegt mein Vater.

Welche »schweren Verletzungen« hat der 43-Jährige, in dessen Wagen er gerast ist? Ich suche im Internet nach weiteren Artikeln. In einem ist von »erheblichen Verletzungen« die Rede. Sind »erhebliche« schlimmer als »schwere«? Was, wenn der Unbekannte stirbt? Dann, sagt etwas in mir, hast du nicht genug getan; du hast nicht genügt; dann hast du endgültig versagt.

Tausende Agenturmeldungen wie diese habe ich als Journalist über die Jahre gelesen. Ihre Klarheit hat mir gefallen. Keine unangebrachten Emotionen, keine unbelegten Behauptungen, nur Tatsachen: Wer hat was wann wo wie warum getan? Jetzt lese ich, fünfhundert Kilometer vom Unfallort entfernt, die nüchternen Tatsachen. Sie sollen erklären, wie mein Vater wenige Stunden zuvor gestorben ist – und ich begreife nichts. Die Wirklichkeit verbirgt sich hinter den Fakten.

Seit dem frühen Nachmittag habe ich mich gefragt, wo mein Vater stecken mag. Da habe ich eine neue Mail des Seniorenheims gelesen, in dem mein Vater seit wenigen Monaten lebte: Am Vortag habe mein Vater das Gelände verlassen und sei seither nicht zurückgekommen. Was sollten sie jetzt tun? Eilig habe ich mit allen Menschen telefoniert, zu denen mein Vater gefahren sein könnte. Es sind nicht viele. Die Polizei wurde alarmiert. Danach konnte ich nur warten. Ich habe mir vorgestellt, wie mein Vater zur selben Zeit am Rande einer Landstraße in seinem Auto sitzt, schimpfend auf den leeren Tank, das Auto und die Welt. Dann klingelte das Telefon.

Als ich spät in der Nacht zurück ins Schlafzimmer gehe, glaube ich, dass mit meinem Vater auch die Beziehung zu meinen Eltern gestorben ist. Meine Mutter ist schon zehn Jahre tot. Das seltsame Ende auf der Autobahn vereint in sich noch einmal all die Verständnis- und Ratlosigkeit, mit der wir einander zu Lebzeiten gegenüber gestanden haben. Mein Vater war nicht der Vater gewesen, den ich als Kind ersehnt hatte, und ich kein Sohn nach seinem Geschmack. Meiner Mutter hatte ich mich als kleines Kind nahe gefühlt, aber das war lange her. Meine Eltern und ich waren einander fremd gewesen. Und jetzt war es vorbei.

Ich lösche das Licht, und alles sieht danach aus, als ginge mein Leben weiter wie bisher.

II

Am Morgen danach erwache ich allein. Ich telefoniere mit meinen Geschwistern. Wir planen die Beerdigung, bringen einander auf den neuesten Stand: Der Mann, in dessen Wagen unser Vater raste, hat laut Polizei mehrere gebrochene Knochen, wird das Krankenhaus aber schon bald verlassen können. Wegen seiner traumatischen Erfahrung ergreift er therapeutische Hilfe. Ich bin ungeheuer erleichtert: Er ist nicht gestorben, ihm fehlen keine Gliedmaßen, und er hat offenbar keine bleibenden Schäden. Die Polizei stellt nach wenigen Tagen ihre Anfangsermittlungen ein. Im Blut meines Vaters hat sie weder Alkohol noch Drogen gefunden. Es gibt keinen Abschiedsbrief, niemand im Seniorenheim berichtet von verdächtigen Äußerungen. Nur ein »altersbedingter Aussetzer« also?

Die Beerdigung findet am zehnten Todestag meiner Mutter statt. Dezemberkälte, Glockenläuten, eine Handvoll Menschen in schwarzen Kleidern, gesenkte Blicke, Amen. Am Tag darauf sitze ich wieder an meinem Schreibtisch, 500 Kilometer östlich vom Grab meiner Eltern. Wenn ich vom Rechner aufblicke, kommt es mir manchmal so vor, als habe es den nächtlichen Anruf gar nicht gegeben. Nach dem Tod meines Vaters scheint sich nichts in meinem Leben zu verändern. Tot wirkt er nicht abwesender, als er es lebendig war.

Ende 2012 bin ich ein 36-jähriger Single, und wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, antworte ich: »Ich kann nicht klagen.« Allein lebe ich in Berlin-Prenzlauer Berg und tue, was ein typischer »PrenzlBerger« so macht. Meinen Kühlschrank stelle ich voll mit Bioprodukten, meine Zwei-Zimmer-Altbauwohnung bescheinen Energiesparlampen, und eine klare Trennung von Arbeit und Privatem ist mir fremd. Seit Jahren schreibe ich als Zeitungs-Redakteur politische Artikel und Kolumnen. Gerade habe ich Urlaub, aber den nutze ich, um daheim ein Manuskript zu Ende zu tippen. Seit einer Woche bin ich Waise, und scheinbar unbeeindruckt beende ich ein humorvolles Sachbuch über Geschlechterunterschiede im Film. Wenn ich nur noch Worte und Buchstaben vor mir sehe, ziehe ich Laufschuhe an. Meine Arbeitswoche hat sieben Tage, ich trainiere für den achten Marathon, und trotzdem habe ich immerzu das merkwürdige Gefühl, zu wenig zu leisten. Aber so zu denken, sage ich mir, ist heutzutage doch normal.

Das fertige Manuskript schicke ich zwei Wochen vor Abgabefrist zum Verlag. Ich bin stolz darauf, unter Druck zu funktionieren. Doch nur einen Moment, nachdem ich auf »Senden« gedrückt habe, ist es, als hätte ich nie etwas geleistet. Eilig suche ich mir eine neue Herausforderung, eine weitere Aufgabe. Nichts zu tun macht mich nervös. Bin ich nicht gerade dadurch wie alle anderen?

Zugegeben: Als mein Vater stirbt, hat noch keine Beziehung länger gehalten als ein Jahr. Aber ich habe einfach noch nicht die Richtige gefunden. Die Aussicht, mit einem anderen Menschen über Wochen zusammen zu sein, gar eine Wohnung zu teilen, fürchte ich mehr als das Alleinsein. Ist es nicht verständlich, meine Ruhe haben zu wollen, schließlich habe ich im Job genügend Stress? Hinter dem nächsten erreichten Ziel, da bin ich fast sicher, wird die Zufriedenheit schon auf mich warten. Ich muss mich nur noch ein wenig länger noch ein bisschen mehr anstrengen, eine noch effizientere Version meiner Selbst werden. Mehr arbeiten, mehr vorausberechnen, mehr vorsorgen. Mit Mitte Dreißig führe ich kein Leben, sondern eine Null-Fehler-Existenz.

Doch als »unglücklich« würde ich mich nicht bezeichnen. Geht es mir nicht besser als den meisten: gesund, mit festem Job und genug Geld zum Leben? Erst recht weit besser als den vorangegangenen Generationen, die Krieg und Hunger erlitten und trotzdem die Kraft gefunden haben, mich aufzuziehen? Ich bin ein Produkt der längsten Friedensphase, die der Kontinent je erlebt hat. Obendrein Teil der Generation Golf, deren Mitglieder als Kinder angeblich keine größere Sorge gekannt haben, als beim Beginn von...

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