Die Institution Schule ist gezwungen, auf heterogene Schülerschaften zu reagieren, indem sie einerseits Strukturen schafft, die der Individualität von Schülern gerecht werden und andererseits den Lernprozess in einer Weise wahrnimmt, die den Lernenden als autonom handelndes Individuum respektiert. Diesen Reaktionsprozess nennt man Antizipieren und erwies sich gemäß der Literatur als bisher beste Antwort auf heterogene Lerngruppen in der beruflichen Bildung. (vgl. Boller/Rosowki/Stroot 2007: S. 118)
Grundsätzlich bestehen 4 unterschiedliche Reaktionsformen im Unterricht heterogener Lerngruppen:
Tabelle 3: Reaktionsformen gegenüber heterogenen Gruppen
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Trautmann/Wischer 2011: S.1)
Wischer bestätigt, dass im deutschen Schulsystem bisher die beiden erst genannten Strategien dominieren. (vgl. Trautmann/Wischer 2011: S.1) An institutionalen Bildungseinrichtungen existieren laut Wenning folgende Handlungstypen:
Tabelle 4: Negative Reaktionsformen gegenüber heterogenen Gruppen
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an BMBF 2008-2009: S.45)
All diese Handlungstypen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Heterogenität in der Lernsituation als etwas Negatives und Unerwünschtes wahrnehmen. Im Unterricht besteht die größte Herausforderung für Lehrkräfte jedoch darin, dass sie Schüler in heterogenen Lerngruppen trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Merkmale optimal fördern. Deshalb existieren neben den vorab genannten Handlungsoptionen auch konstruktive Umgangsweisen mit Heterogenität in der Praxis.
Tabelle 5: Konstruktive Reaktionsformen gegenüber heterogenen Gruppen
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an BMBF 2008-2009: S.45)
Bisweilen gibt es in der Praxis vielfältige Handlungsoptionen, um einen gerechten Umgang mit Heterogenität im Unterricht zu garantieren. Den angeführten Modellen liegen im Umgang mit heterogenen Lerngruppen unterschiedliche Einstellungen zur Vielfältigkeit im Unterricht zugrunde. So kann diese ausgehend von der Betrachtung als Chance und Bereicherung oder als etwas Negatives und Unerwünschtes wahrgenommen werden. Professionell mit Heterogenität umzugehen hat positive Wirkungen auf Schule und Unterricht, trägt gleichermaßen zur Berufszufriedenheit der Lehrkräfte bei und hebt die Qualität und Chancengleichheit des gesamten Schulsystems. (vgl. Fischer/Hahn 2009: S.227) Unabhängig davon, für welche Umgangsweisen sich die Lehrkräfte im Unterricht entscheiden, stellt Heterogenität hohe Anforderungen an das Bildungspersonal. Diese benötigen neben geeigneten Konzepten für die Gestaltung geeigneter Lehr- und Lernsituationen auch besondere Kompetenzen, um der Vielfalt im Unterricht gerecht zu werden. (vgl. BMBF 2008-2009: S.45)
Im differenzierten Unterricht, welcher auf die heterogene Lerngruppe abgestimmt wird, sind Lehrkräfte nicht mehr nur als Vermittler, sondern auch als Lernbegleitung/Lernberatung gefragt und somit entsteht eine erweiterte Rolle des Bildungspersonals. Von den Lehrkräften wird erwartet, dass sie kompetenzorientiert den Unterricht planen und durchführen. (vgl. Paradies/Linser 2010: S.18) Von ihnen wird weiterhin verlangt, den individuellen Entwicklungspotenzialen der Schüler durch einen variablen Einsatz von Methoden, Sozialformen und Materialien optimal gerecht zu werden. (Wischer/Lojewski 2009: S.5)
Das Kompetenzprofil der Lehrkraft zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen wird im Verlauf nur kurz angerissen.
„Allgemein bezeichnet Kompetenz die Fähigkeit, eine Leistung in immer wieder neuen Situationen zielbezogen, effektiv und unter Beachtung ethischer Regeln zu erbringen“ (Buholzer 2012: S.8; zitiert nach Meyer und Klapper 2006)
Dies bedeutet also, dass eine Person Kompetenz besitzt, wenn sie über ausreichend Ressourcen verfügt, um ein Problem oder eine Aufgabe zu bewältigen. Kompetenz an sich lässt sich weder messen noch beobachten. Sichtbar ist nur die auf Grundlage der Kompetenz realisierte Performanz. (vgl. Buholzer 2012: S.9) Über welche Kompetenzen Lehrkräfte im Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Unterricht zu verfügen haben, besteht Uneinigkeit. Im Rahmen einer Professionalisierung der Lehrkräfte für den Umgang mit Heterogenität im Unterricht wurden empirisch folgende Kompetenzbereiche identifiziert:[13]
Sachkompetenz:
Wissen über zentrale Differenzen, ihre Genese und ihre Konsequenzen für schulische Förderung, Kenntnis des Begriffes, einschlägiger Definitionen und Konzepte
Diagnostische Kompetenz:
Heterogenität in ihren verschiedenen Ausprägungen wahrnehmen und erfassen können
Methodisch-didaktische Kompetenz:
Kenntnis und Anwendung adaptiver Lehr- und Lernmethoden, Methoden der individuellen Förderung und Binnendifferenzierung
Fachkompetenz:
fachliche und fachdidaktische Expertise, um die Fachinhalte in vielfältiger und differenzierender Art und Weise vermitteln zu können
Reflexionskompetenz:
Bereitschaft, eigenes Praxishandeln zu hinterfragen und hinterfragen lassen zu können; Normalitätskonstrukte kritisch hinterfragen
Klassenführungskompetenzen:
Heterogenität in integrativer und nicht ausgrenzender Weise im Unterricht berücksichtigen, Förderung demokratischer Beziehungsformen durch Einsatz kooperativer Lern- und Arbeitsformen
Leistungsbeurteilung/ -bewertung:
Kenntnis und Anwendung differenzierter, kriterien- und subjektorientierter Beurteilungs- und Bewertungsinstrumente z.B. Portfolio, Lerntagebücher etc.
Einstellung/Haltung:
Sensibilität und Offenheit gegenüber Verschiedenheit und Vielfalt, Heterogenität als Bereicherung begreifen
Kompetenzorientierung im Unterricht verlangt ein erweitertes Aufgabenverständnis und neue Tätigkeitsschwerpunkte für Lehrkräfte. (vgl. Paradies/Linser 2010: S.18) So benötigen Lehrkräfte hohe diagnostische Fähigkeiten, um die einzelnen Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schülern angemessen einzuschätzen. Darauf aufbauend wird von den Lehrkräften eine umfassende unterrichtliche Kompetenz verlangt, indem sie über ein breites Repertoire an Unterrichtsstrategien verfügen und unterschiedliche Methoden zielgerichtet einsetzen können. (vgl. Wischer/Lojewski 2009: S.5) Generell liegt es in den Händen der Lehrkräfte, Lernsituationen so zu arrangieren, dass leistungsschwächeren Schülern gezielt geholfen wird und leistungsstärkeren Schülern gezielt Freiräume für selbstreguliertes Lernen geboten werden. (vgl. Paradies/Linser 2010: S.19) Schüler brauchen konkrete Anforderungssituationen, in denen sie ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zeigen können. (vgl. Paradies/Linser 2010: S.18) Deshalb übernimmt die Lehrkraft die Verantwortung für unterrichtliche Differenzierungsstrategien.
Die traditionelle Rolle der Lehrkraft als lediglicher Wissensvermittler gehört daher der Vergangenheit an. (vgl. Rauner/Piening: S.35) Die neue Rolle wird inzwischen als Lernprozessbegleiter verstanden, in der Lehrkräfte begleitende Gespräche mit Schülern führen, diese bei der Lösung von Aufgaben beraten und die Qualität ihrer Lernergebnisse würdigen. (vgl. Rauner/Piening: S.36) Aus dieser Würdigung heraus entsteht ein Vertrauen in die Arbeit der Lernenden und in ihre Ergebnisse. Im Gegensatz zum herkömmlichen Unterricht müssen die Lehrenden Vertrauen in den Lernprozess und in das Ergebnis des Lernprozesses haben. Diese Vertrauensbasis kann aber nur bestehen, wenn sich die Lehrkraft bewusst macht, dass Schüler nicht so lernen wie man selber und daher vielfältige Lernwege existieren, die besonderer Lernarrangements bedürfen. (vgl. Boller/Rosowski/Stroot 2007: S.120)
Ohne Differenzierung im Unterricht ist es nicht möglich, eine positive Entwicklung von Unterricht und Schule zu vollziehen. (vgl. Staatliches Studienseminar für das Lehramt 2011: S.3) Daher wird Differenzierung als Antwort auf die Vielfältigkeit der Schüler im Unterricht verstanden. Diese bietet die Chance, möglichst vielen Schülern in ihrer Verschiedenartigkeit gerecht zu werden. Ausgangspunkt des Interesses an Differenzierung im Unterricht ist das Gefühl vieler Lehrkräfte, dass Heterogenität in den Klassen immer größer wird. Wenn die vielen Unterschiede der Schüler keine ausreichende Beachtung in der Unterrichtsplanung- und durchführung erhalten, tritt die Forderung nach Differenzierung auf. (vgl. Köker/Romahn/Textor 2010: S.187)
Bereits Klafki erkannte 1976, dass die heterogene Lerngruppe als Chance für die Unterrichtsentwicklung betrachtet und...