1 Einleitung
Sicherlich gibt es kaum einen anderen europäischen Monarchen, der seit Jahrzehnten in der Öffentlichkeit eine solche Beachtung erfahren hat wie Heinrich VIII. Das »Image« des Monarchen war hierbei überwiegend negativ und vor allem von seinem fragwürdigen Verhalten gegenüber den Ehefrauen bestimmt. So blieb bis heute ein alter Kinder–Abzählreim in Verwendung, der das Schicksal der oftmals unglücklichen Tudor–Gemahlinnen verdeutlichen sollte: »Geschieden, Geköpft, Gestorben, Geschieden, Geköpft, Überlebt«. Zahlreiche Intellektuelle seit dem 19. Jahrhundert betrachteten den Monarchen als verfettetes, brutales Monster, das sadistische Freude empfand, Mitmenschen quälen und töten zu lassen. Der Dichter Charles Dickens ging noch weiter und bezeichnete 1854 Heinrich als »a most intolerable ruffian, a disgrace to human nature, and a blot of blood and grease upon the History of England«.1 Auch in der Gegenwart herrscht – u.a. durch Aktivitäten der Medien – ein Negativbild des Königs vor: Nicht zufällig nahm der Tudor nach Recherchen des Magazins »Focus« in einer Liste der größten Kapitalverbrecher der Geschichte den 4. Platz ein (nach Nero u.a.) – noch vor Adolf Hitler, Josef Mengele und Josef Stalin.2 Eher seltener waren Stimmen, die das verbreitete Zerrbild des Königs durch nüchterne Betrachtung zu korrigieren versuchten – wie etwa Sir Winston S. Churchill. Er urteilte 1956 über Heinrich deutlich milder:
»We must credit Henry’s reign with laying the basis of sea–power, with a revival of Parliamentary institutions, with giving the English Bible to the people, above all with strengthening a popular monarchy under which succeeding generations worked together for the greatness of England while France and Germany were racked with internal strife.«
3Diese beiden exemplarischen Stellungnahmen zu Person und Wirken von »Bluff King Hal and Burly King Harry« (C. Dickens) spiegeln nur ansatzweise die kontroversen Beurteilungen wider, die der Tudor seit dem 19. Jahrhundert in der europäischen Öffentlichkeit erfuhr. Während in der Public Culture die Vorstellungen von ihm durch das Porträt von Hans Holbein sowie von den oftmals legendenhaften Berichten über sein Eheleben sowie die brutale Tyrannei gegenüber den Untertanen geprägt wurden, war sein Bild in der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden »wissenschaftlichen Geschichtsschreibung« besonders in England lange Zeit ein anderes.4 Schon die erste »moderne« Darstellung der Herrschaft Heinrichs im Rahmen einer historischen Gesamtdarstellung der Tudor–Dynastie von James Anthony Froude (1862,1908)5 erwies sich als prägend für die Konstituierung eines völlig anderen Heinrich–Bildes. Der viktorianische Historiker entwarf aufgrund gründlicher Archivstudien eine extrem einseitige und zeitgebundene Darstellung des Tudors. Obwohl sich der Autor der zahllosen Tötungen und Verfolgungen von angeblichen Opponenten durch den König bewusst war, erschienen ihm diese Maßnahmen im Blick auf »höhere Ziele und Erfolge« des Monarchen als vernachlässigbar bzw. geradezu als entschuldbar. Für Froude waren die vom Tudor veranlasste Trennung von Rom und die Schaffung der Anglicana ecclesia bleibende Leistungen. Hinzu kamen konstitutionelle Reformen mit einer Stärkung des Parlamentes, die Einbeziehung von Wales in das englische Verwaltungssystem und die Förderung der »Zivilisation« in Irland. Insgesamt verherrlichte der Autor seinen Helden als einen von Gott gesegneten Monarchen, der in allen Wirren den honour (Ehre) des englischen Namens aufrechterhalten und das Commonwealth sicher durch eine der schwersten Krisen seiner Geschichte geleitet hatte.
In den folgenden Jahrzehnten wurden in England lediglich einige kleinere Studien zur Herrschaft des Tudors veröffentlicht – etwa die kritische Analyse von Kardinal Francis Gasquet über das Schicksal der englischen Klöster oder von William Stubbs über die verfassungsgeschichtliche Bedeutung Heinrichs, der zwar »religious or ecclesiastical holocausts« verursachte, aber auch positive politische Veränderungen bewirkte.6 Erst etwa 40 Jahre nach dem Werk Froudes (1902) erschien eine neue, groß angelegte Biographie des Tudors von Albert Frederick Pollard. Er würdige nach zusätzlichen Quellenstudien sowohl die Persönlichkeit des Monarchen als auch das politische Geschehen unter seiner Regierung. Auch für ihn überwogen trotz des despotischen Charakters der Herrschaft Heinrichs seine innovatorischen Leistungen – wie bei Froude im Verfassungsbereich, in der Schaffung der Anglicana ecclesia und im Aufbau der Flotte. Der Tudor erschien einerseits als Inbegriff eines »constitutional king«, andererseits als »Machiavelli’s ›Prince‹ in action«.7
In den folgenden Jahrzehnten erschienen – abgesehen von einer psychoanalytischen Interpretation des Wirkens Heinrichs (mit Ödipus–Komplex) durch John Carl Flügel – lediglich einige Publikationen, die das Pollard–Bild des Tudors ausschmückten – wie z. B. die populäre Darstellung von Francis Hackett (1930) oder die Studien von Frederick Chamberlin (1931) und Helen Simpson (1934).8 Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs wurden nur langsam wieder Werke über den Tudor vorgelegt, die aber erneut das »traditionelle«, von Pollard entworfene Bild Heinrichs als zwar brutalem, aber für die Ausbildung des englischen Staates letztlich verdienstvollen Monarchen reproduzierten – wie etwa die Arbeiten von Henry Maynard Smith (1948), Theodore Maynard (1949), Stanley Thomas Bindoff (1950) und John Duncan Mackie (1966).9 Erst Geoffrey Randolph Elton publizierte Untersuchungen, die eine veränderte Betrachtungsperspektive verdeutlichten und den Tudor–Hof stärker berücksichtigten (1953 sowie 1962, 1973). Für Elton stand Thomas Cromwell im Mittelpunkt des Geschehens, der die innovatorischen Ideen des Monarchen in konkreten politischen Aktionen umsetzte. Nicht der König, sondern sein Minister bewirkte eine revolution in government, die eine Reform des Verwaltungs– und Finanzwesens, Strukturveränderungen in der Herrschaftsorganisation und die Einbeziehung der Kirche in den englischen Staat zur Folge hatte. Bei Elton erschien der Tudor als stark von der Einflussnahme seiner Berater abhängiger Monarch, der weder eigenständig innovative Reformmaßnahmen noch selbstständig die Einführung der Reformation in England zu planen vermochte.10
Die »revolutionären« Thesen Eltons bestimmten für etwa drei Jahrzehnte die englische historische Forschung über Heinrich; kontinentale Geschichtsforscher hatten schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges – und bis in die Gegenwart – keine substantiellen Beiträge zur Analyse der Tudor–Geschichte geleistet. Während sich bald Widerstand gegen die Behauptung Eltons von der Existenz einer »bürokratischen Revolution« regte, wurde die von ihm vorgenommene Erweiterung der Betrachtungsperspektive auf den gesamten Königshof übernommen und in zahlreichen Heinrich–Darstellungen seit den 1960er Jahre rezipiert. So beschäftigte man sich nunmehr u.a. mit Henry and his Court sowie mit Life and Times of Henry – etwa in den Monographien von John Joseph Bagley (1962), Neville Williams (1971) und Robert Lacey (1972).11 Hinzu kamen einige biographisch angelegte Studien, die oftmals das »traditionelle« Bild des Monarchen entwarfen und sich hierbei zumeist in der Nachfolge von Pollard befanden. Hierzu zählten u.a. die Werke von Beatrice Saunders (1963) und John Bowle (1964). Lediglich Lacey Baldwin Smith bemühte sich um eine stärker psychologisierende Darstellung des Tudors als »Manipulator« und als Menschen mit »private fears and inadequacies« hinter der Maske der Macht (1971).12
Erst 1968 vermochte der Elton–»Schüler« John Joseph Scarisbrick eine Biographie Heinrichs vorzulegen, die einen deutlichen Erkenntnisfortschritt bewirkte und Maßstäbe für die weitere Tudor–Forschung setzte. Auf verbreiterter Quellenbasis und in Weiterführung der Studien Eltons setzte der Autor in biographischem Rahmen neue thematische Akzente. So wurden einerseits erneut die Leistungen des Königs u.a. in den Bereichen Verwaltungsreform (mit Würdigung Cromwells), Neustrukturierung der Herrschaftsorganisation, Reform der Kirche und auswärtige Beziehungen gewürdigt. Andererseits fällte Scarisbrick ein weitgehend negatives Urteil über die Person Heinrichs: Dieser war nicht nur egoistisch und brutal, sondern er ließ das englische Volk für seine dynastischen Interessen einen kaum zu verantwortenden hohen Preis bezahlen. Ferner waren die Ergebnisse seiner Außenpolitik dürftig, die finanz– und wirtschaftspolitischen Maßnahmen für die Ökonomie des Inselreiches verheerend und die Henrician Reformation zerstörerisch, da er ein zutiefst gespaltenes Land hinterließ. Trotz der scharfen Verdikte entwickelte sich diese Heinrich–Biographie zu einem Standardwerk der Tudor–Geschichte, das bis zum heutigen Tage Beachtung findet und das Bild Heinrichs auch in der kontinentalen Geschichtsschreibung für lange Zeit prägte.13
Die von Scarisbrick gebotene Interpretation wurde durch einige stärker populärwissenschaftliche Biographien des Tudors nicht nachhaltig verändert – etwa durch...