Einleitung: Die Herausforderung des Verzeihens
Dieses Buch ist der Versuch, das Verzeihen zu verstehen und auszuloten bis an seine Grenzen. Wer verzeiht, handelt weder gerecht noch ökonomisch, noch logisch. Verzeihen bedeutet dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Verzicht auf Wiedergutmachung. Der Verzeihende fordert nicht, was ihm eigentlich zusteht. Er lässt ab, entsagt, hört auf zu »zeihen«, das heißt zu benennen, bekannt zu machen.1 Das ewige Zeigen auf die Wunde, das Bezichtigen eines Anderen, findet mit dem Verzeihen ein Ende. Damit vollzieht sich das Verzeihen jenseits des Gesetzes, das unser Leben fundamental bestimmt. Dieses Gesetz lautet: Wer Schuld hat, muss zahlen. Je höher die Schuld ist, desto höher auch der Betrag. Das Fatale an der moralischen Schuld ist, dass sie nicht auf dieselbe Weise abgeleistet werden kann wie rechtliche Schuld oder ökonomische Schulden. Ja, je schwerer die moralische Schuld wiegt, desto weniger scheint sie vom Schuldigen beglichen werden zu können. Sie währt weiter, klebt gleichsam an ihm.
Das Christentum hat für dieses Problem das Ritual der Beichte erfunden: Durch die Absolution, so besagt das lateinische Wort absolvere, löst sich der Täter von der Schuld. Aber auf welche Weise vermögen Menschen einander zu ent-schuldigen, wenn sie das Gegenüber nicht von Schuld freisprechen können wie Priester einen Sünder im Beichtstuhl? Menschen können Schuld nicht wie von Zauberhand abnehmen, sie können sich nur zu ihr verhalten. Der Begriff des Verzeihens trägt dieser Einschränkung Rechnung: Die Schuld des Täters bleibt bestehen; verzichtet wird lediglich auf ihre Begleichung.
Verzicht oder Gabe?
Diese passive Dimension des Verzichts, des Nichttuns, des Lassenkönnens ist für das Verzeihen wesentlich. In dieser Hinsicht steht es in einem eigentümlichen Gegensatz zum religiös konnotierten Begriff des ›Vergebens‹. Obschon beide Wörter zumeist synonym verwendet werden – auch und gerade in Übersetzungen, denn etwa im Französischen und Englischen existiert für ›Verzeihen‹ und ›Vergeben‹ jeweils nur ein Begriff –, ist es hilfreich, sich den Unterschied zu vergegenwärtigen. Das wesentliche Moment des ›Vergebens‹ ist nicht der Verzicht, sondern die Gabe. Auch im französischen pardon und im englischen forgive ist sie enthalten: Dem Vergeben, meint der französische Philosoph Paul Ricœur, wohnt ein Überschuss inne, der diesen Akt klar vom kalkulierten Tauschgeschäft unterscheidet: Wer vergibt, schielt nicht auf eine exakt bemessene Gegengabe. Vielmehr ist das Vergeben ein Akt des Schenkens, der, wenn er gelingen soll, auf die Tugend der Bescheidenheit auf Seiten des Beschenkten genauso angewiesen ist wie auf die Tugend des Großmuts auf Seiten des Schenkenden. Opfer und Täter kommen zusammen in einem extraordinären, feierlichen, man möchte fast sagen göttlichen Akt, den die Theologin Beate Weingardt als einen genuin »schöpferischen Vorgang« beschreibt. »Im Wort Vergebung«, so Weingardt, werde »das Negative des Verzichts«, das dem Verzeihen innewohnt, »in das Positive des Gebens gewendet« – für Weingardt ein entscheidender Grund für das »höhere moralische Gewicht« des Vergebens.2
In der Tat klingt das Wort »Verzeihen« im Gegensatz zum »Vergeben« auffällig alltäglich. Schließlich bitten wir nicht nur in existenziellen Situationen, sondern bei allen möglichen Gelegenheiten (Zuspätkommen, kleinen Kränkungen etc.) um Verzeihung – aber um Vergebung? Wenn ein Mensch zum anderen sagte »Vergib mir«: Verliehe er ihm damit nicht automatisch eine nachgerade göttliche Macht?
Und doch ist das Verzeihen, nur weil es weltlich ist und bisweilen floskelhaft verwendet wird, keineswegs notwendigerweise von niederem moralischen Wert – im Gegenteil. Um Verzeihung bitten wir einen anderen Menschen, um Vergebung hingegen vor allem religiöse Würdenträger oder Gott selbst. Anstatt den Begriff des Verzeihens also für philosophisch irrelevant zu erklären, geht es vielmehr darum, das Wort freizuschälen vom floskelhaften Gebrauch – und herauszuarbeiten, inwiefern nicht nur die Gabe, sondern auch der Verzicht eine Geste der Transzendenz sein kann. Tatsächlich besteht ja die außerordentliche Leistung des Verzeihenden darin, sich eines Impulses, eines Affektes, eines emotionalen Automatismus zu erwehren: Anstatt sich dem Rachedurst oder dem verbitterten Wunsch nach Wiedergutmachung hinzugeben, übt er sich in Zurückhaltung. Anders formuliert: Der Verzicht auf die Lust, erfahrenes Leid heimzuzahlen beziehungsweise in Rechnung zu stellen, ist sein Geschenk, seine Gabe.
Genau an diesem Punkt berühren sich die Begriffe des Vergebens und des Verzeihens: Der Nicht-Akt des Verzichts geht über in den Akt des Gebens; und auch umgekehrt ist das (göttliche) Vergeben vom Verzicht nie ganz zu trennen. Der so genannte ›Ab-Lass‹ etwa offenbart diese Untrennbarkeit ganz buchstäblich: »Bis in die Neuzeit hinein wurde die Sündenvergebung als Ablaß gedacht: als Tugend der Passivität, die einem gleichwohl strengen und gerechten Gott zugeschrieben werden durfte«, so der Kulturhistoriker Thomas Macho. »Die Gottheit verzeiht, indem sie von einer Verfolgung der Missetaten abläßt.«3 Das Verzeihen vom Vergeben dogmatisch abzugrenzen wäre folglich verfehlt; ganz abgesehen von dem Fakt, dass in anderen Sprachen nicht zwischen Vergeben und Verzeihen unterschieden wird, was zu unlösbaren Übersetzungsschwierigkeiten führt. Und so lässt es sich auch nicht vermeiden, dass in der vorliegenden Abhandlung beide Begriffe Verwendung finden; wenn etwa Hannah Arendt vornehmlich von »Vergebung« spricht, werde ich mich, wenn ich mich auf Arendt beziehe, ihren Gebrauch übernehmen. Dass ich für den Titel meines Buches jedoch den Begriff des Verzeihens gewählt habe, findet seinen Grund in seiner benannten Weltlichkeit: Mir geht es um Entschuldungsprozesse zwischen Menschen, um dezidiert diesseitige Akte des Schulderlasses, die gleichwohl, wie wir sehen werden, immer wieder ins Transzendente, Übermenschliche ausgreifen.
Der Ruf des Unverzeihbaren
Das profane Verzeihen vollziehen wir jeden Tag ohne groß darüber nachzudenken: »Verzeihung«, sagt der höfliche Mensch in der U-Bahn, wenn er aus Versehen jemanden anrempelt oder ihm auf den Fuß tritt. So gering ist die Schuld desjenigen, der um Verzeihung bittet, dass es im Grunde gar nichts zu verzeihen gibt. Das wahre, das wahrhaftige Verzeihen, auf das es ankommt und das hier im Mittelpunkt steht, stellt sich nur angesichts großer, ja größter Schuld. »Man muß, so scheint mir, von der Tatsache ausgehen, dass es, nun ja, Unverzeihbares gibt«, so der französische Philosoph Jacques Derrida. »Ist es nicht eigentlich das einzige, was es zu verzeihen gibt? Das einzige, was nach Verzeihung ruft?«4
Damit sich die Frage des Verzeihens ernsthaft und in aller Abgründigkeit stellt, muss die Schuld so schwer wiegen, dass sie – rational betrachtet – gerade nicht verziehen werden kann. Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung. Man könnte dieses Derridasche Diktum schnell als realitätsferne, nicht zielführende Kopfgeburt abtun: Wie soll ein Mensch etwas verzeihen, das sich dieser Möglichkeit doch gerade entzieht? Ist ein Verzeihen in diesem, man möchte fast sagen: übermenschlichen Sinne überhaupt möglich? Meldet sich hier nicht tatsächlich, gleichsam durch die Hintertür, doch wieder ein göttlicher Anspruch?
Schauen wir also genauer hin, was Derrida mit diesem denkwürdigen Satz meint. Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung. Das Verzeihbare schweigt, denn es braucht nicht verziehen zu werden. Wer nur dann verzeiht, wenn er die Beweggründe des Täters begreift, gar davon überzeugt ist, dass er an seiner Stelle genauso gehandelt hätte, so Derrida, verzeiht nicht. Denn sobald eine Tat rational nachvollziehbar ist, ist sie kein Gegenstand des Verzeihens mehr, sondern der Versöhnung. In den Worten Derridas: »Sobald das Opfer den Verbrecher ›versteht‹, sobald es austauscht, spricht, sich mit ihm verständigt, hat die Szene der Versöhnung begonnen und mit ihr jenes geläufige Verzeihen, das alles ist außer einer Vergebung.«5 Die Versöhnung ist an die Bedingung des wechselseitigen Verstehens geknüpft. Eine Verzeihung im eigentlichen Sinne aber ist bedingungslos und spielt sich damit jenseits jeder Rationalität, jenseits jeder Nachvollziehbarkeit ab. Ein bedingungsloses Verzeihen widersetzt sich dem Verstand, weil es, dem Anspruch nach, auch die schlimmsten Verbrechen entschuldigt und dabei auf Seiten des Täters noch nicht einmal Reue verlangt. Mit juridischer Gerechtigkeit hat das Verzeihen folglich nicht das Geringste zu tun, im Grunde noch nicht einmal mit Moral. Ist es nicht im höchsten Maße unmoralisch, eine Tat, ja sogar eine unmenschliche Tat, einfach auf sich beruhen zu lassen? Trügen die Deutschen weiter Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen und dafür, dass sie sich nicht wiederholen, wenn die Überlebenden der Shoah in einem Akt nachgerade übermenschlicher Großmut sagten: Wir verzeihen euch?
Das Böse verzeihen?
Überlegungen wie diese haben die Philosophin Hannah Arendt dazu veranlasst, bestimmte Verbrechen von der Möglichkeit des Verzeihens auszuschließen. »Zweifellos bildet die Einsicht ›Denn sie wissen nicht, was sie tun‹ den eigentlichen Grund dafür, daß Menschen einander vergeben sollen; aber gerade darum gilt auch diese...