1 Ich bin ein Deutscher
Fremdsein, Heimat, Sprache
Am 16. Dezember 1974 hielt Heinrich Böll einen Vortrag an einem in vielfacher Hinsicht – religiös, historisch, politisch, militärisch – brisanten Knoten- und Kreuzungspunkt der Weltkulturen: in Jerusalem. Den Anlass seines Vortrags bot die Eröffnung der 39. Tagung des Internationalen P.E.N.-Clubs (›Poets, Essayists, Novelists‹). Sie stand unter keinem guten Stern. Die ursprünglich bereits für Dezember 1973 vorgesehene Veranstaltung war wegen der militärischen und politischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten verschoben worden. Die arabischen und sozialistischen P.E.N.-Zentren hatten ihre Teilnahme aus politischen Gründen abgesagt. Nur 30 Delegationen – darunter als größte die aus der Bundesrepublik Deutschland mit 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – waren angereist. Den Berichten über die Tagung ist zu entnehmen, dass die Diskussionen über das vom israelischen P.E.N.-Zentrum vorgeschlagene Rahmenthema »Cultural Heritage and Creativeness in the Literature of our Times« im Wesentlichen spannungsfrei, ohne Streit, aber auch ohne Höhepunkte verliefen.
Die Ausnahme bildete die Rede Heinrich Bölls (KA 19, 54–61). Mit guten Gründen hatten die in Jerusalem versammelten Mitglieder des internationalen Autorenverbandes von diesem deutschen Kollegen einen Vortrag erbeten. Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 stand auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Er hatte sich seit Mitte der 1950er-Jahre weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus einen Namen als streitbarer öffentlicher Intellektueller gemacht. 1970 hatte man ihn zum Präsidenten des deutschen P.E.N.-Zentrums (bis 1972), nur ein Jahr später zum Präsidenten des Internationalen P.E.N. gewählt, ein Amt, das Böll im Mai 1974 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Doch nicht allein solcher Funktionen wegen schien er für eine programmatische Rede prädestiniert. Sondern man erhoffte sich von ihm einen wegweisenden Beitrag vor allem deswegen, weil sich Böll immer aufs Neue für verfolgte und unterdrückte Schriftsteller, zumal in den Staaten des Warschauer Pakts, eingesetzt hatte. Wegen dieses Engagements war er in Ost und West immer wieder gewürdigt, aber auch angefeindet worden. Der Ruf und das Renommee dieses Autors sollten auch dem Schriftstellerverband Resonanz und Gehör verschaffen.
Böll enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Bereits mit dem ersten Satz seiner Rede thematisierte er den – aus seiner Sicht – zentralen historischen Konflikt des 20. Jahrhunderts: Er nannte es »das Jahrhundert der Vertriebenen und der Gefangenen«. Unmissverständlich bezog er in diese Zuschreibung die Geschichte des »jüdischen Volks« ein, ausdrücklich hob er die Sprachtradition und die literarische Kultur des Judentums hervor. Ebenso unmissverständlich wies Böll jedoch auf die »grausame Voraussetzung« jeder Vertreibung hin und explizit auch auf die Realität des israelisch-arabischen Konflikts: darauf, »daß der, der die Vertreibung und die Angst vor ihr kennt, in den grausamen Zwang gerät, andere zu vertreiben, auf der Suche nach einer neuen Heimat andere in jenen Zustand versetzt, dem er gerade entgangen ist«.
Implizit war damit auch das Verhältnis von Ursache und Wirkung im Nahostkonflikt angesprochen, präziser: die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel 1948, der Palästinakrieg 1948/49 und seine Folgen, zu denen im Jahr 1974 auch der Sechstagekrieg von 1967 und der Jom-Kippur-Krieg von 1973 zählten, ebenso die Unterdrückung der Palästinenser durch den Staat Israel und der ursächliche Anteil Israels an den militärischen Interventionsversuchen der arabischen Staaten. Böll traf damit den Puls der Zeit und den Nerv der Tagung. »Die arabische Frage, Existenzproblem Israels«, so konnte man wenig später in einem Bericht Hilde Spiels von der P.E.N.-Tagung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) lesen, »wurde bereits am ersten Abend an den Kongreß herangetragen«. Es sei Böll gewesen, »der den verhängnisvollen Umstand betonte, daß ›Völkerwanderung immer auch Völkervertreibung‹ gewesen ist« (KA 19, 410). Eine These, die in der israelischen Presse seinerzeit nicht eben zustimmend aufgenommen wurde.
Doch Böll hielt in Jerusalem nicht nur eine politisch-programmatische, sondern zugleich eine sehr persönliche Rede. Der nachträglich gewählte Titel gab diesem persönlichen Anteil Ausdruck: Ich bin ein Deutscher – das war, zumal in Israel, zweifellos ein bekenntnishafter Satz. Merkwürdigerweise aber findet sich dieser Satz im Vortragstext selbst an keiner Stelle. Zurückhaltender gesagt: Er findet sich lediglich in einer eigenwilligen Umschreibung: »It was not very pleasant to be a German – and it still not is.« (›Es war nicht sehr angenehm, ein Deutscher zu sein – und das ist es immer noch nicht.‹) Merkwürdig, in der Tat: Der zu diesem Zeitpunkt bekannteste Autor deutscher Literatur nach 1945 hält 1974 in Jerusalem vor Schriftstellern aus aller Welt eine Rede in deutscher Sprache mit dem Titel »Ich bin ein Deutscher«. Den einzigen Satz aber, der ihn als Deutschen identifiziert, sagt er auf Englisch, noch dazu in einer Umschreibung, die eher ein Ausweichen als ein Bekenntnis andeutet.
Der Gedanke liegt nahe, Böll habe sich an dieser Stelle seiner Jerusalemer Rede eines Stilmittels aus dem Repertoire des epischen Theaters bedient. Mit Bertolt Brecht könnte man von einem ›Verfremdungseffekt‹ sprechen. Denn es handelt sich um den Versuch, etwas Vertrautes – in diesem Fall: »Ich bin ein Deutscher« – in einem ganz wörtlichen Sinn ›fremd‹ erscheinen zu lassen, es buchstäblich zu ›verfremden‹, und so den eigentlich gemeinten Sinn kenntlich zu machen. Doch es geht Böll um etwas anderes als um einen bloßen Effekt und um mehr als nur um eine ›Verfremdung‹ im Brecht’schen Sinn. Ausdrücklich bezieht sich Böll in seinem Vortrag auf eine »geistesgeschichtliche Tradition, die dieses Fremdsein metaphysisch interpretiert«, eine Formulierung, die den religiösen und philosophischen Diskurs einer transzendentalen Obdachlosigkeit des Menschen ebenso einschließt wie den Marx’schen Begriff der ›Entfremdung‹ mit seinen gesellschaftlichen Implikationen. Böll war sich, jenseits aller philosophischen und soziologischen Traditionen, auch der unstillbaren Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz bewusst, der Dimension des Glaubens also. Er hat diese »Tatsache« 1983 gesprächsweise mit den Worten umschrieben, »daß wir hier auf der Erde nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause sind. Daß wir also noch woanders hingehören und von woanders herkommen« (KA 26, 311). In diesem Bewusstsein teilt sich eine Irritation mit, deren Substanz das Attribut ›fremd‹ auf angemessene Weise wiedergibt. Es geht Böll um das »metaphysisch« begründete Problem des Fremdseins in der Welt: um Fremdheit im Verhältnis zur deutschen Geschichte und zur deutschen Politik, zu Herkunft und Heimat, sogar zum eigenen Werk. Böll gibt mit seiner Rede dieser Irritation in Gestalt suggestiver Fragen Ausdruck: »[S]ind wir nicht alle fremd auf dieser Erde? Fremd im eigenen Land, in der eigenen Familie, und gibt es da nicht Augenblicke, wo einem die eigene Hand so fremd wird wie die eigene Wohnung?«
›Fremdsein‹ ist für Böll, wie diese Fragen zeigen, kein psychologischer Terminus. ›Fremdsein‹, so wie Böll es versteht, ist eine existenzielle Kategorie. Sie spricht von seinem Weltverhältnis. Sein Verständnis von ›Fremdsein‹ schließt die Beziehung zu den nächsten Menschen ebenso ein wie die zum eigenen Land. Es umgreift die eigene Person wie die vertrauteste Umgebung. Der Literaturnobelpreisträger zieht, um dieses Thema durchzuspielen, alle Register seines Könnens. Er schildert die Stationen, an denen sich das Fremdsein in der Welt für ihn konkretisiert hat. Er nimmt dafür die bekannten Themen seines Frühwerks wieder auf: Krieg und Tod, Trümmer und Elend, Flucht und Vertreibung. Er spricht über die Unterdrückung der und über die Unterdrückung durch Sprache, über den Anteil der Deutschen an der Geschichte der Zerstörungen im 20. Jahrhundert und über die des Deutschen an den historischen Katastrophen. Er zeigt sich als historischer Analytiker wie als politischer Kommentator. Und er nutzt seine poetischen Mittel, um von jenen Splittern und Fragmenten zu erzählen, die das ›Fremdsein‹ zur Grunderfahrung gemacht haben. »Was noch zu meiner Erinnerung gehört: der Staub und die Stille. Der Puder der Zerstörung drang durch alle Ritzen, setzte sich in Windeln, Bücher, Manuskripte, aufs Brot und in die Suppe, er war vermählt mit der Luft, sie waren ein Herz und eine Seele«, so Böll im Rückblick auf die unmittelbare Nachkriegszeit in Köln. »Das andere war […] die Stille. Sie war so unermeßlich wie der Staub, und nur die Tatsache, daß sie nicht total war, machte sie glaubwürdig und erträglich. Irgendwo bröckelten in diesen unermeßlichen stillen Nächten lose Steine ab oder stürzte ein Giebel ein; die Zerstörung vollzog sich nach dem Gesetz umgekehrter Statik, mit der Dynamik im Kern getroffener Strukturen, und manchmal auch konnte einer am hellen Tag beobachten, wie ein Giebel sich langsam, fast feierlich senkte, Mörtelfugen sich lösten, weiteten wie ein Netz – und es prasselten Steine. Die Zerstörung einer großen Stadt ist kein abgeschlossener Vorgang wie eine Operation, sie schreitet fort wie Paralyse, es...