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Hausbesuche

Wie ich mit 200 Kuchen meine Nachbarschaft eroberte

AutorStephanie Quitterer
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641171735
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn?
Stephanie Quitterer backt Tag für Tag Kuchen und klingelt an fremden Wohnungstüren. Sie wettet, dass sie endlich ihre Nachbarn kennenlernt.
Ein ansteckendes Experiment mit 200 Kuchen und eine charmante Geschichte über Fremdwohnungssehnsucht, Nachbarschaft und Freundschaft.



Die Kiez-Ethnologin Stephanie Quitterer, auch Rotkapi genannt, wurde 1982 in Eggenfelden (Niederbayern) geboren. Sie lebte in Rio de Janeiro, studierte in Berlin, Kairo, München und war Regieassistentin am Deutschen Theater in Berlin. 2011 nutzte sie ihre Elternzeit, um endlich ihre Nachbarn kennenzulernen. Die Autorin lebt in Berlin.

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Leseprobe

Der hagere Mann braucht ein Sekündchen. Ein Sekündchen des ungläubigen Glotzens. Er linst ins dustere Treppenhaus, in dem ich stehe, linst treppauf, linst treppab, ob da nicht vielleicht eine versteckte Kamera auf der Lauer liegt? Dann schaut er wieder mich an mit diesem Ich-hab-mich-wohl-verhört-Blick und fragt: »Ist das dein Ernst?«

Ich schaue demonstrativ an mir herab: Mein Baby in der Trage vorm Bauch, in der einen Hand eine Korbtasche voller Schraubdeckelgläser mit Kaffeepulver, Kakao, Teebeuteln, Malzkaffee, Milch, Zucker; in der anderen Hand ein Kuchenteller mit »Süßen Schneebällchen« darauf, in Kokos gerollten Sahnebiskuitkugeln – selbst gemacht.

Ja, es ist eindeutig mein Ernst. Ich habe gerade im Ernst den hageren Mann aus seiner Wohnung geklingelt, um ihm ein Kaffeekränzchen anzutragen. In seiner Wohnung. Jetzt. Sofort. Obwohl wir einander noch nie begegnet sind.

Weil wir einander noch nie begegnet sind.

»So was is mir ja noch nie passiert«, murmelt der hagere Mann, und wie er es murmelt, in seiner engen schwarzen Lederhose und mit den goldenen Klunkerringen an den Fingern, ist klar, dass ihm sonst eigentlich schon recht viel passiert ist.

»Ach«, winke ich großzügig ab, »das war jetzt siebenundachtzig anderen auch noch nie passiert.«

»Siebenundachtzig?! Dann brauchste ja noch … hundertdreizehn!«, folgert er tonlos, weil ich ihm natürlich auch von meiner Wette erzählt habe. Ich habe gewettet, mich in 200 Tagen bei 200 mir fremden Menschen in ihre Wohnungen einzuladen. Spontan und unangemeldet. Er schielt auf meine süßen Schneebällchen.

»Na, komm schon rein«, sagt er und hält mir die Tür auf, »ich bin der Matthias.«

Drinnen sind die Wände bonbonpink, bonbongrün und bonbongelb, behangen mit Pop-Art. Fellbarhocker stehen an einer Theke, über der Durchreiche zur Küche rekeln sich die Beine einer Schaufensterpuppe in Ringelstrümpfen und High Heels. Überhaupt, die High Heels: 300 Paar sind es, wird Matthias später erzählen. Die ganze Wohnung bis hin zum kleinsten Requisit, jedes Möbel, jeder Aschenbecher, jedes Glas, selbst das Telefon sind eine lückenlose Liebeserklärung an die Sixties.

»Deine ist definitiv die abgefahrenste Wohnung«, sage ich anerkennend, »obwohl … Kennst du Dirk?«

Dirk hat seine Wohnung komplett in Schwarz-Weiß eingerichtet. Komplett. Selbst im Bücherregal stehen nur Bücher mit schwarz-weißem Rücken, und sogar die Pflaster im Erste-Hilfe-Schränkchen sind schwarz-weiß. Aber bei Dirk haben die Designersessel auch Markierungen am Fußboden.

»Dirk, welcher Dirk?«, fragt Matthias.

»Dein Nachbar. Er wohnt über dir.«

Seine Nachbarn kenne er nicht, knurrt Matthias und trägt mir von meinen Schneebällchen auf – mit einem Bratenwender.

»Stilvoll«, sage ich.

»Na ja«, brummelt er, »was soll ich machen, ich bin nicht so der Tortenheini.«

Ich bin eigentlich auch nicht so der Tortenheini. Im Gegenteil: eher talentfrei, was das Backen betrifft. Hin und wieder passiert mir zwar ein Kuchen, aber das liegt nur daran, dass ich Regieassistentin am Theater bin und nicht stricken kann. Und so ein Kuchen gibt mir – im Vergleich zu etwas Selbstgestricktem – relativ schnell und relativ unkompliziert das Gefühl, etwas geschafft zu haben, etwas, das zur Abwechslung mal sichtbar vor mir steht, sogar eine Form hat – wenn auch eine vergängliche. Nein, ich habe nicht davon geträumt, einmal im Leben zweihundert Kuchen hintereinander backen zu dürfen. Aber ich musste es tun.

Es war nämlich so, dass ich gerade Mutter geworden war und plötzlich, von einer fröhlichen 60-Stunden-Woche im Theater auf Null gebremst, elternzeitlich bedingt, meine Tage auf der Straße verbrachte: Kinderwagen schiebend, mit einer Decke auf dem Kopf und einer ausgewachsenen Existenzangst im Nacken. Haut und Haar hatte bisher das Theater von mir verlangt. Jetzt tat es das Baby. Wie sollte ich die beiden jemals miteinander bekannt machen, ohne dass sie wie die Katzen aufeinander losgehen würden?

Ich schob durch die Straßen und fühlte mich einsam. Der Familienclan acht Autostunden entfernt – und im Berliner Freundeskreis war ich die Erste und Einzige mit Baby. Das allein würde für eine mittlere Stimmungsschwankung schon reichen, aber ich war kurz vor der Geburt auch noch zu Tom gezogen – in einen Kiez, der, wie ich meinte, überhaupt nicht zu mir passte. Aber jede alternative Wohnortverhandlung mit Tom blieb aussichtslos: Tom ist Musiker und hat nach etlichen Wohnungswechseln vor Jahren diese Wohnung gefunden, in der sich kein Nachbar über sein andauerndes Musizieren beschwert. Außerdem ist die Wohnung, da noch unsaniert, auch für einen Jazz-Musiker wie ihn in jeder Lebenslage erschwinglich. Hach, was tut man nicht alles aus Liebe? Vor allem in Kombination mit latentem Geldmangel. Ich zog also frohen Herzens aus meinem vor Jahren schon sehr sorgfältig gewählten Lieblingsviertel freiwillig in einen Kiez, in dem Mütter einen vergleichbar guten Ruf haben wie Pest und Cholera. Es ist ein Kiez, der in den Medien als deutscher Gentrifizierungshotspot zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat und in dem es an Feindbildern nicht gerade mangelt: die Schwaben, die Yuppies, die Wessis, die Ossis, die Touris – die Mütter, die angeblich keine anderen Sorgen haben, als möglichst schnell an ihren nächsten Latte Macchiato zu kommen.

Man kann sich mit Feindbildern arrangieren, solange man selbst auf der »richtigen« Seite steht. Aber zwei Monate nach meinem Zuzug war ich selbst Mutter – und kam auch sofort in den Genuss der schönsten feindseligen Blicke. Dass mein Zu-verschenken-Kinderwagen an zwei Stellen schon mit Kabelbindern geflickt werden musste, wurde mir nicht angerechnet: Ich schob einen, das allein und meine Meldeadresse im Personalausweis reichten für den Tatbestand.

Juchhu, ich war ein Feindbild!

Vielleicht war ich seit der Schwangerschaft besonders sensibel geworden – ich konnte mir ja nicht mal mehr meinen geliebten sonntäglichen Tatort in aller Kaltblütigkeit reinziehen –, jedenfalls kroch mir die feindselige Stimmung auf der Straße mit ungeahnter Heftigkeit in die Knochen. Ich litt also schon an einer gewissen emotionalen Gicht, als Tom und ich eines Tages bei unserem Inder in der Frühlingssonne saßen und sich ein Pärchen näherte, das sich nach kurzer Beratung zu uns an den Tisch setzte. Plötzlich erkannte die Frau in meinem Mann Tom und Tom in der Frau eine Marianne, man freute und erkundigte sich, ob der jeweils andere denn noch in der alten, unsanierten Wohnung von damals wohne. (Ja.) Dann erzählte Marianne, dass sie gerne wegziehen wollten von hier, weil der Kiez sich so verändert habe, dass ihnen vor lauter Yuppiegewimmel jedes Berlingefühl abhandengekommen sei. Aber weil sich in einem Umkreis von sechshundert Kilometern einfach keine bezahlbare Wohnung mehr finden lasse, sähen sie sich gezwungen, in ihrer unsanierten Billigwohnung weiterhin und unfreiwillig die Fahnen gegen den Kapitalismus hochzuhalten.

Es war kein besonderes Gespräch, so oder so ähnlich haben allein in der letzten Woche fünf weitere von Toms Straßenbekanntschaften ihren Unmut über die gesellschaftlichen Umwälzungen in diesem Viertel zum Ausdruck gebracht – und auch wir haben schon zusammen mit hundert anderen Bewerbern überteuerte Wohnungen in anderen Vierteln besichtigt und sind geschlagen und reumütig wieder nach Hause geschlichen. Im Weiteren unterhielt man sich angeregt und aß sein Chicken Korma, aber als es an den Aufbruch ging und ich meinen im ruhigeren Abseits geparkten Kinderwagen mit der darin schlafenden Marie holte, entfuhr Marianne ein angewidertes: »Oh Gott, du bist auch eine von denen

Und da reichte es mir. Ich hatte keine Lust mehr, ständig von Feindbildern umgeben zu sein. Selbst eines zu sein. Ja, ich könnte so weitermachen wie bisher: missmutig durch die Straßen stampfen, in allem und jedem einen Angriff sehen, mich ärgern, dass ich an einem Ort bin, an dem ich nicht sein will, weil er mir mein Selbstverständnis ruiniert, unter Menschen, die mich nicht mögen oder, wahlweise, die ich nicht mag.

Warum können einen diese Menschen eigentlich nie grüßen, dachte ich, statt immer nur zu starren. Dieser Typ da drüben, zum Beispiel! Der hockt doch jeden Morgen, wenn ich vorbeikomme, vor diesem bescheuerten Café in der Sonne, der muss doch langsam wissen, wer ich bin, dieser ignorante Esel!

Bis ich mal nachrechnete, wie viele Menschen ich auf der Straße als »Nachbar« identifizieren könnte. Ich erkannte doch selbst in unserem Hinterhof einen Nachbarn nur daran, dass er nicht im Müll nach Pfandflaschen zu stochern anfing.

»Fällt dir was auf?«, fragte ich Tom, als wir von der Inderbegegnung weg und durch die Straße spazierten.

»Nö«, sagte er, »was denn?«

»Alle, die wir treffen, erzählen nur immer, wie schlimm es hier ist. Dass es sich so sehr verändert hat, dass man hier nicht mehr anständig leben kann.«

»Wieso? Stimmt doch auch.« Tom lebt seit über zwanzig Jahren hier in der Straße, er muss es wissen....

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