Ein Strand jenseits der Welt
Der nächste Morgen ist in Regenschleier gehüllt, wodurch sich das Aufstehen in besonderer Gelassenheit vollzieht, keine Verpflichtungen, niemand der zum Handeln drängt.
»Bist du dir eigentlich bewusst, dass dieser Urlaub der erste ohne Kinder ist?« frage ich.
»Vermisst du sie?«
»Nein«, war meine zögerliche Antwort. »Ist das schlimm?«
»Ich denke nicht. So ist der Lauf des Lebens und so muss es sein.«
»Werden wir uns jetzt langweilen?« frage ich.
»Ich hoffe doch nicht, wir haben uns vor den Kindern nicht gelangweilt, mit ihnen erst recht nicht und zukünftig bestimmt auch nicht. Wenn es so wäre, dann liegt es an uns und nicht an den Kindern.«
»Da hast du recht«, meine ich.
In früheren Menschenaltern war das Großziehen der Nachkommen die wesentliche Aufgabe im Dasein, die Erhaltung der Art musste gesichert werden. Damit hatte das Leben seinen Sinn erfüllt, Entstehen und Vergehen lagen dicht beieinander. Mit diesem Anspruch ist der Mensch seit Jahrtausenden nicht mehr zufrieden. Er verfolgte neue Ziele, das Instinktive wurde zum Bewussten, was ihn über das Tierreich erhoben hat. Ob er die Fähigkeiten immer sinnvoll eingesetzt hat, ist zweifellos fraglich. Auf jeden Fall bin ich froh, dass uns das Leben eine Zeit nach den Kindern zubilligt und dass unsere Partnerschaft den anspruchsvollen Abschnitt überdauert hat.
Diese Gedanken sind Motivation genug, um bei dem Wetter aufzustehen und an das Frühstück zu denken, was ja in mein Ressort fällt und dessen Umsetzung ich eifrig angehe. Der nächtliche Schlaf hat neben dem Erholungseffekt die Eigenschaft, dass man sich in die Umgebung einfügt. Wie das Neugeborene, das mit dem ersten Kontakt zur Mutter die eigentliche Bindung herstellt, ist es der erste morgendliche Blick, der eine Beziehung zum neuen Ort aufbaut.
Am Vormittag mieten wir zwei Fahrräder an der Rezeption, die wegen des Regenwetters zunächst im Unterstand bleiben, aber immerhin sind wir wieder mobil. Da auf der Insel außer Versorgungsfahrzeugen keine privaten Autos zugelassen sind, ist das Rad das wichtigste Verkehrsmittel. Mit Regenschirm gehen wir eine Runde im Ort und lassen uns zum Mittag auf dem Räucherkutter am Hafen nieder. Warmer Fisch, frisch aus dem Rauch, ist eine besondere Delikatesse. Auf dem Vordeck des Schiffes sind Tische und Bänke montiert, die sich der Schräge der Bootsplanken anpassen. Das Bier steht somit bedrohlich schief im Glas, während eine gewisse Gefahr besteht, dass alles samt Speisen auf den feuchten Tischplatten abrutschen könnte. Das macht das Erlebnis authentischer und wir fühlen uns verbunden mit dem Fischgeruch, dem alten Holz und dem Eisen des Bootes, als wären wir die Fischer selbst, die ihren Fang verzehren. Wer mit sich beschäftigt ist, kommt nicht auf unnütze Gedanken und wer Zeit hat oder sich diese nimmt, kann genießen: das Essen, einen halbwegs trockenen Platz, den Blick aufs Wasser und den Hafen sowie die frische Seeluft. Mehr brauchen wir momentan nicht.
»Ich denke, hier werden wir nochmals Rast machen«, sage ich.
»Oh ja, unbedingt«, meint meine Frau.
Inzwischen hat der Regen aufgehört und wir fahren die Fahrräder erstmals aus. In der Standardausführung sind die Leihräder fast alle gleich, mit Nabenschaltung und in der praktischen Damenausführung, ohne die lästige Querstange der Herrenräder. Wahrscheinlich war der Erfinder dieser Konstruktion der Meinung, dass der richtige »Mann« sein Bein über den Rücken der Pferde schwingt und sich nicht seitlich auf den Sattel setzt. In Ermangelung echter Rosse bewahrt der Drahtesel zumindest die Bewegung des Aufsteigens. Damit wird in unzähligen Urlaubsorten die Männlichkeit untergraben, erneut ein Statussymbol wegrationalisiert, wir armen Männer. Aber so richtig verständlich ist mir das noch nie gewesen, warum Herrenräder den bequemen Aufstieg verwehren und man umständlich das Bein über den Sattel schwingen muss. Da ich bei den ständigen Fotomotiven der Insel sicher häufig absteige, kann ich bei der Damenausführung einfach vom Sitz gleiten und genauso schnell wieder aufsteigen. Das ist vielleicht nicht männlich, dafür aber praktisch. Männlichkeit hin oder her, ich bin mit meiner Ausführung des Fahrrades zufrieden und wir radeln Richtung Enddorn, dem nördlichsten Punkt der Insel. Gleich am Ortsausgang von Kloster gibt es einen kleinen Anstieg und wir müssen kräftig in die Pedale treten. Beim Spaziergang gestern ist uns die Steigung gar nicht aufgefallen.
»Hätten wir doch lieber E-Bikes nehmen sollen?« fragt meine Frau.
»Ach was, wir wollen uns doch auch etwas sportlich betätigen«, entgegne ich. »Schau, jetzt rollt es bis Grieben von allein.«
Nach den einzelnen Häusern des Ortes führt der weitere Weg über Betonplatten, deren Stöße uns ordentlich durchschütteln. Einen reichlichen Kilometern weiter sind wir an der Steilküste, die hier nur wenige Meter hoch ist. Einige Feriengäste wandern am Strand umher, schauend und suchend, vielleicht findet sich ein kleiner Bernstein oder wenigstens ein besonders schöner Stein, eine Muschel, lohnenswertes Strandgut? Den Hiddenseern wird ja ein spezielles Verhältnis zu den Fundsachen am Strand nachgesagt, die man eifrig sammelte. Böse Zungen behaupten, dass man einem Schiffbruch sehr offen gegenüberstand, um in den Besitz angeschwemmter Dinge zu kommen. Aber das ist lange her. Gehalten hat sich die Anekdote von einem, der in den Himmel wollte. Bei Petrus im Himmel waren allerdings gerade alle Plätz belegt und er konnte niemanden aufnehmen. Wer sei denn schon dort, fragte der neue Gast. Petrus meinte, das seien alles Hiddenseer. Darauf hin ruft der Wartende in den Himmel: »Schiff auf dem Strand«, worauf die Hiddenseer aus dem Himmel zum Strand rennen und bei Petrus wieder ausreichend Platz frei ist. Auf den Inseln vor der Küste war das Leben karg und oft beschwerlicher als an Land. Strandgut war eine durchaus relevante wirtschaftliche Einnahmequelle nicht nur auf Hiddensee. Die Inselküste war noch aus einem anderen Grund eine gewinnbringende Gegend. In Zeiten vor der touristischen Entdeckung der Insel hat man zentnerweise Bernstein gefunden. Nach den Herbststürmen waren fast alle Bewohner am Außenstrand zwischen Kloster und Plogshagen beschäftigt, das Baumharz teilweise in faustgroßen Stücken aus der See zu fischen. Hiddensee war die »Bernsteininsel«.
Nachdem wir die Räder abgestellt haben, laufen wir ein wenig am Ufer entlang. Einer der vorangegangenen Besucher hat ein Steinmännchen errichtet. Es unterscheidet sich in seiner Ordnung von dem übrigen Durcheinander aus Steinen, Sand, Holz und Wasser. Ein Strand hat diesbezüglich etwas Magisches und ist in seiner Vielfältigkeit, der vom Meer in endloser Gleichmäßigkeit bearbeiteten Materialien, immer spannend. In unserem Keller zu Hause gibt es noch einige Gläser mit geduldig gesammelten und im Gepäck transportierten Muscheln und Fundstücken aus vergangenen Urlauben, die man in Erwartung eines strengen Geruchs nur ungern wieder öffnet. Finden, sammeln und entdecken entfachen eine Freude, machen aus dem Suchenden einen glücklichen Robinson Crusoe, der den entscheidenden Schatz gefunden hat.
»Ob das Bernstein ist?« fragt meine Frau erwartungsvoll.
»Du musst ihn an der Kleidung reiben. Wenn er dann durch die Aufladung einen Papierschnipsel anzieht, ist er echt.«
»Er ist sicher nicht echt, aber ich will ihn trotzdem mitnehmen.«
Hier am Enddorn wechseln die Kräfte des Meeres. Am Außenstrand nagt das Meer beharrlich an der Insel. Es trägt Material ab, höhlt das Ufer aus und lässt Sand und Steine von der Steilküste abbrechen, die sich am Dornbusch in gewaltiger Höhe über die See erhebt. Vor 10.00012.000 Jahren hat die letzte Eiszeit den Inselkern aus Gestein vom Norden Europas zusammengeschoben. Das begehrte, urgeschichtliche Baumharz, der Bernstein, wurde dabei ebenfalls hierher verfrachtet, ist aber in seiner Entstehung viele Millionen Jahre alt. Vor 5.000 Jahren war der nördliche Teil der Insel, der heutige Dornbusch, etwa doppelt so groß. Jährlich werden ein bis zwei Meter von der Landmasse abgetragen, die sich hier im Norden bis auf reichlich 70 m erhebt. Der Landverlust an der Meeresseite ist nicht nur zum Nachteil der Insel. Viel von diesem weggetragenen Material wird auf der Nordostseite wieder angespült. Die Landzungen des Bessin, die der Insel die Form eines Seepferdchens geben, haben sich erst in den letzten Jahrhunderten gebildet. Der Alt- und Neu-Bessin wuchsen bis zu 30 m und mehr pro Jahr. Der flache Süden, der Gellen, profitiert ebenfalls von den Anspülungen, auch wenn die Landbildung hier nicht so intensiv vonstatten geht.
Auf dem Rückweg wollen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einen Teil des neu entstandenen Landes zu erkunden. Ein Weg führt auf dem Alt-Bessin über dreieinhalb Kilometer bis zu einem kleinen Beobachtungsturm an dessen Südspitze. Mit dem Fahrrad sollte dieses Ziel schnell erreicht sein. Wir...