InhaltsverzeichnisSelbstkritik
Von den Irrtümern der Journalisten
Haben wir Grund, uns zu schämen?
Von der notwendigen Selbstkritik der Journalisten
von Jakob Augstein
Journalisten, die noch nie besonders beliebt waren, sehen sich in jüngster Zeit einem Vorwurf ausgesetzt, der sie ins Mark treffen müsste: »Lügenpresse« lautet das böse Wort, das nicht nur auf den Marktplätzen im Osten, sondern vor allem auf denen im weltweiten Netz immer häufiger und immer lauter zu hören ist. Die Reaktion der meisten Journalisten: Nach dem ersten Schreck wird der Vorwurf beiseitegewischt und man versichert sich gegenseitig der eigenen, hohen Standards. Aber wer so handelt, macht es sich nicht nur zu einfach. Er gefährdet das, was er zu verteidigen meint: die Glaubwürdigkeit des Journalismus.
Neulich kam eine Mail, in der stand nur ein Satz: »spiegel-journalisten, schämt ihr euch eigentlich?« Das fand ich interessant. Also habe ich geantwortet: »Wofür denn?« Worauf die Entgegnung kam: »fuer euern volksverrat natuerlich, du dreckige linke ratte.« Weitere Nachfragen schienen da weder nötig noch sinnvoll.
Vermutlich hat der Mailschreiber nicht damit gerechnet, bei mir auf offene Ohren zu stoßen. Wir Journalisten sollten uns tatsächlich schämen. Und man kann uns sogar Volksverräter nennen. Kein schönes Wort. Aber es trifft.
Zu viele Journalisten wollen immer noch nicht wahrhaben: Es gibt eine Krise des Journalismus. Nicht nur eine Krise der Verlage, des sogenannten Geschäftsmodells. Sondern des Journalismus selbst. Die Journalisten täuschen sich darüber hinweg durch weihevolles Reden über die Demokratie und die bedeutende Rolle der Medien darin. Über die Freiheit, den Liberalismus, das Erbe des Westens. Und dass wir das verteidigen müssen, gegen die Anbrandung der autoritären Bedrohung. Putin. Islamismus. AfD. Über das Schimpfwort »Lügenpresse« und über das Schlagwort »Fake News«. Und wie wichtig es ist, sich den Begriff Wahrheit nicht kaputtreden zu lassen.
Solche Reden gab es viele und lange – so viele und so lange, dass der Verdacht naheliegt, es handele sich um das berühmte Pfeifen im Walde. Denn die Redner operieren mit Begriffen, die ihnen unter den Händen zerbrechen: Demokratie, Westen, Wahrheit.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat in einem Interview gesagt: »Geistes- und Kulturwissenschaftler haben viel zu fahrlässig den Begriff der Wahrheit in einer erkenntnistheoretischen Debatte aufgelöst und die Vorstellung verbreitet, alles und jedes sei nur ein Konstrukt. Das war, wie man heute sagen muss, eine postmoderne Idiotie. Nun müssen wir anerkennen: Das antiautoritäre und irgendwann ins Beliebige driftende Spiel mit den vielen Wirklichkeiten, das gerade noch so wahnsinnig schick erschien, ist nichts für ernste Zeiten und den Eskalationsfall global zirkulierender Gerüchte. Wir brauchen den Begriff der Wahrheit im öffentlichen Diskurs.«
Politiker und Theologen brauchen den Begriff der Wahrheit – aber es ist im Gegenteil geradezu der Beruf des Journalisten, diesem Begriff mit der größten Vorsicht zu begegnen. Zu viele Journalisten haben das versäumt. Sie haben beständig verwechselt, was sie selbst für die Wahrheit halten – und was sie gerne zur Wahrheit machen würden. Und da ist noch nicht die Rede davon, was jeweils tatsächlich die Wahrheit gewesen sein mag. Das sind kategoriale Unterschiede, die man nicht verwischen sollte. Journalisten sind nicht im Gewissheitslieferantengeschäft tätig.
Also: »Haben wir Grund, uns zu schämen?« Grund zur Selbstkritik gibt es allweil. Aber, ja, es gibt auch Grund zur Scham. Scham ist ein gutes Wort. Im Deutschen ist es zuallererst mit der Vorstellung körperlicher Nacktheit verknüpft, die nicht gesehen werden will. Die Scham ist das, was man verhüllt. Die dazugehörende Geschichte hat sich im Paradies abgespielt, als die Schlange auf den Baum der Erkenntnis zeigte und zu Adam und Eva sagte: »An dem Tag, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgehen und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« Sie aßen davon – und sie schämten sich.
Wer sich umsieht, stellt fest: Die meisten Journalisten schämen sich gar nicht. Sie haben also noch nicht gegessen, sie haben noch nicht bemerkt, dass sie nackt sind. Aber, und das ist der Unterschied zu Adam und Eva, Journalisten glauben schon vor dem Essen, dass sie genau wissen, »was gut und böse ist«.
Die Schamesröte würde es ihnen erst ins Gesicht treiben, wenn sie sich klarmachen, dass ihre Nacktheit darin besteht, dass sie es eben nicht wissen. Ihre Nacktheit liegt in ihrem Nichtwissen über ihre eigene Täuschung.
Jetzt ist noch die Frage: Wer ist die Schlange, die den Journalisten den richtigen Tipp gibt? Und was wäre der Apfel?
Der Dämon heißt: Wirklichkeitsmanipulation
Wer erinnert sich noch an Tom Kummer? Das war der Reporter, der mit gefälschten Interviews aufgeflogen ist. Als er stürzte, riss er die damalige Chefredaktion des SZ Magazins mit sich. Einer der Kollegen ist jetzt Chef der Welt. Daran sieht man, wie tief der Fall war.
Ich war damals ein vergleichsweise junger Reporter bei der Süddeutschen Zeitung und stellte fest, dass plötzlich sehr viel über journalistische Standards geredet wurde und über das Phänomen des sogenannten Borderline-Journalismus. So fein hat man das damals genannt. Heute heißt das einfach »Fake News«.
Eigentlich hätte es nicht viel Gesprächsbedarf geben dürfen. Ein Interview, das nie stattgefunden hat, ist gefälscht. Fälschen darf man nicht. »Fake News«. »Fake Interviews«. Ende der Durchsage. Aber das Thema beschäftigte die Kollegen unheimlich. Vor allem im Parlamentsbüro wurde sehr viel und sehr streng darüber gesprochen. Also dort, wo die härtesten der harten Nachrichten erzeugt und behandelt werden. Die Kollegen waren so aus dem Häuschen, dass ein Verdacht nahelag: In diesem schrägen Vogel Tom Kummer erkannten die Kollegen ihren eigenen Dämon. Und nichts muss vernichtender bekämpft werden als der eigene Dämon.
Dieser Dämon hat einen Namen: Wirklichkeitsmanipulation.
Das Wort stammt von Stefan Lebert. Er hat in der Zeit einen Artikel geschrieben, den man selbstkritisch nennen kann. Da steht, dass die Journalisten viel zu wenig dagegen unternommen hätten, dass mächtige Interessengruppen andauernd ihre jeweils eigenen Versionen von Wahrheit in die Welt setzten. Lebert schreibt: »Wir Journalisten sind Teil des Establishments geworden. Es ist Zeit, das zu ändern.« Und: »Die Leser und Zuschauer registrierten, dass die Journalisten ihre Rolle als Kontrolleure und unbestechliche Beobachter mehr und mehr verloren. Man wollte zu den Eliten gehören, also wurde man auch so wahrgenommen.« Das trifft zu. Die Journalisten wollten das nicht wahrhaben und haben ihre Leser deswegen nicht in ausreichendem Maße darauf hingewiesen.
Der Satz des Medienwissenschaftlers Pörksen – »Wir brauchen den Begriff der Wahrheit im öffentlichen Diskurs« – ist gefährlich. Wer mit dem Begriff Wahrheit operiert, fällt auf ihn herein. In der Darstellung von Wirklichkeit kann Wahrheit niemals absolut entstehen, sondern immer nur annäherungsweise. Wahrheit mag in den Dingen liegen – nicht im Reden über die Dinge. Wenn wir den Begriff der Wahrheit benutzen wollen, dann bitte nur in seiner Eigenschaft als allgemein anerkannte Konvention. Der Unterschied ist wichtig. Darin steckt die stete Möglichkeit der Korrektur. Aber viel zu viele Journalisten machen andauernd den Fehler, an ihre eigenen Wahrheiten zu glauben – oder an die der anderen.
Dieser Fehler fliegt ihnen gerade um die Ohren.
Warum reden wir so viel über »Lügenpresse«? Warum überhaupt über Scham?
Journalisten sind ja keine Therapeuten – bei denen ständige Supervision obligatorisch ist. Journalisten fangen erst dann an, sich selbst zu hinterfragen, wenn es gar nicht anders geht. Wir befassen uns nur dann kritisch mit uns selbst, wenn es uns schlecht geht.
Und es geht uns schlecht: In der Süddeutschen Zeitung stand einmal zu lesen, dass die Washington Post im Internet acht Stellen ausgeschrieben hatte. Das war als Triumphmeldung gedacht – um die Stärke des klassischen Journalismus zu unterstreichen. Acht Stellen. Um Himmels willen!
Der Verrat an der Sache
Neben allen bekannten Gründen für die Krise des Journalismus, der Zeitungen, der Verlage – Technologie, Demografie, Gewohnheiten – gibt es einen, der viel zu selten genannt wird, der eine Grund, der wirklich wehtut. Es ist der Verrat an der Sache. An der Sache, nicht am Volk – wie jener Mailschreiber es formuliert hat. Andererseits: Ist das Volk oder, moderner, die Gesellschaft nicht die Sache des Journalismus?
Jetzt kann man sagen: Im Volk rumort es. Oder sachlicher: Die Bindungskräfte der Gesellschaft erlahmen. Es ist die Paradoxie der Gegenwart, die sich da bemerkbar macht: Die Eliten ernten die Früchte der Globalisierung und der Rest der Leute soll zusehen, wo er bleibt.
Deutschland ist ein ungerechtes Land. 1970 besaß das oberste Zehntel der (West-)Deutschen 44 Prozent des Nettogeldvermögens. 2011 waren es 66 Prozent. Die – von der Masse der...