«Des freien Rheins noch weit freierer Sohn»
Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Mute. Ich bin dort geboren, und es ist mir, als müßte ich gleich nach Hause gehn. Als der achtundzwanzigjährige Heinrich Heine dies schreibt, ist es bereits sieben Jahre her, dass er Düsseldorf zum letzten Mal gesehen hat. Zwei andere Städte sollten ihm zum Zuhause werden, beide sind gelegentlich als seine «zweite» oder gar «eigentliche» Heimat bezeichnet worden: Hamburg und Paris. In Hamburg und Umgebung verbrachte Heine insgesamt fast acht Jahre. Hier lebte seine Familie, hier wurden fast alle seine Bücher verlegt, und der mit ihm befreundete Schriftsteller Heinrich Laube berichtet, dass Heine Hamburg «als seine spezielle Heimat […] betrachtet hat». Nirgendwo aber hat Heine sich so lange aufgehalten wie in Paris. Fünfundzwanzig Jahre lang lebte er in der Hauptstadt der Revolution, nur hier konnte er zum Schriftsteller von europäischem Rang werden, und er machte ihren alten Namen zum Titel seines letzten Buches, das er als geistigen Schatz für die Erwecker des politischen Lebens in Deutschland betrachtete: Lutetia. Aber sind diese beiden Städte wirklich eher Heines Heimat als Düsseldorf? Hamburg hat er als Schöne Wiege meiner Leiden besungen und als verludertes Kaufmannsnest verachtet. Und bei aller Begeisterung, mit der er nach Paris zog, darf man nicht vergessen, dass es ein Exil war, ein goldenes Elend mit weißen Glaceehandschuhen. In seinem Testament schreibt er: […] unter der Bevölkerung des Faubourg Montmartre habe ich mein liebstes Leben gelebt, zugleich jedoch bedankt er sich bei den Franzosen für ihre heitere Gastfreundschaft. In seiner Heimat aber ist man kein Gast. Hamburg und Paris mögen für seine schriftstellerische Arbeit größere Bedeutung haben als seine Geburtsstadt – aber nur, wenn er an Düsseldorf dachte, hatte Heine das Gefühl, als müßte ich gleich nach Hause gehn.
Düsseldorf hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa 16000 Einwohner. Die Lebensbedingungen für Juden mögen ein wenig günstiger sein als in mancher anderen deutschen Stadt, auch müssen sie nicht im Ghetto leben. Dennoch hat die drei- bis vierhundert Mitglieder zählende jüdische Gemeinde mit mancherlei Bedrängnis zu kämpfen. Schwerer als einzelne Willkürakte der Behörden wiegen die regulären gesetzlichen Bestimmungen, denen sie unterworfen sind. Dazu gehört neben der enormen Steuerbelastung vor allem die seit dem Mittelalter bestehende Heiratsbeschränkung. Jedes jüdische Paar muss sich um eine behördliche Heiratserlaubnis bemühen. Dieser Prozedur unterziehen sich 1796 auch die Verlobten Peira van Geldern und Samson Heine. Da Samson nicht aus Düsseldorf stammt, benötigt er außerdem noch eine Zuzugsgenehmigung. Dass sie dennoch ohne große Verzögerung im Februar 1797 heiraten können, ist vermutlich vor allem der Willensstärke und Beharrlichkeit Peiras zu verdanken. Die 1771 geborene Peira van Geldern, die später ihren jüdischen Vornamen ablegt und sich Betty nennt, kommt aus einer angesehenen, schon lange in Düsseldorf ansässigen Arztfamilie. Sie ist nicht orthodox religiös, sondern eher in aufklärerischem Geist erzogen worden. Ihr Glauben war ein strenger Deismus, der ihrer vorwaltenden Vernunftrichtung ganz angemessen.
Ihr Ehemann stammt hingegen aus einer strenggläubigen Familie. Samson Heine wurde 1764 in Hannover geboren und ist, wie die meisten seiner Vorfahren, Kaufmann. Sein Lebensweg hatte ihn über Hamburg nach Düsseldorf geführt. Nach der Hochzeit eröffnet er sein eigenes Geschäft: «Ellen- und Modewaaren en det.», wie es eine zeitgenössische «Nachweisung der bedeutendsten Handlungs-Häuser» verzeichnet. Heinrich Heine schildert seinen Vater als ein großes Kind, als weichherzigen, mitunter leichtsinnigen und träumerischen Menschen – das genaue Gegenbild eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Wie denn überhaupt mein Vater eigentlich keinen berechnenden Kaufmannsgeist hatte, […] und der Handel für ihn vielmehr ein Spiel war, wie die Kinder Soldaten oder Kochen spielen. Seine Tätigkeit war eigentlich nur eine unaufhörliche Geschäftigkeit. Seine Beteiligung an der Bürgerwehr und die Ämter, die er in der jüdischen Gemeinde innehat, zeigen jedoch, dass Samson Heine ein allgemein respektierter Bürger ist. Er verfügt über recht weitreichende Geschäftsverbindungen und hat zumindest zeitweilig auch wirtschaftlichen Erfolg. Immerhin kann er 1809 ein sehr geräumiges Haus in der Bolkerstraße erwerben, in dem seine Familie seitdem wohnt.
In derselben Straße, allerdings noch in einem anderen Haus, leben die Eheleute, als am 13. Dezember 1797 ihr erstes Kind geboren wird. Sie geben dem Jungen den Namen Harry und entsprechen damit einem seit dem 18. Jahrhundert üblichen Brauch, wonach der bürgerliche Vorname des erstgeborenen Sohnes mit der gleichen Silbe beginnen sollte wie der jüdische Name des Großvaters väterlicherseits. Dieser Großvater ist Heymann (Chajjim) Heine aus dem niedersächsischen Bückeburg – der Mann, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte. Heine verdankt ihm also nicht nur seine ersten Prügel, sondern auch seinen Namen. Erst bei seiner Taufe im Jahre 1825 erhält er den Namen, unter dem er in die Literaturgeschichte eingehen sollte: Heinrich Heine. Harry bleibt der Name seiner Kindheit und Jugend, sein Leben lang setzt er ihn unter die meisten seiner Briefe an die Mutter und an seine Geschwister.
Harry wächst mit einer Schwester und zwei Brüdern auf: Charlotte (mit jüdischem Vornamen Sara, 1800–1899), Gustav (mit jüdischem Vornamen Gottschalk, 1805–1886) und Maximilian (Meyer, 1807–1879). Die Schwester, die so unsäglich von mir geliebt wird, daß ich ihr mit zärtlichen Gefühlen, wie sie bey Brüdern selten sind, zugethan bin, wird die Gefährtin seiner Jugend und steht ihm auch später von allen Familienmitgliedern am nächsten. Zwischen ihren Söhnen hingegen muss Betty Heine sich oft um Vermittlung bemühen. Bei aller Verschiedenheit sind sie sich aber einig in der Achtung für ihre Mutter. Erziehungswesen war ihr Steckenpferd, erinnert Heine sich, und die Worte, die sie ihm 1854 schreibt, klingen fast wie ein Lebensmotto: «[…] alles ist vergänglich was die Menschen heute für gut finden finden sie Morgen für nicht gut, darum […] dencke alles ist verenderlich nur Mutter liebe bleibt sich immer gleich».
Heines Jugend fällt in eine Epoche großer Veränderungen. Es ist die Zeit der Koalitionskriege zwischen den alten Monarchien und dem napoleonischen Frankreich. Europa wird neu geordnet, ganze Länder werden dabei zur Verhandlungsmasse, und so erlebt Heines Heimatstadt einen der turbulentesten Abschnitte ihrer Geschichte. Als Harry Heine geboren wird, sind das Herzogtum Berg und seine Hauptstadt Düsseldorf seit zwei Jahren von französischen Revolutionstruppen besetzt. Als diese 1801 abziehen, werden sie wieder bayerisch. Als Bayern kurz darauf ein eigenständiges Königreich wird, tritt es das Herzogtum an Frankreich ab, sodass Düsseldorf seit 1806 erneut unter französischer Verwaltung steht. Es wird Hauptstadt des neu geschaffenen Großherzogtums Berg, das zunächst von Napoleons Schwager Joachim Murat, später von diesem selbst regiert wird. Zu den wichtigsten Reformen dieser Phase gehört die Einführung des fortschrittlichen napoleonischen Gesetzbuches, des Code Civil, das unter anderem die Leibeigenschaft abschafft und die Juden mit allen anderen Bürgern rechtlich auf eine Stufe stellt. 1813 müssen die Franzosen abziehen, die Stadt wird von russischen Dragonern besetzt. Nach der endgültigen Niederlage der Franzosen und dem Wiener Kongress von 1815 gehört Düsseldorf dann zu Preußen.
Heine über die Epoche, in der er seine Jugend erlebte:
Damals hatten nämlich die Franzosen alle Grenzen verrückt, alle Tage wurden die Länder neu illuminiert, die sonst blau gewesen, wurden jetzt plötzlich grün, manche wurden sogar blutrot, […] unter den Fürsten gab es viel Avancement, die alten Könige bekamen neue Uniformen, neue Königtümer wurden gebacken und hatten Absatz wie frische Semmel, manche Potentaten hingegen wurden von Haus und Hof gejagt.
Der größte Teil von Heines Schulzeit fällt in die Periode, wo in seiner Heimatstadt nicht bloß die Franzosen, sondern auch der französische Geist herrschte. In der Rückschau des Dichters erscheint sie immer als sehr bunt und lebendig. Es ist jedoch ein verbreitetes Missverständnis, diese frühe Begegnung mit dem französischen Geist als Ursache für Heines spätere «Vorliebe» für Frankreich anzusehen. Denn sein positives Verhältnis zu Frankreich war stets motiviert durch die Ideale der Französischen Revolution. Wie ich die Freiheit liebe, liebe ich Frankreich. Darin liegt kein Gegensatz zur Verbundenheit mit seiner Heimat, wie immer wieder von Heine-Gegnern behauptet worden ist. Durch die wechselnden Herrschaftsverhältnisse, deren Zeuge er als Junge wurde, erfuhr Heine, dass es andere Dinge sind, die einen Menschen mit seiner Heimat...