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E-Book

Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz

Erleben und Strategien Pflegender

AutorElisabeth Höwler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783170265004
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Dieses Buch befasst sich mit dem Phänomen des 'Herausfordernden Verhaltens' bei Menschen mit demenziellen Veränderungen auf interaktiver Ebene. Pflegeexperten aus verschiedenen Pflegeinstitutionen schildern ihr Erleben sowie ihre individuellen Strategien zum Umgang mit dem Phänomen. Die Ergebnisse zeigen, dass ein adäquater Umgang mit herausforderndem Verhalten vorwiegend mit fachspezifisch gebildeten Pflegenden zu leisten ist. Aus der Relation des Erlebens Pflegender und ihrem strategischen Handeln wurde ein Modell des interaktiven Handelns generiert, das sowohl forschungsleitend sein als auch einer zielgerichteten Reflexion der Pflegepraxis dienen kann.

Elisabeth Höwler (Dresden) ist Altenpflegerin, Lehrerin für Pflege, Dipl.-Pflegepädagogin (FH), MScN, Fachbuchautorin und freiberuflich in der Fort- und Fachweiterbildung tätig.

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Leseprobe

2 Anteilnahme der Pflegenden in der Interaktion – der dialektische Zugang von Kitwood


Der dialektische Zugang von Kitwood hat ein Interesse an den konkreten Gefühlen einer demenziell veränderten Person und wirkt sich darüber hinaus positiv auf die menschliche Ebene der Pflegenden aus. In zahlreichen Studien hat Kitwood (1992; 1993) und Mitarbeiterin Bredin (1992) das Verhalten demenziell erkrankter Personen und die Interaktion mit den Pflegenden beobachtet. Er entwickelte aus diesen Erkenntnissen den personzentrierten Ansatz im Umgang mit chronisch verwirrten Menschen. Eine Bedeutsamkeit in der Theorie ist das Person-Sein, welches Kitwood besonders hervorhebt: „Wenn wir Demenz verstehen wollen, ist es meiner Ansicht nach entscheidend, Person-Sein im Sinne von Beziehung zu sehen. Selbst bei sehr schwerer kognitiver Beeinträchtigung ist oft eine Ich-Du-Form der Begegnung und des In-Beziehung-Tretens möglich“ (Kitwood 2000, S. 32).

Grundlagen des Ansatzes entstammen der klientenzentrierten Gesprächsführung von C. Rogers (2003) mit den Schlüsselbegriffen: Empathie, Wertschätzung, Kongruenz. Weitere zentrale Konzepte in der Theorie sind der Interaktionsprozess, der zwischen Pflegenden und Betroffenen abläuft, sowie das Wohlbefinden. Den Verlust des Person-Seins, die damit verbundene Unfähigkeit, Wohlbefinden eigenständig zu erhalten und Beziehungen aus eigener Kraft zu gestalten, sind verantwortlich für die Folgen des demenziellen Prozesses.

Der entscheidende Perspektivenwechsel liegt in der Fokussierung auf die Beziehungsgestaltung und die Bedürfnisse der demenziell veränderten Person, die zu erfüllen sind, und nicht auf die Erkrankung und die therapeutischen Möglichkeiten, die der Person zur Verfügung stehen.

2.1 Lebensweltkonzepte der Pflegenden


Das Lebensweltkonzept ist im Rahmen der Transaktionsanalyse entwickelt worden. Mit der Lebenskonzepttheorie von Kitwood3 können verborgene Handlungseinschränkungen und wiederkehrende Muster, die Pflegenden nicht bewusst sind, erkannt werden (vgl. ebd. 2000, S. 176). Nach Rogers existiert jedes Individuum in einer sich ständig ändernden Welt der Erfahrung, deren Mittelpunkt er ist (vgl. ebd. 2003). Diese These nimmt eine Position ein, die innerhalb der phänomenologischen Schule der Psychologie liegt. Anders als der Behaviorismus, der die Rolle der subjektiven Erfahrung als ursächlichen Faktor im Verhalten nicht so sehr beachtet, betrachtet die Phänomenologie die subjektive Wahrnehmung der Realität als bedeutsamsten Ursachenträger des menschlichen Verhaltens, als den Ausgangspunkt für jede Theorie des Verhaltens der Persönlichkeit (vgl. Morton 2002, S. 24).

Die Persönlichkeitsanteile der Pflegenden werden mit der Themenzentrierten Interaktion (TZI), entwickelt von Cohn (1975), mit den drei Hauptzuständen:

  • Ich-Elternteil als kontrollierend-kritisch und nährend,
  • dem Kind als angepasst, und
  • frei sowie Erwachsener mit den Anteilen anerkennen, verhandeln, zusammenarbeiten, erklärt (vgl. Berne 2001).

Das menschliche Selbstkonzept kann sich erst herausbilden, wenn die Pflegende als Kind die Fähigkeit erworben hat, sich selbst als eigenständige, individuelle Persönlichkeit zu konzeptualisieren und zwischen dem eigenem Erleben und des Erlebens einer anderen Person zu unterscheiden. Die Entwicklung des Selbstkonzepts sollte nach Rogers mit Wertschätzung einhergehen.

Wird diese befriedigt, so kann das Selbstkonzept der Person auf der wahrgenommenen Wertschätzung einer anderen Person aufbauen, was als positive Selbstachtung verinnerlicht wird (vgl. Rogers 2003, S. 431).

Um sich zu einer Person mit stabiler Identität entwickeln zu können, muss – nach Kitwood – die Pflegende bereits in der Kindheit einen Weg gefunden haben, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. Die eine Person stellt fest, dass es möglich ist, mit bestimmten Strategien immer im Rampenlicht zu stehen. Eine andere findet heraus, dass mit dem Angebot von Fürsorge und Hilfe Zuwendung zu bekommen ist. Eine weitere Person wiederum merkt, dass sich Verletztheit vermeiden lässt, wenn man sich in die eigene Welt zurückzieht. Die Lösungen müssen mit den Erwartungen mächtiger Personen (Eltern) oder anderer Bezugspersonen und mit deren unbefriedigten und nicht anerkannten Bedürfnissen zusammen passen (vgl. Kitwood 2000, S. 177). So lernt das Kind bereits, wie ein Lebenskonzept funktioniert. Im Erwachsenenalter wird das Konzept weiter gefestigt; es wirkt sich auf den Lebensstil, die Partnerwahl und auf den Beruf aus (vgl. Kohn et al. 1983). Weil ein bereits ausgeformtes Konzept immer wieder eingeübt wird, ist es resistent gegen Veränderungen. In einer amerikanischen Arbeit wird ausgesagt, dass Pflegende in der Gruppe der Kinder von Abhängigkeitskranken überrepräsentiert sind. Kinder von Abhängigkeitskranken ergreifen möglicherweise deshalb einen Beruf im Gesundheitswesen (Helferberuf), weil diese Kinder es bereits in jungen Jahren gelernt haben, für sich selbst und andere zu sorgen (vgl. Miller 1997). Hinweise darauf liefert eine deutschsprachige Begleitforschung im Rahmen von Seminaren zum Umgang mit Abhängigkeitssubstanzen bei Pflegepersonal. Von den Befragten (n = 469) gaben 39 % an, im engeren privaten Umfeld Abhängigkeitsprobleme zu haben, weitere 21 % beantworteten dieses Item nicht (vgl. Rummel et al. 1998). Die Theorie des Lebenskonzepts ist laut Kitwood nicht ausreichend erforscht worden, sie kann aber dazu dienen, verborgene Motive für die Aufnahme der Pflegearbeit zu untersuchen (vgl. ebd. 2000, S. 177).

Folgende Motive (Pflege-Typen) können nach Kitwood (2000) für die Aufnahme der Pflegearbeit mit demenziell veränderten Personen beschrieben werden:

Die fürsorgliche Pflegende

Hinter dem Konzept verbirgt sich eine Pflegende, die dazu neigt, sehr abhängig zu sein und aus diesem Grund bedürftige Menschen an zu ziehen. Sie sorgt sich um einen Pflegebedürftigen, setzt sich für diesen ein und ist emotional berührt.

Die einfühlsame Pflegende

Diese Pflegeperson bringt die Fähigkeit mit, um das Wohlergehen anderer besorgt zu sein, sie zeigt Mitgefühl und kann dieses dem Pflegebedürftigen gegenüber ausdrücken.

Die selbstaufopfernde Pflegende

Die Pflegende befriedigt im Pflegealltag die Bedürfnisse anderer und erträgt übermenschliche Arbeitsbelastungen.

Den Lebenskonzepten der drei Pflegetypen liegt manchmal ein gemeinsamer Themenkern zugrunde. Diese Lebenskonzepte entstehen in der Regel aus dem Versagen bedeutsamer Bedürfnisse in der Kindheit. Die Pflegende erhielt in ihrer Kindheit nicht die Botschaft von Bezugspersonen, dass sie geliebt wurde, und musste sich einen Weg suchen, um diese Liebe zu bekommen. In Gegenwart von bedürftigen Personen bekam die Pflegende in der Kindheit die nötige Zuwendung. Nach Kitwood haben Personen mit einem instabilen Lebenskonzept Missbrauch, Gewalt oder Verlassensein erfahren (vgl. ebd. S. 178). In ihrer Kindheit erlebten sie nicht die Freiheit des Verspieltseins, weil sie immer in der Sorge um den anderen Menschen sein mussten. Diese Pflegenden verbergen hinter ihrer Fassade ein geringes Selbstwertgefühl. Eigene Wünsche und Bedürfnisse verwechseln sie mit denen der Pflegebedürftigen. Hier liegen die Wurzeln der Co-Abhängigkeit (vgl. Mellody 1993). Personen mit diesem Lebenskonzept müssen eine ständige Spannung zwischen den eigenen Entbehrungen und den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen aushalten, was bei ungelösten Lebensthemen zum Burnout führen kann. In jedem Konzept ist die Entwicklung von Ressourcen der Persönlichkeit und Lernerfahrungen enthalten.

Damit das Lebenskonzept der Pflegenden einen positiven Einfluss auf die Pflege von Personen mit demenziellen Veränderungen haben kann, ist auf vier Ebenen Entwicklungsarbeit erforderlich (nach Kitwood 2000, S. 179 f.):

1. Ebene: Bewusstwerdung

Falls die Pflegende in der Kindheit von Bezugspersonen keine Liebe erfahren konnte, sie zur Überanpassung manipuliert worden ist, psychisch oder physisch emotional oder sexuell missbraucht wurde, so sollte sie sich dieser Tatsachen bewusst werden. Sie muss lernen, idealisierte Elternbilder loszulassen. Manche Pflegepersonen, die diesen Trauerprozess durchlaufen, stellen fest, dass ihre jahrelang ertragenen depressiven Verstimmungen aufhören und sie ein Gefühl des Vertrauens und des inneren Friedens dazu gewinnen.

2. Ebene: Entwickeln einer toleranten Haltung gegenüber dem Selbst

Wenn der Pflegenden die Liebe einer Bezugsperson in der Kindheit fehlte, kann dieser Mangel durch innere Liebe ausgeglichen werden. Falls die Pflegende vernachlässigt, unterdrückt oder missbraucht wurde, benötigt sie ein besonderes Bedürfnis nach Zuwendung und Freundlichkeit. Wenn die Pflegende ein kritisches Über-Ich mitbringt, so sollte dieses erkannt und angenommen werden. Kultiviert werden sollte eine Eigenliebe, die aus bedingungsloser Elternliebe entspringt, die Flexibilität und Widerstandsfähigkeit mitbringt, aus der ein realistisches Sich-Kümmern um den Pflegebedürftigen resultiert.

3. Ebene: Befriedigung persönlicher Bedürfnisse

Der Glaube, dass sich emotionale Bedürfnisse durch Selbstaufopferung befriedigen lassen, muss aufgegeben werden. Pflegende müssen lernen, ihre Lebensweise auf realistische Art zu ordnen. Im Verlauf der beruflichen Pflegearbeit sollte eine Pflegende ihre eigene Befindlichkeit äußern können. Sie...

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