GRUNDLAGEN DER
ÄGYPTISCHEN SCHRIFT
«Der höchste aller Berufe …»
Ein ägyptischer Schreiber hatte eine jahrelange Ausbildung hinter sich, während der er mit zahllosen Zeichen, Möglichkeiten der Schreibung und Vokabeln vertraut gemacht wurde. Der Beruf wurde meistens vom Vater auf den Sohn weitergegeben, und oftmals fiel den jungen Schreiberschülern das Stillsitzen und jahrelange Lernen schwer. Es gibt Texte, in denen sich Lehrer bitterlich darüber beklagen, wie leicht sich ihre pubertierenden Schützlinge ablenken ließen und dass sie ganz andere Dinge im Kopf hätten als die Erlernung ihrer Schrift. So erging es auch einem Schüler namens Pepi, für den sein Vater Cheti ungefähr 2000 v. Chr. einen motivierenden Text verfasste, den im alten Ägypten jeder Schreiberschüler bestens kannte. Pepi stand am Beginn seiner Schreiberausbildung, zu der er offenbar wenig Lust verspürte, und Cheti versuchte, ihn durch geschliffene Worte und eine brillante Rhetorik zum Durchhalten zu bewegen: «Er ist doch der höchste aller Berufe, es gibt nicht seinesgleichen auf Erden. Kaum ist er (der Schreiberschüler) herangewachsen – noch ein Kind –, da grüßt man ihn schon.» Dazu setzte Cheti die Vorzüge des Schreiberberufs in Kontrast zu den Mühen und Plagen anderer Berufe: «Der Töpfer ist unter der Erde, obwohl er noch lebt. Er wühlt sich in den Sumpfboden mehr als ein Schwein, um seine Töpfe brennen zu können. Seine Kleidung ist steif von Dung, sein Gürtel nur ein Fetzen. Die (heiße) Luft bläst ihm ins Gesicht, die geradewegs aus seinem Ofen kommt. Er hat sich einen Stampfer an seine Füße gebunden, der Stößel daran ist er selber. Er durchwühlt den Hof eines jeden Hauses, zerstört die öffentlichen Plätze.» Ähnlich kritisch präsentiert Cheti die Berufe Bildhauer, Goldschmied, Metall- und Holzarbeiter, Juwelier, Friseur, Schilfrohrschneider, Maurer, Zimmermann, Gärtner, Bauer, Weber, Pfeilmacher, Bote, Schuster, Wäscher, Vogler und Fischer. Weiter heißt es: «Merke: Es gibt keinen Beruf ohne einen Vorgesetzten, außer dem des Schreibers – der ist der Vorgesetzte. »[7]
Anscheinend traf Cheti mit seinen Ausführungen einen wunden Punkt, den jeder Schüler und nicht nur sein Sohn Pepi zu erleiden hatte: mangelnde Motivation, fehlende Geduld und die nicht unmittelbar greifbare Sinnhaftigkeit jener langen Prozedur der Ausbildung. Die Schreiberlehrer ihrerseits führten die Lehre weiter aus, machten Chetis Text zu ihrem Unterrichtsmaterial und ließen ihn unzählige Generationen angehender Schreiber kopieren, vermutlich auswendig lernen und damit verinnerlichen. Die Lehre des Cheti liegt uns deshalb heute in Hunderten von Kopien vor, die meisten davon stammen aus der Ramessidenzeit (19./20. Dynastie, etwa zwischen 1315 und 1093 v. Chr.).
Dieser äußerst gelungene Werbetext auf den Beruf des Schreibers wird heute öfters mit dem modernen Begriff einer Berufssatire belegt, dabei ist es doch das Glanzlicht einer Motivationsschrift, ein Juwel der PR-Strategie, das nicht darauf abzielt, andere Berufe lächerlich zu machen, sondern den des Schreibers leuchten zu lassen.
Doch der tatsächliche Arbeitsalltag eines Schreibers wich vielfach von den strahlenden Schilderungen des Cheti ab: Die meisten Absolventen kamen in der Verwaltung und in Ämtern unter und mussten dort erkennen, dass – wie heutzutage – das Einkommen der Berufe mit höherer Bildung im pharaonischen Ägypten deutlich unter dem Verdienst von eben jenen Handwerkerberufen lag, die bei Cheti so schlecht wegkamen. Wir wissen, dass ein Schreiber, der beispielsweise in der Verwaltung bei der Errichtung eines Königsgrabes tätig war, rund 30 Prozent weniger verdiente als ein Arbeiter und sogar nur die Hälfte des Lohnes eines Vorarbeiters erhielt.
Vorsichtigen Schätzungen zufolge, denn genau kann man es nicht fassen, konnten rund 3 bis 4 Prozent der ägyptischen Bevölkerung lesen und schreiben – bei einer Population von vermutlich einer Million pharaonenzeitlicher Ägypter waren wohl 30.000 bis 40.000 Menschen in die Geheimnisse der Hieroglyphenschrift eingeweiht.
Die Abbildung ist das Dargestellte
Die Ägypter machten keinen Unterschied zwischen einer Person bzw. einem Gegenstand und der Abbildung davon – sei diese nun gemalt, gemeißelt oder als Skulptur geformt. Original und Abbild waren eins. In prädynastischer Zeit (4. Jahrtausend v. Chr.) befanden sich beispielsweise unter den noch wenigen Grabbeigaben vielfach aus Ton geformte Knoblauchknollen, die die Funktion der Originale übernehmen sollten, was sie in der Vorstellung der Ägypter auch taten.
Durch dieses Verständnis konnten Hieroglyphen an Grabwänden, die tendenziell gefährliche Tiere wie etwa Schlangen zeigten, prinzipiell die Sicherheit eines Grabherrn gefährden. Als man etwa 2370 v. Chr. damit begann, Wände in den Pyramiden mit Texten (den sog. Pyramidentexten, den ältesten religiösen Niederschriften der Welt) zu versehen, wurden vielfach Schlangenzeichen durch kleine Messer unschädlich gemacht, die in ihren Körpern steckten, oder sie wurden bereits zertrennt abgebildet.
Die Ägypter sind in den meisten Bildwerken ästhetisch ansprechende, schlanke, in den besten Jahren gezeigte und keinesfalls gebrechliche Personen. Es war unwesentlich, ob eine Darstellung dem Vorbild ähnelte oder nicht. Wenn sich die Menschen gutaussehend abbilden ließen, dann blieben sie in Ewigkeit so. Man mag hier schmunzelnd eine gewisse Eitelkeit im Zeitalter der Pharaonen feststellen, aber wir Heutigen verhalten uns nicht anders: Wir löschen oder zerreißen Fotos, auf denen wir uns unvorteilhaft getroffen fühlen, oder retuschieren sie und bearbeiten sie mit spezieller Software, bis wir mit dem Ergebnis zufrieden sind.
Aber wie konnte zum Beispiel ein ägyptischer Beamter deutlich machen, dass eine extrem «aufgehübschte» und an sich nicht mehr deckungsgleiche Abbildung ausgerechnet ihn zeigte?
Die Schrift gab dem Werk eine individuelle Identität: Wenn man etwa einer Statue einen Namen einmeißelte, bildete diese Figur eine Wesenseinheit mit dem oder der Abgebildeten und war fortan mit ihm oder ihr identisch. Durch die Inschrift war die Statue, das Relief oder die Zeichnung eines Menschen dieser Mensch. Die gezeigte Szene war real und für alle Zeit wirksam, wenn sie keine Zerstörung erfuhr. Um das Werk noch mehr zu personalisieren, zu individualisieren, konnten weitere eindeutige Kennzeichen wie Titel, Filiationsangaben («Sohn/Tochter des/der …», «geboren von …») oder Spitz-, Ruf- und Kosenamen hinzugefügt werden, um bei häufig vorkommenden Personennamen einer Verwechslung vorzubeugen.
Die Verewigung des Individuellen
Hieroglyphen werden in einem Atemzug mit Pyramiden, Mumien, Pharaonen und dem Nil genannt, wenn man nach charakteristischen Schlagworten zur ägyptischen Kultur fragt. Ohne diese Schrift ständen wir vor bunten Grabwänden mit Figuren, die Menschen zeigen, deren Namen wir nicht kennen und die uns Handlungen präsentieren, die wir nicht deuten können. Ohne Hieroglyphen wäre die ägyptische Kultur schön, faszinierend, bunt – und stumm (Abb. 6).
Schrift vermittelt und unterstützt ein Streben nach Ewigkeit, den Wunsch, in der Zukunft nicht vergessen zu werden. Während private Fotografien heute in der Regel bestenfalls unsere Urenkelgeneration erreichen werden und unsere Namen spätestens in der darauffolgenden Generation in der kollektiven Erinnerung der Familie verblasst sind, schufen die Ägypter ihre Bildwerke mit einer ganz anderen Intention – für die Ewigkeit.
ABB. 6. Ohne Schrift: Eine unfertig gebliebene Grabwand in Luxor, Theben-West
Durch die Niederschrift war der Name dem Vergessen entrissen, der an sich flüchtige Klang fixiert, und durch das Aussprechen des Namens lebte die Erinnerung an den Träger (und damit dieser selbst) fort. Das Niedergeschriebene trat durch die Niederschrift in die Realität, es materialisierte sich, wurde zur Wirklichkeit und dadurch lebendig. Alles, was nicht existieren durfte, wurde auch nicht textlich oder bildlich festgehalten, eben weil es dadurch einen Ewigkeitsaspekt bekam und für alle Zeit gegenwärtig war.
Diese Symbiose von Namen und Abbild bedeutete allerdings auch, dass mit der Zerstörung des Namens oder der Darstellung einer Person diese aufhörte zu existieren – und schlimmer noch: niemals existiert hatte. Entsprach ein Mensch nicht der Weltordnung (Maat) der Ägypter, wurden Darstellungen von ihm spätestens nach seinem Tod beseitigt und sein Name, wo man ihn fand, vernichtet. Dadurch starb dieser Mensch den ewigen Tod, denn wenn die Erinnerung an ihn im Diesseits erlosch, gab es für ihn kein Weiterleben in der Ewigkeit und im Jenseits. Diese Praxis (damnatio memoriae) ist bei Privatpersonen gut belegt und fand zuweilen sogar bei Königen Anwendung. Bestimmte Herrscher haben aus altägyptischer Sicht derart Frevelhaftes getan, dass die Erinnerung an sie nicht weiterleben durfte, weshalb man ihre Bildwerke und ihre Namen...