1. Vorbemerkungen
1.1 Fragestellung
Die Systemische Seelsorge4 ist eine der neueren Richtungen im weiten Feld der Seelsorge. Ihre Anfänge liegen im deutschsprachigen Raum in der Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie baut auf den Grundkonzepten der Systemischen Therapie auf. Da es sich bei der Systemischen Therapie nicht um ein homogenes Ganzes handelt, sondern um unterschiedliche systemisch-therapeutische Schulen und Richtungen, integriert jeder Entwurf einer Systemischen Seelsorge5 andere systemisch-therapeutischen Axiome. Diese Forschungsarbeit macht es sich zum Ziel, den familientherapeutischen Ansatz von Virginia Satir6 für die Systemische Seelsorge zu erschliessen. Sie will damit eine Lücke schliessen, da die Integration der Familientherapie Satirs in die Systemische Seelsorge im deutschsprachigen Raum bisher nur in einem sehr beschränkten Rahmen geschah.7 Gleichzeitig soll durch diese Untersuchung eine sowohl theoretische als auch praxisorientierte Darstellung der familien- und systemtherapeutischen Konzepte, Methoden und Interventionen des Ansatzes von Satir gegeben werden. Die Familientherapie Satirs wurde gewählt, weil es sich um einen ganzheitlichen, ressourcen-, wachstums-, lösungs- und erfahrungsorientierten Ansatz handelt, der auch im 21. Jahrhundert aktuell ist. Die implizite Spiritualität und die expliziten Werte Satirs laden durch ihre Parallelen zu einer Integration in die Systemische Seelsorge ein und fordern sie durch ihre Unterschiede zugleich heraus. Durch die systemische Ausrichtung auf Mehrgenerationensysteme sowie durch die für das Satir-Modell spezifischen lösungs- und erfahrungsorientierten Methoden und Interventionen bietet sich mit der Systemischen Seelsorge ein Ansatz an, der in der Vielfalt seelsorglicher Tätigkeit angewendet werden kann, wie etwa mit Einzelpersonen, Paaren, Familien, Gruppen oder Organisationen, und zwar in kurzen Begegnungen ebenso wie in zielorientierten Gesprächen mit mehreren Sitzungen. In diesem Konzept einer Hoffnungsorientierten Systemischen Seelsorge soll der familientherapeutische und systemtherapeutische Ansatz Satirs für die Systemische Seelsorge umsetzbar gemacht werden als eine Anwendung in der kirchlichen Praxis, die eine neue Sicht eröffnet – und zwar nicht nur in seelsorglichen Situationen, sondern auch im Bereich der Ausbildung, Supervision und Organisationsberatung kirchlicher Arbeit.
Der Fokus liegt in den folgenden Ausführungen auf der Person Virginia Satirs, ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung sowie auf dem historischen Umfeld, in dem ihr familientherapeutischer Ansatz und das Satir-Modell entwickelt wurden. Exemplarisch werden die Verortung, die Einflüsse und die Eigenständigkeit dieses familientherapeutischen Ansatzes aufgezeigt. Indem die therapeutischen Konzepte Satirs als Ergebnisse eines Prozesses darstellt werden, wird ein vertieftes Verständnis in die Entwicklung von Satirs Familientherapie gegeben, bevor ihr Ansatz in ein Konzept der Systemischen Seelsorge aufgenommen wird.
Dieser Arbeit ging eine eingehende theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den familientherapeutischen Konzepten des Satir-Modells voraus. Dazu gehörte ihre praktische Anwendung und Umsetzung im Rahmen Systemischer Seelsorge, systemisch-seelsorglicher Supervision, systemischer Seelsorgeausbildung und systemisch-seelsorglicher Organisationsberatung. Die Konzepte, Methoden und Interventionen der Familientherapie Satirs wurden für die Systemische Seelsorge adaptiert. Während dieses Adaptionsprozesses zeigten sich in den erwähnten Praxisfeldern positive Resultate, die zur Fortführung des begonnenen Prozesses der Integration des Satir-Modells in die Systemische Seelsorge ermutigten und zu einer Entwicklung des Konzepts der Hoffnungsorientierten Systemischen Seelsorge führten.
Zum Schluss ist die zentrale Rolle der Person von Virginia Satir für das Verständnis ihres familientherapeutischen Ansatzes und daher auch für die Integration ihres Modells in die Systemische Seelsorge hervorzuheben. Ihr Therapiemodell wird bestimmt von ihren Werten, Schwerpunkten und Zielen. Im Folgenden werden sechs Charakteristika von Satirs Werdegang und Therapiepraxis herausgearbeitet, die für ihren familientherapeutischen Ansatz von Bedeutung sind. Einige ihrer Entdeckungen und Erkenntnisse sind bis heute relevant.
Erstens: Die Familientherapie Satirs war und ist international erfolgreich. Sie wird mit Erfolg international in Therapie, Supervision und Ausbildung umgesetzt. Eine beachtliche Anzahl ihrer Konzepte und fundamentaler Grundwerte wurden auch von anderen psychotherapeutischen Richtungen aufgenommen und gehören zu den selbstverständlichen Grundlagen in Ausbildungslehrgängen der Familien- und Systemtherapie, wo sie an neue Generationen von Therapeutinnen und Therapeuten weitergegeben werden. Eine beachtliche Anzahl ihrer familientherapeutischen Grundlagen, Werte, Methoden und Interventionen sind für die Seelsorgepraxis weiterführend, da sie seelsorgliche Erkenntnisse aufnehmen und familientherapeutisch vertiefen.
Zweitens: Satir integrierte ihre Spiritualität. Satir gab als erste Familientherapeutin der Spiritualität einen besonderen Stellenwert. Sie integrierte Meditationen in ihre Ausbildungslehrgänge und Workshops und sprach offen über ihre Werte und Glaubensüberzeugungen. Diese Transparenz ermöglicht es, die Spiritualität und Grundhaltungen Satirs den Menschen, der Welt, Gott und der Zukunft gegenüber zu verstehen und der Frage nachzugehen, welche Rolle ihre Spiritualität in ihrer Familientherapie einnimmt. Die Erforschung dieser Thematik ist für die Systemische Seelsorge nicht nur interessant, sondern auch relevant.
Drittens: Satir hatte einen praxisorientierten Ansatz, der sich für die interdisziplinäre Zusammenarbeit eignet. Sie war eine ausgesprochene Praktikerin und entwickelte ihren therapeutischen Ansatz gleichzeitig in der Theorie und in der Praxis, d. h. sie liess neue Erkenntnisse und Ideen sogleich in ihre Praxis einfliessen – ebenso wie die Erfahrungen aus der Praxis ihre Theorie formten. Ihr familientherapeutischer Ansatz war durch unzählige Beratungen aus ihrer therapeutischen Praxis untermauert. Insofern waren ihre Konzepte, Methoden und Interventionen in der Arbeit mit Familien erprobt und mit Erfolg umgesetzt. Ihre Ausführungen des familientherapeutischen Ansatzes waren nicht nur für psychotherapeutische Experten verständlich und einleuchtend, sondern Satir war es ein Anliegen, dass ebenso Fachpersonen der Medizin, Psychiatrie, Psychologie sowie der verschiedensten Gesundheitsberufe, Erziehungswissenschaften und Seelsorge ihren Ansatz umsetzten.
Viertens: Satir war eine Pionierin der Familientherapie und die einzige Frau in diesem Bereich: Satir wirkte als Familientherapeutin der ersten Stunde an vorderster Front mit und entwickelte gegen Ende der 40er- und 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika einen eigenen Ansatz der Familientherapie. Ihr Beitrag zur Entwicklung der Familientherapie fand in Fachkreisen Beachtung. Ihre Vorgehensweise war, ähnlich wie diejenige der anderen Pioniere der Familientherapie, unkonventionell und originell. Sie hatte die Fähigkeit, integrativ und interdisziplinär zu denken, zu forschen und zu arbeiten. Mehrmals betrat sie als Familientherapeutin Neuland, und es gelang ihr, neue Erkenntnisse und Gedanken in ihr therapeutisches Schaffen und Intervenieren aufzunehmen. Die radikal neue Sicht- und Behandlungsweise der Familientherapie wurde verschiedentlich als Paradigmawechsel8 umschrieben. Ihre Errungenschaften waren nur möglich durch ihren vollen Einsatz im Beruf. Satir war eine rund um die Uhr engagierte und erfolgreiche Berufs- und Karrierefrau, und das in einer Zeit, als von verheirateten Frauen erwartet wurde, dass ihre erste Priorität bei Mann und Familie lagen.
Fünftens: Satir war die Pionierin der Aus- und Weiterbildung für Familientherapie. Satir konzipierte und leitete die erste Weiterbildung auf dem Gebiet der Familientherapie überhaupt in den Jahren 1955–1958 in Chicago, wo sie am Chicago State Hospital angehenden Ärzten und Psychiatern den familientherapeutischen Ansatz lehrte. Hinzu kommt, dass sie Pionierin der Familientherapieausbildung war, nämlich, als sie im Jahr 1959 am Mental Health Institute in Palo Alto in Kalifornien die erste Ausbildung für Familientherapie für Therapeutinnen und Therapeuten konzipierte und leitete. Später war sie international als Ausbildnerin in Familientherapie tätig. Sie lehrte unter anderem in den Vereinigten Staaten, Kanada, Südamerika, Deutschland, Israel und Russland und war Referentin an Universitäten, Berufsschulen sowie in Radio und Fernsehen. Anders als ihre Pionierkollegen gründete sie weder ein Institut noch baute sie ein Ausbildungszentrum auf, in dem das Satir-Modell gelehrt wurde.
Sechstens: Satir war Nicht-Akademikerin. Und sie war unter den Pionieren und Fachpersonen der ersten Stunde der Familientherapie die einzige Nicht-Akademikerin. Ihr erster Beruf war Lehrerin. Ihre Zweitausbildung war ein Masterstudium in Sozialarbeit. Ihre Pionierkollegen Nathan Ackerman, Gregory Bateson, Ivan Boszormenyi-Nagy, Murray Bowen, Jay Haley, Don Jackson, Salvador Minuchin und Carl Whitaker9, um einige der wichtigsten Vertreter zu nennen, waren spezialisierte Ärzte, Psychiater, Psychoanalytiker, Psychologen und Sozialwissenschaftler, von denen viele als Professoren an einer Universität lehrten oder zum Teil selbst gegründete Institute leiteten. Ein wichtiges Ziel dieser Pionierkollegen war die Erforschung und Entwicklung neuer Theorien für die Behandlung von Familien. Als...