Effizienz und Strenge
„Da Sie das Grosse Deutsche Sprachdiplom erworben haben und als Lehrperson mit anerkanntem ausländischem Diplom in der Schweiz mit Migrationsfragen bestens vertraut sind, können wir Ihnen mitteilen, dass Sie im Bereich DaZ eingesetzt werden können.“ (E-Mail des Volksschulamtes, 2008)
Diese E-Mail war für meinen professionellen Wandel entscheidend. Bis vor zwei Jahren hatte ich Italienisch an der Oberstufe unterrichtet. Als das Fach jedoch aufgrund des Inkrafttretens der Sparmassnahmen nicht mehr angeboten werden konnte, musste und wollte ich mich beruflich neu orientieren. Der Erwerb des Deutschdiploms war eine Erfolgsgeschichte: Ein paar Monate später hatte ich eine Anstellung als Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache und konnte nachträglich an der Pädagogischen Hochschule in Zürich den DaZ-Zertifikatslehrgang berufsbegleitend absolvieren.
Mit grosser Freude las ich die beglückende E-Mail vom Volksschulamt, dankbar für das Vertrauen, das mir geschenkt wurde und für die unbürokratische Antwort, die ich umgehend erhalten hatte. Nach den Bewerbungen wurde ich an mehreren Schulen zu einem Gespräch eingeladen und entschied mich für meine aktuelle Arbeitsstelle.
Einmal mehr musste ich ein Hoch an die schweizerische Effizienz anbringen und an meine Erfahrungen in Italien denken, wo man immer irgendwelche amtlichen Vorgänge, einen Wettbewerb und selbstverständlich die üblichen Empfehlungen braucht, um an eine Stelle zu gelangen. Wie damals beim Aussenministerium in Rom.
Planmässig angestellte Lehrpersonen haben die Möglichkeit, die italienische Sprache in weiten Teilen der Welt zu unterrichten. Die Arbeit an den italienischen Schulen im Ausland garantiert einen angemessenen, steuerfreien Lohn und die Dienstjahre werden doppelt berechnet. Kein Wunder, dass die ausgeschriebenen Stellen so begehrt sind. Die Rekrutierung des Personals erfolgt durch das Aussenministerium mittels Wettbewerb. Nach meinem Umzug in die Schweiz versuchte ich mich in die Schulen der Winterthurer Umgebung versetzen zu lassen. Blauäugig wie ich war, dachte ich, die Kandidaten würden nach ihrer Qualifikation ausgewählt und bereitete mich sorgfältig für die Prüfung vor.
Erforderlich waren: gute Kenntnisse der Fremdsprache vom Zielland, Vertrautheit mit dem Bilingualismus und der damit verbundenen Problematik, didaktische Erfahrungen. Nach der Zulassung zur mündlichen Prüfung, die sich üblicherweise leichter als die schriftliche erweist, glaubte ich, gute Erfolgschancen zu haben. Ich musste einen Notendurchschnitt von sieben haben und wäre automatisch in der Rangliste der Gewinner aufgenommen worden. Die mündliche Prüfung fing mit einem Gespräch in deutscher Sprache an, das problemlos erfolgte. Das nächste Mitglied der Prüfungskommission war eine unfreundliche Frau, die mich ausschliesslich über die Schulgesetzgebung abfragte, die in keiner Weise auf dem Programm stand. Die Fragen waren etwa, in welchem Jahr ein bestimmtes Gesetz verabschiedet worden sei oder wohin die Lehrperson die Schüler nach dem Unterricht begleiten solle. Lauter Fragen über die italienische Schulordnung, die im Ausland gar nicht gilt.
Meine Unsicherheit in einem Bereich, der sehr nebensächlich war, wurde leider schwer angerechnet, so dass ich die Durchschnittsnote nicht erreichte. Ich war sprachlos und wütend und als ich meinen Unmut den anderen Kandidaten kundtat, vermuteten diese, dass die Gewinner von vornherein bestimmt worden seien.
Für meine erste Anstellung in der Schweiz, an der Oberstufe als Fachlehrperson für Italienisch, hatten hingegen lediglich ein Gespräch und das Vorweisen der Diplome gereicht.
Allerdings fand die lange Besprechung auf Schweizerdeutsch statt: Eine wahre Qual für mich, da ich nach einem dreijährigen Aufenthalt in der Schweiz die Mundart nur knapp verstand.
Der Schulpflegepräsident beharrte darauf Dialekt zu sprechen mit der Begründung, dass ich in der Lage sein müsste, das Schweizerdeutsche der Schüler/innen zu verstehen.
Noch nie zuvor hatte ich mein Hörverstehen-Vermögen derart anstrengen müssen. Ich wurde auf Herz und Nieren geprüft. Irgendwann tauchte sogar die Frage auf, welche militärische Rangstufe mein Mann hätte.
Abgesehen davon, dass ich zwischen Militärdienst und Fremdsprachendidaktik keinen möglichen Zusammen - hang finden konnte, wunderte ich mich, dass das Thema in einem neutralen Land wie der Schweiz eine so zentrale Rolle spielte. Wenn die Prüfungskommission erfahren hätte, dass mein Mann sich kürzlich von den letzten Wiederholungskursen befreien lassen hatte, hätte das ihn, und folglich auch mich, in ein schlechtes Licht gerückt. Ich ging deshalb nicht ins Detail und erwähnte nur die Zugehörigkeit zu seiner Truppe. Als sie mich dann fragten, wie ich mich in der Schweiz fühlte und wie ich Winterthur fände, unterliess ich es zu sagen, dass mir Luzern, wo ich ein halbes Jahr gelebt hatte, viel besser gefiel. Anfänglich ahnte ich nicht, wie tief verwurzelt der Lokalpatriotismus bei den Schweizerinnen und Schweizern ist. Es passierte mir mehr als einmal, dass ich Luzern zu meiner Lieblingsstadt erklärte und dass das nicht gut bei den Winterthurern ankam.
Irgendwie bewegte ich mich die ganze Zeit auf einem Minenfeld und musste jedes Wort auf die Goldwaage legen. Das ganze Gespräch zeugte von einer Härte, die mir unbekannt war. Die Sprachwahl empfand ich als unfreundlich und deren Begründung als sehr schwach: Jede Sekundarschülerin, jeder Sekundarschüler kann sich in der dritten Klasse auf Standarddeutsch ausdrücken und versteht die Sprache problemlos.
Sehr schnell musste ich auch lernen, dass man hier die eigene Schwäche besser überspielt. Am besten sagt man, es sei alles in Ordnung, selbst wenn das Gegenteil stimmt. Meine Arbeitszeit wurde in den Randstunden festgesetzt, da Italienisch als freies Fach galt.
Die erste Lektion montagmorgens kam mir überhaupt nicht gelegen, denn in der Nacht zuvor konnte ich meistens keinen Schlaf finden. Nach einem anstrengenden Wochenendeinsatz als Helferin an den Winterthurer Musikfestwochen kam, ausgerechnet um zwanzig nach sieben, zum ersten Mal der Schulpflegepräsident unangemeldet zu Besuch. Freundlich und aufgestellt fragte er, wie es mir gehe und seine Höflichkeit ermutigte mich dazu ihm zu verraten, dass ich ein bisschen müde sei, da ich am Abend zuvor Gnocchi für etwa zweihundert Personen zubereitet hatte. Daraufhin änderte sich sein Gesichtsausdruck von höflich und lächelnd zu ernst und besorgt: „Ach! Aber ... hoffentlich merken es die Schülerinnen und Schüler nicht!“.
Ein andermal kam er, wie üblich unangemeldet, am ersten Arbeitstag nach beendetem Schwangerschaftsurlaub. Ich war erschöpft, weil meine kleine Tochter mir schlaflose Nächte beschert hatte. Ausserdem hatte sie spätnachmittags Koliken und schrie stundenlang wie am Spiess. Das kostete mich den letzten Nerv und deswegen entschied ich mich, einen Antrag auf einen Monat unbezahlten Urlaub zu stellen.
Mit besorgtem Gesicht fragte er, was mit dem Baby los sei. Offenbar vermutete er eine ernsthafte Krankheit.
Als er von den Koliken und den ruhelosen Nächten hörte, war er recht erstaunt und gab mir zu verstehen, dass diese Umstände nicht Grund genug seien, um zu Hause zu bleiben. Wie konnte er sich in die Lage einer Wöchnerin versetzen, die das erste Kind geboren hat und auf Schlafentzug ist? Die zwölf Wochen Mutterschaftsurlaub waren in meinen Augen eine lächerliche Auszeit, vor allem im Vergleich mit den sieben Monaten, die den Italienerinnen gewährt werden. Diese dürfen ausserdem die Babypause bis zum ersten Lebensjahr des Kindes verlängern, bei achtzig Prozent des Einkommens. Die Frist für den Mutterschutz beginnt sechs Wochen vor der Geburt. Hier arbeiten Frauen nicht selten bis kurz davor, um die zwölf Wochen für die anstrengende Zeit danach aufzusparen.
In einem Artikel des Tages Anzeigers mit dem Titel: «Im internationalen Vergleich hinkt die Schweizer Familienpolitik hinterher»1 fand diese Feststellung Bestätigung.
Mein Selbstbewusstsein sank unter null, je mehr ich mich mit anderen Müttern konfrontierte, die mehrere Kinder hatten. Wie schafften sie das nur?
Mit einer ähnlichen Strenge wurde ich noch mehrere Male in der Schweiz konfrontiert. Zum Beispiel, als ich einmal meinen Schwiegervater zuerst zum Arzt, dann in die Stadt begleiten musste. Die Angelegenheit stellte meine Nerven auf eine harte Probe, weil ich keinen guten Draht zu ihm hatte. Da er sehr langsam war und wir uns beeilen mussten, war ich ziemlich gestresst. Ohne es zu merken, lenkte ich in eine Einbahnstrasse ein.
Da alle Parkplätze leer waren fiel mir nicht auf, dass ich das Auto in die verkehrte Richtung geparkt hatte.
Als wir aus dem Postamt kamen, ging eine Verkehrspolizistin um das Auto herum. Weil ich den richtigen Geldbetrag in die Parkuhr eingeworfen hatte, alarmierte mich ihre Präsenz nicht. Zu Unrecht, wie ich merken sollte. Sie wies mich auf meinen Fehler hin und überreichte mir eine gesalzene Geldbusse, noch bevor ich den Grund dafür richtig verstanden hatte. Überanstrengt, fing ich an zu schluchzen. Es...