1. Kapitel
Die Anfänge des modernen Privatrechts im Hochmittelalter
Die Anfänge der Geschichte des modernen Privatrechts im deutschen Sprach- und Kulturraum wie überhaupt in Europa sind im 12. Jahrhundert zu suchen. In seinem kulturellen Umfeld sind jene Fundamente gelegt worden, auf denen die gesamte nachfolgende Entwicklung beruht. Sie finden sich nach heutigem Forschungsstand in einem Vorgang, der als Renaissance der römischen Rechtskultur bezeichnet wird und der für die gesamte geschichtliche Entwicklung des Privatrechts – freilich mit regionalen Unterschieden – maßgebliche Bedeutung erlangt hat. Im Einzelnen ist darunter die Entstehung einer intensiven lehrmäßigen Beschäftigung mit der wichtigsten Quelle des spätrömischen Rechts, der Gesetzgebung des oströmischen Kaisers Justinian (527–565), dem später sog. Corpus iuris civilis, zu verstehen. Sie war Teil der allgemeinen kulturellen Bewegung, die man nach einem Vorschlag des amerikanischen Mediävisten Charles Homer Haskins (1870–1937), des Begründers der amerikanischen Mediävistik, Renaissance des 12. Jahrhunderts genannt hat.
I. Renaissance der römischen Kultur in Oberitalien
Als Kern der Renaissance des 12. Jahrhunderts wird die Rückbesinnung auf das kulturelle Erbe der Antike angesehen und als deren Folge die intensive Beschäftigung mit den Zeugnissen der antiken Literatur und Philosophie im Rahmen des antiken Bildungssystems, ohne dass damit allerdings, anders als bei der Renaissance des Spätmittelalters, eine vollständige Veränderung des Weltbildes verbunden gewesen wäre. Man las die antiken Autoren, beschäftigte sich mit den Dichtungen von Horaz, Vergil, Ovid, aber auch mit Tacitus’ historischen und ethnographischen Werken und studierte Ciceros philosophische Schriften. Zentren des Unterrichts waren Kloster- und Domschulen, in denen die Texte gesammelt, abgeschrieben und im Unterricht verwendet wurden. Es entstand ein geistiges Klima, das zu einer immer stärker werdenden Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition, namentlich der römischen Antike führte und lange vor der Renaissancebewegung des Spätmittelalters die römische Kultur zu neuem Leben erweckte. Politisch beflügelt wurde diese kulturelle Bewegung durch die Idee von der Erneuerung des Römischen Imperiums, der sog. «Renovatio Imperii», die für die deutschen Kaiser seit den Ottonen zum beherrschenden Ziel ihrer Politik geworden war. Zentrum dieser Renaissancebewegung des 12. Jahrhunderts war zunächst Italien, vor allem Oberitalien, später auch Südfrankreich, sämtlich Landschaften, in denen das antike Erbe in besonderem Maße auch visuell gegenwärtig geblieben war.
1. Die Renaissance der römischen Rechtskultur
Erfasst wurden von dieser allgemeinen Bewegung nicht nur Literatur und Philosophie, sondern auch das Römische Recht. Auch hier begann man sich mit dessen Quellen, namentlich dem Corpus iuris civilis, zu beschäftigen. Lange Zeit hat die rechtshistorische Forschung geglaubt, unter der damit verbundenen Renaissance der römischen Rechtskultur eine veritable Wiederbelebung des Corpus iuris civilis erkennen zu können. Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches sei, so sagte man, auch das Corpus iuris civilis vollständig in Vergessenheit geraten und erst im 12. Jahrhundert wiederentdeckt und wiederbelebt worden.
Tatsächlich war es jedoch im Westen zu keinem Zeitpunkt vollständig vergessen, vielmehr nach der Teilung des Römischen Imperiums in ein Oströmisches und ein Weströmisches Reich auch in Westrom geltendes Recht geblieben, dessen Geltung durch einen kaiserlichen Erlass Justinians (527–565), die sog. «Sanctio pragmatica pro Petitione Vigilii», im Jahre 554 n. Chr. ausdrücklich bestätigt worden war. Was allerdings fehlte, war eine intensive lehrmäßige Beschäftigung mit seinem Inhalt, wie sie in den Rechtsschulen im oströmischen Reich, vor allem in Byzanz, aber auch in anderen oströmischen Städten wie Beryt, dem heutigen Beirut, permanent betrieben wurde. Zwar gab es auch im Westen Rechtsschulen, so in Rom und Ravenna, doch ist unklar, in welchem Ausmaß dort ein allgemeiner Rechtsunterricht erteilt wurde. Immerhin dürfte das Fehlen eines intensiven Rechtsunterrichts dazu geführt haben, dass sich die Kenntnis des Corpus iuris civilis auf jene Teile beschränkte, die für die tägliche Rechtspraxis von Bedeutung waren. Von einem Vergessen des Corpus iuris civilis im Ganzen konnte jedoch keine Rede sein.
Das Corpus iuris civilis selbst bestand aus vier Teilen, nämlich den Institutionen, den Digesten, dem Codex und den Novellen, die zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden. Die Institutionen waren vom kaiserlichen Gesetzgeber als eine Art gesetzliches Lehrbuch gedacht, das als verbindliche Grundlage für den Unterricht über den Inhalt des gesamten Gesetzeswerkes dienen sollte. Die Digesten (oder auch Pandekten genannt) enthielten eine Sammlung von Exzerpten aus der gesamten Rechtsliteratur der römischen Juristen und gelten bis heute als das eigentliche Herzstück der justinianischen Gesetzgebung. Die Exzerpte waren von einer von Justinian eingesetzten Gesetzgebungskommission unter Leitung des Rechtsgelehrten Tribonian (475–545) zusammengestellt worden und sollten nach dem Willen des kaiserlichen Gesetzgebers die in den verschiedenen Epochen der römischen Rechtsgeschichte angehäuften Erkenntnisse der römischen Juristen zu einzelnen Rechtsfragen zusammenfassen. Der Codex Justiniani versammelte Exzerpte aus der römischen Kaisergesetzgebung bis zu Justinian, war ebenfalls von der Gesetzgebungskommission angefertigt worden und sollte eine zusammenfassende Darstellung des geltenden kaiserlichen Rechts, wohl hauptsächlich für den Gebrauch in der juristischen Praxis, liefern. Die Novellen, deren amtliche Bezeichnung «Novellae constitutiones» lautete, waren eine Sammlung der nach der Abfassung des Codex verkündeten kaiserlichen Gesetze. Anders als der Codex enthielten sie den vollen Wortlaut und waren ausschließlich für die Verwendung in der täglichen juristischen Praxis bestimmt. Erste Entwürfe des Codex entstanden in den Jahren 528/529, eine endgültige Fassung erhielten Institutionen, Digesten und Codex erst in den Jahren 533/534, die Novellen wurden sogar erst nach Fertigstellung der ersten drei Teile nach 535 publiziert.
Von diesen Teilen blieben im Westen Institutionen und Codex mindestens in ihren Grundzügen bekannt. Soweit überhaupt ein Rechtsunterricht existierte, dürfte er sich auf die Vermittlung von bloßem Elementarwissen aus diesen Teilen beschränkt haben. Einige wenige Zeugnisse, die auf eine solche Vermittlung von Elementarwissen schließen lassen, sind uns für Italien überliefert, so die sog. «Turiner Institutionenglosse» aus dem 9. Jahrhundert und eine Codexhandschrift aus Perugia, die sog. «Summa Perusiana», die beide allerdings nur fragmentarisch erhalten sind. In Südfrankreich beschränkte sich die Kenntnis auf das sog. vorjustinianische Recht, dessen wichtigste Quelle die Aufzeichnung des Römischen Rechts für die gallorömische Bevölkerung des Westgotenreiches, das sog. «Breviarium Alaricianum» des Westgotenkönigs Alarichs II. (484–507), war, das in dieser Region bis in das 12. Jahrhundert Verwendung fand. Ein intensiver Rechtsunterricht über alle Teile des Corpus iuris civilis existierte jedenfalls weder in Italien noch in anderen Teilen des ehemaligen Weströmischen Reiches. Er entstand erst im Zusammenhang mit der allgemeinen Renaissance des 12. Jahrhunderts in Oberitalien und nachfolgend in Südfrankreich.
2. Die Rechtsschule von Bologna
Als Ort des Entstehens eines solchen intensiven Rechtsunterrichts über alle Teile des Corpus iuris civilis wird in der Forschung immer wieder die Stadt Bologna und eine in ihr errichtete Rechtsschule genannt. Es gilt als ausgemacht, dass in dieser zum ersten Mal das gesamte Corpus iuris civilis – freilich nicht auf einmal, sondern nach und nach – zum Gegenstand eines intensiven Rechtsunterrichts gemacht wurde. Als Zeitraum für die Errichtung wird regelmäßig die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts angegeben, ohne dass allerdings ein fixes Datum genannt werden könnte. Jedenfalls beginnt mit dieser Rechtsschule die Renaissance der römischen Rechtskultur in Europa und mit ihr die Geschichte des modernen Privatrechts in Europa und namentlich im deutschen Sprach- und Kulturraum.
Als Initiator des Rechtsunterrichts und als Gründer der Rechtsschule wird in der Forschung ein Gelehrter mit Namen Irnerius (auch Guarnerius, Wernerius) angenommen, von dem außer der Tatsache, dass er den Rechtsunterricht gegründet hat, nur wenig bekannt ist. Es wird vermutet, dass er aus Bologna stammte, den Grad eines Magister artium hatte, zeitweilig als «causidicus», d.h. Rechtsberater, zum Gefolge der Markgräfin Mathilde von Tuscien (gest. 1115) gehörte, und nach deren Tod als Rechtsberater Kaiser Heinrichs V. (1106–1125) tätig war. Von diesem soll er zum «iudex», also zum Richter, ernannt worden sein. Er starb wahrscheinlich um 1130. Als Vorläufer wird vielfach auch ein Gelehrter namens...