Kulusuk. Der Hubschrauberpilot macht ein paar hastige Schritte auf mich zu, schnell, sagt er, das Wetter wird schlechter. Der Nebel drückt nach unten. Wenn er noch ein bisschen weiter absinkt, müssen wir am Boden bleiben. Aber der Nebel wartet noch, er lässt den roten Helikopter abheben, über die Insel Kulusuk aufsteigen, hinüberrütteln nach Tasiilaq. Schwarzblaues Fjordwasser, um das sich gelbbraune Felsenküsten wie Finger schließen, die in das weite Meer hineinragen, leuchtend weiße Eisberge, die auf ihrem Weg nach Süden auf Grund gelaufen sind und an denen sich schäumend die Wellen des Nordatlantiks brechen. In weiter Ferne, hinten am Horizont, ein blendender Schein. Das Inlandeis. Man kann dieses Bild nicht festhalten, man kann es nicht fotografieren, weil die Ränder hier so wichtig sind, die Ränder, die auf einer Fotografie immer fehlen, es ist das Ganze, das ganz große, große Ganze, das die Schönheit ausmacht, die sich hier vor mir aufbaut. Es gibt viele Bilder von Grönland, und doch hat niemand Grönland gesehen, der nicht hier gewesen ist.
In Tasiilaq springe ich aus dem Hubschrauber, der Pilot reicht mir meinen Rucksack. Im Heliportgebäude wartet Robert Peroni auf mich und Wesley, ein Amerikaner, der zu einem Filmteam gehört. Robert Peroni betreibt ein Guesthouse in Tasiilaq, das Rote Haus. In seinem weißen Jeep fahren wir eine ungeteerte Piste zum Haus hinauf. Es ist später Vormittag, über Tasiilaq steht eine helle Sonne, die die Farben der roten, grünen und blauen Häuser strahlen lässt und ebenso die bunten Blumenhänge, über die der Ort verstreut ist. Tasiilaq sieht farbenprächtig gut gelaunt aus. Im Roten Haus spricht Robert mit einer jungen Frau, Caroline. Sie scheint nicht begeistert, als sie mich sieht. Ich werde in einem der Nebenhäuser wohnen, aber das Zimmer ist noch nicht fertig.
Wegen der schlechten Wettervorhersage packe ich meine Kamera aus und gehe hinaus in diesen bunten Ort. Es ist Samstag, und ich weiß noch nicht, dass das bedeutet, dass gestern ein Freitag war, an dem Löhne und Sozialhilfe ausbezahlt wurden. Und was das heißt, für das Leben im Dorf. Dass dann einige so lange trinken, bis kein Geld mehr da ist – das ganze Wochenende über, dann kehrt wieder Ruhe ein. Aus einem gelben Haus tönt laute Technomusik, in dem schmuddeligen Gras um das Haus liegt eine Unmenge Bierdosen. Als ich auf Höhe des Hauses bin, fliegt aus einem der geöffneten Fenster eine weitere Dose heraus und landet scheppernd auf den anderen.
Das passt überhaupt nicht zu dem Grönland-Bilderbuchbild, auf das ich blicke. Der Himmel ist blau, die Luft kalt und klar, im Fjord glitzert das Wasser, und auf der anderen Seite drücken sich mächtige Gletscher die steil aufragenden Berge hinunter.
Aus einer staubigen Seitenstraße kommt ein Paar getorkelt, sie schreit immer wieder laut auf ihn ein, sie kreischt, sie wankt, sie ist so betrunken, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Sie schlingern an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen. Er antwortet ihr mit widerwilligen Lauten; dann pinkelt er gegen das Haus, aus dem die Bierdosen fliegen.
Zwei Hunde laufen auf mich zu, freundlich schwanzwedelnd. Sie setzen sich vor mich und kratzen sich ausgiebig hinter den Ohren. Dann jagen sie davon, einander immer wieder beißend.
Ich komme zu einer geteerten Straße, die in das Tal hinunter über einen Fluss führt und auf der anderen Seite wieder bergauf. Auf der Brücke steht ein rosafarbenes Kinder-Tretauto in der Mitte der Straße.
Im Fluss liegen drei Fahrräder und zwei Kinderwagen. Daneben angeln ein paar Jungs, die bis zu den Knien im kalten Wasser stehen, was sie nicht zu stören scheint.
Der kleine Supermarkt, stelle ich fest, ist gar nicht so klein. Es gibt eine Theke mit Brot, mehrere Gefrierschränke mit Fleisch und Fisch, Haushaltswaren, Saft. Ein bisschen Käse und ein bisschen Gemüse. Am reichhaltigsten ist das Angebot an Chips. Ich laufe noch ein Stück weiter die Küste entlang und bin überrascht, nach der Kargheit in Spitzbergen hier so viele blühende Blumen zu sehen, die einen sanften Kontrast zu der wilden Landschaft bilden.
Als ich zurückgehe, hat jemand das rosa Baby-Tretauto zur Seite geschoben. Ein junger Mann steckt seinen Kopf aus einem der Fenster des Hauses mit der Technomusik und übergibt sich.
Als ich zurück ins Guesthouse komme, ist dort gerade ein Notruf eingegangen, von einem Kajakfahrer, einem deutschen Touristen. Wegen der höher werdenden Wellen schafft er es nicht, zurück nach Tasiilaq zu kommen.
Tasiilaq / Ammassalik
Tasiilaq (grönländisch: wie ein ruhiger See) ist mit 2018 Einwohnern der größte Ort Ostgrönlands. Um ihn herum gruppieren sich fünf wesentlich kleinere Siedlungen: Isortoq, Tiniteqilaaq, Kuummiut, Sermiligaaq und Kulusuk. Während Tasiilaq heute fast einen urbanen und modernen Eindruck macht, ist das Leben in den Dörfern ursprünglicher, geprägt von der Jagd und an den Gegebenheiten der Natur orientiert. Früher hieß die Gemeinde Ammassalik oder Angmagssalik, wegen eines Fischs: der hier in großer Zahl vorkommenden Lodde, die auf grönländisch Ammassak heißt. Etwa 800 Kilometer weiter nördlich befindet sich die einzige andere Siedlung an der ostgrönländischen Küste, Ittoqqortoormiit, mit 381 Einwohnern. Erreichbar sind die Orte über einen Flughafen in Kulusuk und ein Flugfeld nahe Ittoqqortoormiit; die Siedlungen haben Hubschrauberlandeplätze. Tasiilaq liegt knapp unter dem Polarkreis, es gibt hier also weder Mitternachtssonne noch Polarnacht. Tag und Nacht variieren mit 23 Stunden Tageslicht im Juni und guten drei Stunden im Dezember allerdings beträchtlich. Der wärmste Monat ist mit durchschnittlich 7°C der Juli, der kälteste mit -7,7°C der März. Im Sommer kann es durchaus warm genug für kurze Hosen werden, während im Winter die Bedingungen sehr ungemütlich sein können. Wie an anderen Orten der Arktis auch, stiegen die Temperaturen in den letzten Jahren stark an.
Wenn ich will, kann ich mitfahren, den Kajakfahrer holen. So lerne ich Viggo kennen, einen der grönländischen Bootsfahrer, der schon in einem orangefarbenen Motorboot im Hafen wartet. Er reicht mir ohne Worte einen Thermoanzug und dicke Handschuhe. Mit dem schweigenden Viggo tuckere ich aus dem Hafen hinaus, und als wir den Fjord verlassen, schlagen uns Wellen entgegen, die zwischen anderthalb und zwei Meter hoch sind. Das ist hoch für so ein kleines Boot. Richtige kleine Berge. Viggo kämpft nicht gegen die Wellen, er fährt mit ihnen, vielleicht ist das die beste Beschreibung, ähnlich wie mit einem Segelboot. So schaukeln wir fast anderthalb Stunden Richtung Norden, in der langsam untergehenden Sonne, an großen Eisbergen vorbei. Es ist eine wunderschöne Fahrt. Ab und zu schaut Viggo mich an.
All good?, fragt er.
All fine, sage ich.
Wir finden den Kajakfahrer in einem kleinen Fjord, in dem das Wasser völlig glatt ist. Eine Erholung nach unserem Tanz über die Wellen. Wir laden seine Ausrüstung in das Boot. Als der Kajakfahrer eine letzte Tasche holt, dreht sich Viggo zu mir.
Mange takk, sagt er mit ernster Miene.
Vielen Dank, dass Du mit mir gefahren bist. Es ist gut, dass ich nicht alleine war.
Dann fährt er uns zurück nach Tasiilaq, in mittlerweile völliger Dunkelheit und durch schwarzes Wasser. Der Kajakfahrer steigt im Fjord aus, wo er sein Zelt aufstellen wird. Morgen will er kommen und für seine Rettung bezahlen. Viggo lässt mich im Hafen aussteigen und antwortet kaum auf meinen Abschiedsgruß, nachdem ich Thermoanzug und Handschuhe zurück ins Boot gelegt habe. Er fährt davon, wohin, habe ich nicht verstanden. Einen Moment stehe ich an der Hafenpier, allein im Dunkeln. Ich schaue hinauf auf den Hügel, wo irgendwo das Häuschen stehen muss, in dem ich wohne. Als das Motorgeräusch von Viggos Boot verklungen ist, ist es still. Für einen Mitteleuropäer sehr still, wenn man doch eigentlich mitten in einem Ort steht. Ich höre nur die Boote, die an der Pier schaukeln und um die das Wasser herumgluckst. Ich schaue auf die Lichter des Orts und atme die klare Luft ein und frage mich, was hier wohl alles auf mich warten wird.
Dann drehe ich mich um, gehe den Steg entlang und aufs Hafengelände, die steile Straße hinauf ins Dorf und langsam weiter zu dem Häuschen. Als ich an dem gelben Haus vorbeikomme, dröhnt noch immer Technomusik aus den offenen Fenstern in die dunkle Nacht.
Das war mein erster Tag in Tasiilaq.
Die nächsten beiden Tage regnet es in Strömen. Ich stehe im Guesthouse am Fenster und sehe zu, wie sich die Straßen in Schlammpisten verwandeln. In den tiefen Schlaglöchern steht das gelbbraune Wasser, platschen die Regentropfen. Der Sommer ist vorbei; er hat auch die Gäste mit fortgenommen, nur ein paar Alleinreisende sind noch hier und das Filmteam, drei Slowenen und der Amerikaner. Mit ihnen sitze ich auf der Eckbank, sie sichten ihr gefilmtes Material, ich lese. Die Slowenen Slavisa, Miha und Rozle arbeiten an einem beeindruckenden Film, einer Dokumentation über die letzten Eisjäger, die letzte Generation von Grönländern, die noch von der Jagd lebt. Sie zeigen mir etwas von ihrem Material, ich erzähle ihnen, dass ich ein Buch schreiben will. Und so tauschen wir bald Gedanken und Ideen aus. Slavisa, der Producer, erzählt mir nach einer Weile, wie persönlich dieser Film für sein Team ist: Sie alle kennen sich schon seit Jahren, aber derjenige, der die Idee zu dem Ganzen hatte, ihr Freund Jure Breceljnik, starb just in der Nacht, als alle Vorbereitungen...