EINLEITUNG
Yoga, eine über 2.000 Jahre alte Tradition, gewinnt im 21. Jahrhundert eine immer größere Bedeutung. Es verbreitet sich die Nachricht, Yoga sei wirksam vor allem in physischer Hinsicht, führe uns aber auch inmitten der alltäglichen Zwänge auf das Wesentliche unserer Existenz zurück. Millionen Menschen praktizieren Yoga. Die ganzheitliche Übungspraxis ist damit zu einem festen Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Lärm, Hektik, digitale Innovationen und die Reizbarkeit unserer Welt befördern die allgemeine Yoga-Evolution weiter. In Zeiten von Facebook, WhatsApp, Twitter und Instagram steigt die Sehnsucht nach »leibhaftigen« Erlebnissen und tiefer, echter Verbundenheit. Wenn uns die ganze Welt offen steht, wenn alles möglich ist, wo bleiben wir? Wo fühlen wir uns noch zuhause?
Home is where the heart is, lautet ein Sprichwort. Zuhause ist nicht ortsgebunden, nicht einmal an die physische Anwesenheit von Personen. Das moderne Leben ist fließend, und »für immer« ist fast nichts. Wenn sich also der nötige Halt kaum durch stabile äußere Strukturen finden lässt, dann wird schnell klar, dass wir den tieferen Sinn und den nötigen Halt in uns selber finden müssen. Wer nicht durch die unendlichen Optionen, die uns das Leben heutzutage bietet, weggespült werden will, wird in sich eine Klarheit schaffen wollen, die dazu beiträgt, selbst gut und sicher durch die Komplexitäten des modernen Alltags steuern zu können. Wer zunehmend mehr Zeit in der virtuellen Welt verbringt, dem wird etwas ganz Einfaches, das Sich-selbst-Spüren und das freie Durchatmen zu einem essentiellen Bedürfnis.
Es überrascht also nicht, dass Yoga einen so anhaltenden Zuspruch erlebt. Gerade auch jene, die sich in der bedrohten Mitte unserer Gesellschaft befinden, die nicht arm, aber auch nicht reich sind, nicht schwer leidend, aber doch gestresst, beziehungsfähig, aber trotzdem nicht selten einsam, sehr wohl belastbar, aber manchmal überfordert, eigentlich wach, aber fast immer erschöpft, wohlwollend dem Leben gegenüber, aber subtil gereizt, gerade jene fragen nach dem Sinn ihrer Anstrengungen.
Es sind also weniger die, die sich entschieden haben auszusteigen, sondern vor allem die, die darum bemüht sind, sich im Hier und Jetzt dem Leben voll und ganz zu stellen. Es sind Menschen, die viel nachdenken, die es schaffen wollen im Sinne eines verantwortungsvollen, sinnerfüllten Lebens und damit all jene, die sich über das Jonglieren mit ihren Verantwortungen vielleicht körperlich vernachlässigt haben, in deren Augen aber noch immer etwas leuchtet. Menschen, die sich wünschen, gestärkt zu werden, ihre Verspannungen zu lösen, den Kopf frei zu kriegen und bei sich selbst anzukommen.
Allerdings muss man sich hier fragen, ob die Lösung des Problems tatsächlich damit erreicht wird, in einigen Yoga-Kursen die Beine hinter dem Kopf zu verknoten, zu Hare Krishna-Rap-Versionen mit dem Po zu wackeln oder fremde Götter anzubeten?
Passen die Bedürfnisse der Praktizierenden mit der Art und Weise, wie Yoga häufig vermittelt wird, tatsächlich immer gut zusammen? Oder läuft da vielleicht bei der Übertragung des Yoga in den Westen etwas verkehrt? Wie kann es gelingen, etwas Wertvolles in seiner Essenz zu bewahren, aber für einen völlig anderen Kulturkreis in einer anderen Zeit mit vorher nie da gewesenen Herausforderungen bestmöglich zugänglich zu machen?
Yoga liegt etwas zugrunde, das eine universelle Gültigkeit besitzt.
Gerade weil das so ist, können wir den Yoga nicht einfach so kritiklos übernehmen, ihn durch rein wissenschaftliche Erklärungen entzaubern oder ihn mal eben, so wie es uns gefällt, popart-mäßig neu erfinden, denn dann geht leider das Wesentliche, der eigentliche Spirit des Yoga verloren. Damit Yoga auch für uns in der heutigen Zeit relevant sein kann, muss er sich weiterentwickeln. Die Wurzeln des Yoga werden immer in Indien bleiben, aber der Spirit ist frei.
Aufrecht, stark und klar im Leben heißt mein Buch, und es soll zeigen, wie wir Yoga so für uns nutzen können, dass es tatsächlich einen gravierenden Unterschied in unserem Leben bewirkt. Unter dem Sammelbegriff Yoga verbergen sich unendlich viele Lehransätze, Methoden und Interpretationen. Manche sind in ihrer Funktionalität überzeugend, doch mangelt es ihnen oft an Ideenreichtum. Andere sind imposant, aber vordergründig. Einige halten sich strikt an die Tradition. Es gibt aber nicht den einen richtigen Weg. Wege sind wie Menschen: individuell.
Gibt es nicht aber doch Grundsätzliches zu sagen, das sowohl dem Praktizierenden hilft, den wahren Wert des Yoga zu erkennen und Yoga so einzusetzen, dass er die Lebenspraxis unterstützt? Ich bin eine Befürworterin des Mittelwegs. Wenn man den Mittelweg konsequent geht, dann ist er keineswegs langweilig oder eindimensional.
Der Mittelweg ist der Weg der Integration, der in sich all die scheinbaren Gegensätze, unterschiedlichen Ideen, Brüche, Widersprüchlichkeiten vereint, um dem Menschen, der ihn wählt, zu ermöglichen, aufrecht, stark und klar durch das Leben zu gehen. Auf Yoga bezogen bedeutet das ein Abwägen, Ausjustieren, Destillieren, Katalysieren, um am Ende etwas zu schaffen, das aus der Fülle kommt, aber dann schlicht und einfach auf den Punkt gebracht wird.
Was mich sehr bewegt, ist die Gefahr, dass Menschen in dem noch immer größer werdenden Drang nach deutlich abgegrenzter Individualität, bei dem sie nicht nur ihren Körper in den Griff bekommen sondern auch noch hohe Sozialkompetenz beweisen müssen, zu total überzüchteten, neurotischen Wesen werden. Die Kampfansage gilt nicht nur dem eigenen Körper. Das ganze Verhalten muss superoptimiert sein. Diese Individualisierungsexerzitien werden unter enormem Anpassungsdruck vollzogen und erzeugen Stress und Leid und innere Leere.
Im Spirit Yoga bemühen wir uns um eine für unseren Kulturkreis relevante Unterrichtsgestaltung. Es geht darum, Menschen mit sich und anderen in Resonanz treten zu lassen. Spirit Yoga basiert auf Hatha-Yoga und wurde vom Vinyasa Flow Yoga, dem fließenden Übungsstil, inspiriert. Die Spirit Yoga Lehrmethode trägt aber eine ganz eigene Handschrift. Präzision, Intensität und eine unverkennbare klare Formvorgabe zeichnen diesen von mir entwickelten Stil aus.
In den Vereinigten Staaten geht es beim Vinyasa in erster Linie um den Aspekt, in Bewegung zu sein, etwas Befreiendes, Lösendes zu erfahren, weshalb es sich dort oft betont kreativ und ausschweifend in den Formen gestaltet. Bei allem, das ich mache, und je länger ich es mache, desto mehr versuche ich in dieser säkularen Gesellschaft, in der wir leben, dem Spirit in einem größeren Sinn auf die Spur zu kommen.
Wie können wir in der modernen Welt das Wesentliche ergründen, und wie schaffen wir es, unsere Welt als beseelt zu erleben, ohne in die Honigtöpfe der Esoterik zu tappen? Esoterik ist in der Yogawelt der Fluchtpunkt für die Menschen, die sich solchen Fragen gar nicht erst stellen wollen. Aber müsste man sich nicht vielmehr fragen, wie man bei aller Härte und Konsequenz, die das Leben mit sich bringen kann, wie man trotzdem den Spirit finden und halten kann?
Wissenschaftliche Erklärungen aus dem Bereich der Hirnforschung mögen Yoga zu mehr Validität verhelfen, trotzdem halte ich diese neurowissenschaftliche Annährung, wenn es tatsächlich um die Yoga Übungs-Praxis geht, für überschätzt. Wie das Hirn funktioniert, wird am Ende des Tages niemals erklären, warum es eine Seele gibt. Eine weitere problematische Neukonzeption ist die Smoothie-zubereitende-Happy-Fraktion, die mit großem Sendebewusstsein versucht, das alte indische Konzept popart-mäßig mit Weltverbesserungs-Ideologien aufzuladen /anzureichern, eine Art Neo-Hippie-Kult. Es gibt einen traditionellen Ansatz, den der Bund deutscher Yogalehrer vertritt – ein seriöser und fundierter Ansatz mit guten Argumenten, der aber aus meiner Sicht eher rückwärtsgewandt ist. Der vierte und letzte Ansatz ist der rein fitnessorientierte, ohne gesungenes OM und allein unter dem Aspekt, tolle Muskeln zu bekommen. Selbstoptimierung pur.
Keiner dieser Ansätze erfüllt, was nach meiner Überzeugung Yoga eigentlich vollumfänglich ist und sein kann. Die Leute, die zu Spirit Yoga kommen, suchen etwas, das sie in einer anderen Richtung nicht bekommen: eine Verbindung zu einem größeren Ganzen, über die Anforderungen des Alltags hinaus. Mein »Spirit Yoga« ähnelt der Erfahrung der Liebe. Erst durch den körperlichen Zugang tritt man in diesen beseelten Zustand ein, in dieses Gefühl der Anbindung. Es ist eine Art körperlich erfahrene Offenbarung. Alles, was man darüber sagen und lesen kann, ist nur eine Beschreibung, kann nur eine Einladung sein, die es so plausibel und wünschenswert erscheinen lässt, dass man ihr folgen möchte.
Es geht nicht darum, seine Muskeln zu perfektionieren, sondern darum festzustellen, dass man auch mit Speckrollen oder Gebrechen die Erfahrung machen kann, sich eins zu fühlen mit sich und der Welt, in sich zu ruhen, zu spüren, man ist eine Einheit aus Körper, Seele und Geist. Natürlich geschieht über den Weg der körperlichen Kräftigung erst mal eine Stärkung des Rückgrats. Schon dadurch wird man anders und ist kein Blatt im Wind mehr. Plötzlich spürt man, dass man den weltlichen Themen besser standhalten kann. Man entwickelt Resilienz und stellt sich den Lebensthemen gestärkt. Letztlich ist dann auch Scheitern keine Bedrohung mehr. Yoga gibt mir persönlich die Schubkraft zu sagen, ich kann alles da draußen riskieren, und es ist mir gleichgültig, ob ich mein Gesicht dabei verliere oder wer mich bewertet, weil ich weiß, es gibt ein tragendes Fundament,...