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Interaktionen zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz

Ein pflegedidaktisches Konzept für Ausbildung und Praxis

AutorElisabeth Höwler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl172 Seiten
ISBN9783170265011
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz laufen Interaktionsprozesse ab, die von den Kranken unbewusst wahrgenommen werden und die sich auf die Pflegesituation auswirken. Diese Aspekte zu pflegerischer Interaktion werden hier diskutiert, anschließend leiten aktuelle Forschungsergebnisse zu Interaktionsmustern von demenziell veränderten Personen über. Die in der Langzeitpflege durchgeführte Beobachtungsstudie identifiziert typische Interaktionssituationen, aus denen fachdidaktische Schlussfolgerungen für die Pflegeausbildung abgeleitet werden. Zahlreiche Beispiele und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten bieten eine sichere Grundlage für die Übertragung in die Pflegeausbildung und sollen dazu beitragen, pflegeberufliche Haltungen und Kompetenzen zum Umgang mit Personen mit Demenz herauszubilden.

Elisabeth Höwler, Altenpflegerin, Lehrerin für Pflege, Dipl.-Pflegepädagogin, Fachbuchautorin, Dozentin in der Aus- und Fortbildung.

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Leseprobe

Teil II


6 Empirischer Teil


Interaktionen für eine positive Personenarbeit zwischen Pflegenden und Personen mit Demenz während der Körperpflege sind bisher nicht untersucht worden. Weil es bei der Untersuchung um Reaktionen der alten Menschen auf personzentrierte oder personuntergrabende Pflege geht, wird ein qualitatives Vorgehen gewählt.

6.1 Nicht-teilnehmende Beobachtung


Das Feld der gerontopsychiatrischen Pflege eignet sich besonders gut für die qualitative Forschung. Beobachtungsforschung zur Ermittlung von Interaktionsprozessen bei Pflegenden und Personen mit Demenz muss darauf abzielen, typische Interaktionssituationen zu identifizieren, und zwar so, wie sie sich in der Pflegerealität darstellen. Eine solche gegenstandsnahe Erfassung kann mit dem qualitativ-explorativen Wissenschaftsverständnis durchgeführt werden (vgl. Lamnek 1995, S. 240). Besonders die Situationen, in denen herausforderndes Verhalten durch Pflegende initiiert wird und die betreffenden Personen, die durch ihre Demenzerkrankung nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten adäquat zu beschreiben, bedürfen einer sensiblen Beobachtung. In der Studie wird mit der offenen, nicht-teilnehmenden strukturierten Fremdbeobachtung gearbeitet. Diese Methode erlaubt eine direkte Erfassung von Verhaltensweisen und Ereignissen, weil die Untersucherin am Alltagserleben (Körperpflege) der Personen teilnimmt und „versucht durch genaue Beobachtung, etwa deren Interaktionsmuster (...) zu explorieren und für die wissenschaftliche Auswertung zu dokumentieren“ (ebd., S. 240). Keine andere Methode kann den Interaktionsprozess so einzigartig sensibel betrachten und eine Vielfalt an Informationen über die Beteiligten liefern (vgl. Polit et al. 2004, S. 280). Als Beobachterin einer Pflegesituation ist diese für die Beteiligten erkennbar; primär nimmt sie dabei die Rolle der Beobachterin ein.25 Das Verfahren kann z. T. als standardisiert bezeichnet werden, weil der Interaktionsprozess durch vorgegebene Beobachtungskriterien festgehalten wird. Während der nichtteilnehmenden Beobachtung im Bewohnerzimmer oder in der Nasszelle befindet sich die Beobachterin außerhalb der Interaktionen, aber innerhalb des Beobachtungsfeldes. Ein Vorzug der Methode besteht darin, dass die Beobachterin im Feld nicht interagieren muss, sondern sich auf das soziale Geschehen konzentrieren kann (vgl. Lamnek 1995, S. 265). Auf diesem Wege kann die Beobachterin einen umfassenden Gesamteindruck von den in der Regel hochkomplexen Pflegesituationen bekommen (vgl. Diekmann 2004, S. 470). Um dieses zu bewältigen, wird die Fähigkeit der Empathie gefordert, d. h. die Beobachterin muss sich mit Einfühlungsvermögen in die Pflegenden und in Personen mit Demenz hineinversetzen, wahrnehmen und nachspüren, wie das Erleben dieser Personen in ihren Bezugsrahmen sein mag (vgl. Bradford Dementia Group 1997, S. 5). Als Nachteil der nicht-teilnehmenden Beobachtung kann ein doppelter Hawthorne-Effekt vorliegen, d. h. ein positiver Wandel bei Pflegenden, die wissen, dass sie beobachtet werden (vgl. Persaud 2004, S. 131). Kitwood weist diese Behauptung mit dem Argument zurück, dass Pflegende zu sehr mit Pflegehandlungen beschäftigt seien, um außerhalb des Gewöhnlichen etwas zu tun, und dass die Natur der Demenz bei den Pflegebedürftigen die Anwesenheit der Beobachtungsperson abblockt (vgl. Bradford Dementia Group 1997, S. 19). Grundsätzlich gilt aber schon, dass die sich zurücknehmende Beobachterin das Beobachtungsfeld verändern kann.

Ziel ist es, examinierte Pflegende bei ihren Interaktionen während der Körperpflege sowie die darauf folgenden Reaktionen der Pflegebedürftigen in ihrem natürlichen Kontext zu beobachten.

6.2 Ablauf der Untersuchung


Im Zeitraum von Januar 2005 bis Februar 2005 wurde in einem katholischen Pflegeheim eine Untersuchung durchgeführt, um das interaktive Geschehen nach dem personzentrierten Ansatz von Kitwood zu beschreiben und die Bedeutung dieses Konzeptes für das Person-Sein der erkrankten Bewohnerinnen zu ergründen. Das Pflegeheim ist nicht spezialisiert auf die Pflege von alten Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Es wurde 1995 neu erbaut und bietet zum Zeitpunkt der Untersuchung 102 Langzeitpflegeplätze an. Das dreistöckige Haus in einer modernen Architektur mit viel Glas und von daher hohem Lichteinfall ist in vier Wohnbereiche aufgeteilt. Die Beobachtungssätze bestehen aus 12 nicht-teilnehmenden Beobachtungen von zwei Wohnbereichen mit jeweils 28 Bewohnerinnen, welche nach integrativen Wohnkonzepten ausgerichtet sind. Die Beobachtungen wurden an 12 aufeinander folgenden Tagen durchgeführt; die Beobachtungszeiten lagen zwischen 7:00 Uhr und 9:30 Uhr. Die Beobachtungsdauer für eine Beobachtung umfasste einen Zeitraum von ca. 15–40 Minuten.

6.3 Ethische Aspekte


Nach zwei persönlich-mündlichen, informellen Kontakten musste ein Anschreiben an das zu untersuchende Pflegeheim verfasst werden. Dieser Brief hatte den Zweck, sich in der Institution bekannt zu machen, über Anliegen, Vorgehen und Motivation zu informieren, denkbaren Missverständnissen vorzubeugen und Vertrauen herzustellen. Die Heimleiterin informierte den Pflegedienstleiter über die schriftlich vorliegende Forschungsanfrage und suchte mit ihm gemeinsam die Wohngruppen aus, die für die Beobachtungsstudie in Frage kommen konnten. Von dem untersuchten Pflegeheim liegt eine schriftliche Einverständniserklärung vor. Mögliche ethische Probleme in Bezug auf eine fehlende Zustimmung der Personen mit Demenz traten nicht auf. Die Auswahl der Untersuchungsteilnehmerinnen war an deren freiwillige und informierte Zustimmung gebunden. Vor allem betraf dies die Bereitschaft der Bewohnerinnen, die Untersucherin an der Situation der morgendlichen Pflege teilnehmen zu lassen. Die Untersucherin stellte sich vor Beobachtungsbeginn den Bewohnerinnen als Pflegerin vor und räumte den Teilnehmenden die Möglichkeit ein, von ihrer Freiwilligkeit Abstand zu nehmen.

Das Pflegeteam wurde über das Vorhaben vor Untersuchungsbeginn informiert. Bei diesem Gespräch wurde dem Team deutlich gemacht, dass es bei der Anwesenheit der Untersucherin während der Körperpflege nicht um Aufzeigen von Fehler- oder Schwächeanalysen gehen würde, sondern um Perspektiven für eine verbesserte praktische Pflegeausbildung. Gegenüber den verantwortlichen Wohngruppenleiterinnen wurde immer wieder betont, wie dankbar man ihnen für ihre Hilfe sei, um permanente Mitarbeit sicherzustellen und an ihre weitere Hilfsbereitschaft zu appellieren. Durch eine gegenseitige Information sollte eine Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit hergestellt werden, die eine wechselseitige Motivation aufrecht erhält. Das Einverständnis der Pflegerinnen, die beobachtet werden sollten, war jeweils kurz vor der Beobachtungssequenz eingeholt worden. Alle beobachteten Interaktionssequenzen waren ausschließlich indiziert. Die Untersuchung stellte für die Bewohnerinnen wie für die Pflegenden weder einen zusätzlichen Zeitaufwand dar noch bewirkte sie eine Veränderung oder Störung des Ablaufes der Morgenpflege. In den Beobachtungsprotokollen sind die Namen der Pflegerinnen und der Bewohnerinnen anonymisiert. Die Untersucherin in der Rolle der Forscherin nahm Abstand, wenn dieses zur Vermeidung von Schäden in den nicht-teilnehmenden Beobachtungen angezeigt gewesen wäre (vgl. Jackson 1996, S. 368). Nach Abschluss der Untersuchung stand die Untersucherin dem Team als Interaktionspartnerin mit Rat und Tat zu Seite, „um nicht den Eindruck zu vermitteln, er [sie; die Verf.] würde die Menschen nur als Datenlieferanten betrachten“ (Lamnek 1995, S. 283).

6.4 Beschreibung des Personenkreises


Bei dem beobachteten Personenkreis handelt es sich um eine einheitliche Gruppe alter Menschen, die im Pflegealltag auffälliges desorientiertes Verhalten zeigen und in der Pflegedokumentation den Hinweis einer diagnostizierten Demenz aufweisen. Einige Personen der Stichprobe kamen bereits mit desorientiertem Verhalten in die Pflegeeinrichtung, andere entwickelten im Laufe des Heimaufenthaltes eine Demenz.26 Die Auswahl erfolgte unter dem Vorwissen der Untersucherin. Der Begriff „Personen mit Demenz“ in einer moderaten Phase konnte für die Untersuchung sicher verwendet werden, weil die Diagnose bei allen Personen von einem psychiatrischen Facharzt während einer stationären psychiatrischen Behandlung mit dem klinischen Inventar ICD der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2004) abgesichert worden ist. Die Schwere der Demenz wird mit unterschiedlichen Skalen eingeteilt. Alle zwölf Personen sind in ihrer Selbstständigkeit – der Barthelindex liegt zwischen 17 und 50 Punkten – deutlich eingeschränkt. In den psychometrischen Tests, z. B. Mini-Mental-Status-Test (vgl. MMST, Folstein et al. 1975), erreichen sie einen Wert zwischen 10 und 15 Punkten; auf der Global Deterioration Scale (GDS27; vgl. Reisberg et al. 1984) erfüllen die Symptome die Kriterien der Stufe fünf (mittelschwere kognitive Leistungseinbußen). Das Alter der zwölf Bewohnerinnen liegt zwischen 81 und 98 Jahre; sie sind in der Pflegestufe II eingruppiert.

Personen in verschiedenen Krankheitsstadien benötigen für eine befriedigende Verständigung unterschiedlich ausgeprägte Handlungen, Interaktionen und Strategien, die von Pflegenden jeweils angewendet werden müssen (vgl. Bickel 1997, S. 8). Eine kognitive Verschlechterung im Krankheitsverlauf stellt sich bei moderater Demenz meist deutlicher dar als in den Früh- und Spätstadien der Erkrankung (vgl. Förstl 1997, S. 274). Diese wissenschaftliche medizinische Aussage konnte durch Bezugspflegende der beobachteten Bewohnerinnen bestätigt werden. Innerhalb der letzten zwei...

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