Lieben lernen
An was soll i denn glauben,
außer an das, was i gspür,
wie mei Herzschlag ghörst zu mir,
wie mei Herzschlag ghörst zu mir.
André Heller1
Wir Menschen kommen im Gegensatz zu den meisten Tieren unfertig zur Welt und müssen so ziemlich alles zeitaufwendig lernen (außer unsere Stoffwechselprodukte zu entleeren). Denken wir doch nur daran, wie lange es oft dauert, bis ein Neugeborenes zu trinken erlernt hat! Die Elternratgeber sind voll von Tipps, wie man Babies dazu bringen kann, den Mund zu öffnen – vom sanften Streichen über die Lippen (schon wieder Strokes!) bis zum zart-brutalen Zuhalten der Nase …
Wir alle lernen am Vorbild und durch Übung, und das umso lieber, je bessere Gefühle wir dabei haben. Darauf basiert ja auch das so genannte „Super Learning“ – eine Methode, in der man entspannt, die Beine hochgelagert, unter sanfter Musikberieselung am besten Vokabeln lernt, eben weil dadurch auch die so oft vernachlässigte rechte Gehirnhälfte stimuliert wird … Leider glauben aber noch immer viele Leute, wir würden am besten lernen, wenn wir gedrillt werden, geängstigt, bestraft … und sie glauben das deshalb, weil sie mit diesem Glaubenssatz aufgezogen wurden. Sie haben ihn so eingelernt. Dabei stammt er aus der Zeit der Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht durch Maria Theresia, als aus Lehrermangel vor allem ausgemusterte Militärdiener Unterricht abhielten – eben so, wie sie es gewohnt waren: exerzierend.
Heute wissen wir, dass man unter Stress am schlechtesten lernt und dass große Gefahr besteht, sich vor allem menschlichen Stressoren unkritisch zu unterwerfen und sie später nachzuahmen. So ist auch wissenschaftlich nachgewiesen, dass Menschen, die Gewalt erlebt haben und dazu angehalten wurden, dies als „nicht so arg“ abzuwiegeln, später selbst gleiche Gewalt ausüben, denn „es hat mir ja nicht geschadet“ – obwohl diese Aussage bereits ihre Verrohung beweist. Wer hingegen – ganz im Sinne von Salutogenese – Gewalt als Gewalt wahrgenommen hatte und auf seinen / ihren echten Gefühlen von Demütigung, Schmerz, Verzweiflung beharrt hat, lief später nicht Gefahr, gewalttätig zu werden.
Spiegelungen
Seitdem der Einsatz bildgebender Verfahren ermöglicht, das lebende Gehirn in seinen verschiedenen Aktionen zu beobachten, ist naturwissenschaftlich nachweisbar, wie sich Gefühle übertragen: Jede Beobachtung eines Vorgangs, der in jemand anderem abläuft, kann im Gehirn des Beobachtenden das „Feuern“ von Spiegelneuronen auslösen, und am stärk-sten feuern diese, wenn man jemand imitiert. „Der Vorgang der Spiegelung passiert simultan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken.“, schreibt der Freiburger Universitätsprofessor für Psychoneuroimmunologie, der Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Joachim Bauer. „Von der wahrgenommenen Handlung wird eine interne neuronale Kopie hergestellt, so, als vollzöge der Beobachter die Handlung selbst. Ob er sie wirklich vollzieht, bleibt ihm freigestellt. Wogegen er sich aber nicht wehren kann ist, dass seine in Resonanz versetzten Spiegelneurone das in ihnen gespeicherte Handlungsprogramm in seine innere Vorstellung heben.“2
So erklärt sich, warum wir unwillkürlich – als ohne bewussten Willensakt – zu lächeln beginnen, wenn wir angelächelt werden, oder zu gähnen, oder uns zu kratzen … und so wird auch klar, warum es so wichtig ist, kleinen Kindern schon vom ersten Lebenstag an lächelnd zu begegnen – und warum das manche Menschen nicht können; die nämlich, die dafür mangels solcher Erfahrungen keine entsprechende Neurosignatur entwickeln konnten, weil ihnen diese Resonanz verweigert wurde. Daher ist es so wichtig, darauf zu achten, dass niemand aus dem „Resonanzraum“, der „Welt des Sich-Verstehens“, ausgeschlossen wird, vor allem nicht Kinder. Wir alle müssen „ankommen“ dürfen bei unseren GesprächspartnerInnen und – privaten wie beruflichen – Bezugspersonen, damit wir nicht in einer Art sozialer Nebelwand die Orientierung verlieren. Deswegen ist „Feedback“ so wichtig, und wenn es nur in der Rückmeldung besteht, dass man – zumindest augenblicklich – keine Rückmeldung geben kann oder geben will.
„Die soziale Vernichtung, bei bestimmten Naturvölkern als Voodoo praktiziert, hat in Form des Mobbing ihre moderne Fortsetzung gefunden“, schreibt Joachim Bauer. „Der Blick wird verweigert oder signalisiert Ausgrenzung. Der Gruß wird nicht mehr erwidert. Gesten stoßen auf eiskalte Reaktionslosigkeit. Hier finden Spiegelungen nicht mehr statt. Daran, dass Menschen, die von einer solchen Exkommunikation betroffen sind, meistens krank werden, zeigt sich: Der gemeinsame Bedeutungsraum ist nicht nur eine psychologische Lebensbedingung, sondern wird auch vom Körper registriert, er schlägt sozusagen auf seine Biologie und die medizinische Gesundheit durch.“3
Wer jemand anderem nonverbal die soziale Spiegelung verweigert, macht sich daher einer Gesundheitsschädigung schuldig. (Verbal – also in Sprache, kann hingegen ein „Vertrag“ über Verhaltensregeln und Umgangsformen ausgehandelt werden; sich vertragen bedeutet, Verträge zu erarbeiten, die für beide Konfliktparteien akzeptabel und auch befriedigend – da steckt das Wort Friede drin – sind.) Leider fügen sich viele, die sich einmal geliebt haben (oder zumindest die Chance hatten, einander zu lieben), solche Schäden zu: Eltern ihren Kindern, Partnerpersonen und Eheleute einander, erwachsene Kinder ihren alten Eltern.
Zu den häufigsten Verweigerungsformen von Spiegelungen gehört es, andere in ihrer Geschlechtlichkeit zu missachten. Viele Paarbeziehungen scheitern daran, dass sich die Frau oder der Mann nicht in ihrer Weiblichkeit oder Männlichkeit bestätigt fühlen – beispielsweise, wenn jemand anderem bewundernde Blicke geschenkt oder Komplimente gemacht werden, während man selbst daneben steht und seelisch verhungert. Das beginnt aber oft schon im Kindesalter, wenn etwa kleine Buben als Mädchen angezogen werden oder umgekehrt, Mädchen „wie Buben“ sein sollen (wenn sie es ohne Fremdbestimmung sind – was bedeutet, dass sie die Vorstellungen ihrer Erzieherinnen, wie ein „richtiges“ Mädchen sein soll, verwirren – ist das aber ganz in Ordnung und kein Grund zur Besorgnis!) oder wenn kleinen Buben ihre Gefühle verboten werden, etwa durch „Ein Bub weint nicht!“
Was ist Sexualität?
Sexualität kann unterschiedlich verstanden werden: Bis vor etwa 150 Jahren zählte man dazu vor allem alles, was mit Fortpflanzung zu tun hatte – samt Störungen und Krankheiten des so genannten „Fortpflanzungsapparats“. Dieses Wort zeigt schon, wie „funktionell“ Geschlechtsleben kommuniziert – gepredigt, erklärt, erlaubt oder verboten, kurz mitgeteilt – wurde: Geschlechtsverkehr als reiner Zeugungsakt und daher nur in der Ehe gestattet – alles außerhalb und ohne dieses erklärte Ziel verboten, geächtet, verleugnet, auch polizeilich verfolgt und dennoch vorhanden.
Es blieb Künstlern – Dichtern, Malern, Schauspielern und Bänkelsängern – vorbehalten, diese mit gutem Grund verborgenen Schattenseiten der Doppelmoral aufzuzeigen. Viele wählten dazu den Schutz der Anonymität oder einen Decknamen – denken wir nur an die legendäre „Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne“, der Josefine Mutzenbacher, „von ihr selbst erzählt“, deren Autorenschaft dem renommierten Dichter Felix Salten („Bambi“) zugeschrieben wird.
Wollen wir doch wohlmeinend vermuten, dass unsere Vorfahren meinten, das Abgleiten in unerwünschte sexuelle Bahnen durch Verschweigen verhindern zu können (und nicht, realistischer betrachtet, dass sie ihre eigenen Abwege verheimlichen wollten)! Durch Ignorieren lernt man aber nichts – weder Kompetenz im Umgang mit Problemsituationen, noch ethische Selbstsicherheit, und durch Angstmache lernt man auch nichts. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie uns VolksschülerInnen in den frühen 1950er Jahren in Laa/Thaya ein „Aufklärungsfilm“ gezeigt wurde: in einem Hinterraum des Gasthauses war es, an den Wänden hingen Plakate von „Schütze Bum“-Filmen, der Vorführapparat ratterte und auf der kleinen quadratischen Leinwand sahen wir lumpig gekleidete Frauen an Laternen lehnen und verzweifelte Männer mit abgefressenen Nasen – was das alles sollte, verstanden wir nicht, nur „komisch“ war es, irgendwie eklig und doch auch faszinierend, jedenfalls wurden wir dadurch nicht klüger, nur neugieriger.
Seit Sigmund Freud (1856 – 1939) wird Sexualität nicht mehr als dämonisch-gefährliches, sondern eher als natürlich-positives Triebgeschehen definiert; dieser Aspekt nährt allerdings den „Alltagsmythos“ von der unwiderstehlichen Naturgewalt des Sex. Allerdings nur für Männer! Denn findige Strafverteidiger bedienen sich gerne...