Glauben ist eine Bewegung des Aufbruchs,
die zugleich ein Weg in die Fremde und Heimatlosigkeit ist
und die vollzogen wird im Vertrauen auf eine Verheißung.
(Henning Luther, Predigt über Genesis 12)
Am Ende ist Hoffnung,
wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert,
die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint.
(Theodor W. Adorno, Minima Moralia)
Einleitung
‚Leben als Fragment‘, ‚Schmerz und Sehnsucht‘, ‚Die Lügen der Tröster‘ – der Praktische Theologe Henning Luther (1947–1991) hat Wendungen geprägt, die als Leitmotive in die theologische Diskussion und pastorale Praxis eingegangen sind und nachwirken. Mit seinen Arbeiten kann er als einer der anregendsten Praktischen Theologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts angesehen werden. Henning Luther steht für einen Perspektivenwechsel des Faches hin zu einer subjekt- und lebensweltorientierten Theologie; seine Arbeiten schärfen den Sinn für die Phänomene des Fragments, der Fremdheit und der Grenze. Religion wahrt, so sein Diktum, das ‚Geheimnis der Individualität‘: Was wir sind und sein werden, ist noch nicht heraus. Unsere Geschichte weist Brüche auf, Abbrüche und Aufbrüche. Religion bewältigt das Leben nicht, sie hält es vielmehr in Unruhe. Theologie kritisch zu denken, ist ein Grundimpuls, der von Beginn an Henning Luthers Texte antreibt. Dies bleibt ein Grundzug seiner Arbeiten bis zu seinem frühen Tod: sich nicht abfinden können und müssen mit dem, was ist. Seine Beiträge sind Ausdruck einer theologischen Praxis, die nicht nur über individualisierte Religion reflektiert und spricht, sondern sie auch selbst zur Sprache bringt. Sie sind in einem weitgespannten Horizont theoriekundig und theologisch profiliert, nicht selten bewusst und betont einseitig. In ihnen artikuliert sich auch ein praktisch-theologisches ‚Lebensgefühl‘, das hier auf seine Begriffe und Metaphern kommt.
1947 in Lüneburg geboren, schließt er Anfang der 1970er Jahre sein Studium der Evangelischen Theologie und etwas später auch ein Studium der Pädagogik in Mainz ab. In dieser politisch bewegten Zeit entstehen erste Aufsätze und Abhandlungen neben seiner Dissertation zur Hochschuldidaktik. Nach dem Vikariat kehrt er, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann als Hochschulassistent bei seinem Lehrer Gert Otto, an die Universität zurück. Im Umfeld und Gefolge seiner Habilitationsschrift zu Grundbegriffen der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls, die mit den Stichworten ‚Religion, Subjekt, Erziehung‘ programmatische Orientierungen enthält, publiziert er in den 1980er Jahren dichtgedrängt eine ganze Reihe von Aufsätzen zum Religions- und Alltagsverständnis, zum Identitätsbegriff in bildungstheoretischer und theologischer Perspektive sowie zum Selbstverständnis der Praktischen Theologie. In immer wieder neuen Anläufen und mit jeweils veränderten Theoriereferenzen profiliert er eine Praktische Theologie des Subjekts. Biografie, Autobiografie und im weiteren Sinne Literatur werden für ihn wichtig ebenso wie die Zwiespältigkeit des Alltags und lebensweltliche Passagen. Viele dieser Beiträge gehen in den Band „Religion und Alltag“ ein, den er selbst noch druckfertig vorbereitet, der aber erst nach seinem Tod erscheint.
1986 ist Henning Luther auf eine Professur für Praktische Theologie an der Universität Marburg berufen worden. Jetzt stehen neben seinen religionspädagogischen Beiträgen auch zunehmend diakonische und seelsorgliche Themen. Zuvor veröffentlichte er bereits verschiedene Aufsätze zur Homiletik. Seine Predigten und Andachten, vornehmlich aus Mainzer und Marburger Universitätsgottesdiensten, erscheinen in einem Bändchen unter dem Titel „Frech achtet die Liebe das Kleine“. Henning Luther stirbt, noch keine 44 Jahre alt, im Sommer 1991 in Marburg.
In den vergangenen drei Jahrzehnten sind Überlegungen Luthers vielfältig aufgegriffen worden, sie sind Referenzpunkte einer zeitgenössischen Praktischen Theologie in der Spätmoderne geworden. Im zeitlichen Abstand fragen die Beiträge dieses Bandes nach Denkanstößen, die von ihnen ausgehen, und nach Perspektiven, die sich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten für die gegenwärtige praktisch-theologische Diskussion ergeben. Insofern ist dieses Buch nicht als eine posthume Jubiläumsgabe konzipiert, sondern es zielt darauf, Luthers Beiträge in veränderten Kontexten zu vergegenwärtigen. Dies schließt mit ein, erkennbar werden zu lassen, an welchen Stellen seine Arbeiten zeitgebunden sind und (anders) weitergedacht werden müssen. Die Autorinnen und Autoren verbindet, dass sie seinen Texten aktuell etwas abgewinnen können; sie ermuntern gleichsam zur eigenen Lektüre. Das Buch versammelt praktischtheologisch Nachdenkende verschiedener Generationen: Manche kennen Luther in persönlicher Verbundenheit, andere vermittelt durch das, was er als Texte hinterlassen hat.
Der Aufriss des Bandes folgt einem Dreischritt: Die ersten drei Beiträge zeichnen Grundlinien seines Werkes nach. Andrea Bieler lotet den Begriff des Fragments als ästhetischer Leitkategorie von Luthers Praktischer Theologie aus und vertieft dabei die theologischen Resonanzen, welche die Rede vom Fragment auslöst. Den Referenzrahmen der Kritischen Theorie, insbesondere hinsichtlich Luthers früher Schriften, skizziert Harald Schroeter-Wittke und zeigt, wie die sich daraus ergebenden politästhetischen Perspektiven auch in späteren praktisch-theologischen Arbeiten Luthers zur Geltung kommen. Gerald Kretzschmar umreißt das bereits früh formulierte Verständnis von Kirche als subjektivitäts- wie pluralitätsfördernder Kommunikationsgemeinschaft, das Luther dann im Rekurs auf Niebergall und Schleiermacher weiter ausarbeitet.
Der zweite Teil des Buches gilt den verschiedenen praktisch-theologischen HANDLUNGSFELDERN. Er beginnt mit einem bislang unveröffentlichten Vortrag von Henning Luther selbst, den er im Sommersemester 1991 an der Theologischen Fakultät der Universität Bern gehalten hat. Luther erörtert den Funktionswandel des Pfarramts und kennzeichnet dieses als eine „Paradoxe Institution der Individualität“. Dabei wendet er sich kritisch gegen pastoraltheologische Entwürfe seiner Zeit. Simone Mantei, die den Vortrag für den Druck redigiert hat, markiert die Grundoptionen von Luthers Vortrag und zeichnet ihn in den aktuellen Diskurs um das Verständnis des Pfarramts ein. Die bildungstheoretischen Grundzüge, die Luthers Arbeiten prägen, rekonstruiert Christian Mulia, indem er sehr unterschiedliche Bezüge im Subjektbegriff namhaft macht und Differenzerfahrung als Signum christlicher Religion ausweist. Vor diesem Hintergrund ergeben sich religionsdidaktische und praktisch-theologische Perspektiven in allen Bereichen kirchlicher Bildungsarbeit. Kristian Fechtner zeichnet die rhetorischen und ästhetischen Perspektiven von Luthers Predigtverständnis nach und markiert den Überschritt in die aktuelle homiletische Diskussion. Dabei hebt er auf die diskrete Subjektivität der Predigenden und die Predigt als gottesdienstliche Rede ab. Ulrike Wagner-Rau liest die poimenischen Beiträge Luthers unter dem Gesichtspunkt, dass sie Seelsorge als spezifisch religiöse Praxis ausweisen, und gibt zu erkennen, wie sein Verständnis von Religiosität, mithin seine Aufmerksamkeit für implizite Erscheinungsformen der Religion, im Blick auf Seelsorge zu entfalten ist. Im Horizont von Luthers Arbeiten fundiert Tobias Braune-Krickau die Reflexion über diakonische Praxis religions- wie subjekttheoretisch und verknüpft sie mit dem sozialphilosophischen Diskurs über Anerkennung als Bedingung sozialer Existenz. Dadurch werden Konturen einer ‚Praktischen Theologie der Diakonie‘ sichtbar.
Die drei abschließenden Beiträge bieten jeweils besondere LESARTEN. Albrecht Grözinger liest Henning Luther, der sich selbst deutlich in der liberaltheologischen Tradition verortet hat, dialektisch-theologisch gegen den Strich und spürt Grundmotive der Dialektischen Theologie auf, auf die Luther explizit oder implizit Bezug nimmt. Christian Bauer betrachtet Henning Luther aus katholischer Sicht und vermag zu zeigen, wie Luther in evangelisch-lutherischen und römisch-katholischen Diskurskonstellationen des 20. Jahrhunderts zu stehen kommt und warum er innerhalb der katholischen Pastoraltheologie derzeit starke Resonanz findet. Dass man und wie man Luther literarisch lesen kann, zeichnet Ruth Conrad in ihrem Beitrag nach. Ihr zufolge bilden Theologie und Literatur – näherhin Biografie, Roman und Poesie – bei ihm ein wechselseitiges Auslegungsfeld. Praktische Theologie erscheint in dieser Lesart als religiös-theologische Sprachlehre für Schmerz und Sehnsucht.
Zur Orientierung und Vertiefung finden sich im Anhang des Bandes ein akademischer Lebenslauf sowie eine Auswahl der Schriften Henning Luthers. Zwei private Fotos von Ursula Baltz-Otto und Kristian Fechtner sind in das Buch aufgenommen. Herzlich danken wir Jana Mitreuter im Sekretariat und stud. theol. Frederik Ebling für die Unterstützung auf dem Weg zur Veröffentlichung, Jürgen Schneider und Florian Specker vom Kohlhammer Verlag, die das Projekt von Anfang an mit großer Offenheit gefördert haben, sowie den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe „Praktische Theologie heute“ für die Aufnahme des Bandes.