II. TEXTE
AUS: „SCIVIAS“ – WISSE DIE WEGE
Vorrede – „Schreibe, was du siehst und hörst!“
Mit dem Hinweis darauf, dass die Verfasserin des „Scivias“- Buches in ihrem dreiundvierzigsten Lebensjahr (1141) einer besonderen Vision teilhaft geworden sei und wie sie diese Schau mit großer Furcht empfangen habe, eröffnet Hildegard von Bingen dieses ihr erstes großes Schriftwerk des spirituellen Schauens. Nach einer Vorrede gliedert sich das Werk in drei Buchteile, die sich mit den drei zentralen Themen der Heilsgeschichte beschäftigen, nämlich: Schöpfung mit Sündenfall, die Erlösung durch Jesus Christus, schließlich die Fülle und das Ende der Zeit. Gemäß der christlichen Zahlensymbolik wird die Offenbarung des dreieinigen Gottes transparent. Prinzipiell gilt der an ihre Leserschaft gerichtete Appell, das zu erkennen, was ihr in den einzelnen Visionen gezeigt und gesagt wird. Das ist die Fähigkeit, die ihr im Laufe der Zeit ebenfalls auf dem visionären Weg in der Gestalt einer spirituellen bzw. symbolischen Bibeldeutung geschenkt worden ist. Und sogleich geht sie in den Bericht ihres Schau-Erlebens hinein, das sie als eine Licht-Erfahrung bezeugt.
Ich sah einen überaus großen Glanz. Eine himmlische Stimme ertönte aus ihm und redete zu mir: „Hinfälliger Mensch, Asche von Asche, Fäulnis von Fäulnis, verkünde und schreib nieder, was du schaust und vernimmst. Aber da du zu furchtsam bist, um zu reden, zu einfältig, um das Geschaute zu deuten, und zu ungebildet, um es zu beschreiben, so verkünde und beschreibe es nicht in der Weise, wie die Menschen reden, nicht so, wie menschlicher Erfindungsgeist erkennt, und nicht so, wie ein Mensch es darlegen wollte, sondern mithilfe der Gabe, die dir in himmlischer Schau geschenkt wird – so, wie du es in Gottes Wundern schaust und vernimmst.“
„So verkünde es wie der, der auf die Worte seines Meisters aufmerksam hört und diese ganz nach Absicht und Willen des Meisters, so wie er es zeigt und anordnet, weitergibt. Du, Mensch, mache es ebenso! Verkünde, was du siehst und hörst, und schreibe es nieder: nicht so, wie es dir oder irgendeinem anderen Menschen gefallen mag, sondern so, wie der es will, der alles weiß, alles sieht und alles in den geheimen Tiefen seiner unerforschlichen Ratschlüsse fügt.“ (Scivias, S. 3)
Die Berichterstatterin sagt, in ihrem Innern habe sie, wie erwähnt, seit ihrem Kindesalter, das heißt etwa seit ihrem fünften Lebensjahr, dergleichen erlebt, sei es innerlich gesehen oder innerlich gehört. Das Geschehen ist, wie sie wiederholt betont, weder durch ein optisches Sehen noch durch ein akustisches Hören zu erklären. Diese Wahrnehmungen seien stets in einem klaren Bewusstseinszustand erfolgt. Da habe sie die Einsichten erlangt, die ihr nicht auf anderem Weg hätten zugänglich werden können. Nach und nach habe sich ihr der „Sinn der Schrift“ erschlossen; dessen spirituelle Bedeutung sei ihr einsichtig geworden. Eine philologische oder schulmäßig theologische Ausbildung hatte sie nicht.
Als ich dem Mädchenalter entwachsen war und die erwähnte Reife erlangt hatte, hörte ich eine Stimme vom Himmel her, die sprach: „Ich bin das lebendige Licht, das alle Dunkelheit erhellt. Hildegard, den Menschen, den ich auserkoren habe, weil es mir so gefiel, und den ich mit Macht in Erschütterung versetzt habe, habe ich mit großen Wundern umgeben, mehr noch als die Menschen in alter Zeit37, denen viele Geheimnisse in mir offenbart wurden. Aber ich streckte ihn zu Boden, damit er nicht durch einen eingebildeten Geist überheblich werde. Die Welt freute und erquickte sich nicht an ihm, sie fand, er tauge nichts für weltliche Angelegenheiten, denn ich habe alle halsstarrige Kühnheit von ihm genommen … Die Spalten seines Herzens habe ich umhegt, damit sein Geist nicht stolz und ruhmsüchtig werde, sondern dass er aus all dem eher Furcht und Pein als Freude und Vergnügen ernte.
So bedachte er38 also aus Liebe zu mir [d.h. Gott] in seiner [Hildegards] Seele, wo er wohl den finden könne, der ihm helfend entgegeneile. Er fand einen39 und liebte ihn im Wissen darum, dass er ein treuer Mensch sei, der sich so wie er selbst um Gottes Auftrag abmühte. Und er hielt fest an ihm. Gemeinsam arbeiteten sie im erhabenen Bestreben, meine [Gottes] verborgenen Wunder bekanntzumachen.
Doch er [d.h. Hildegard] wurde nicht überheblich, sondern wandte sich in der Selbsterhöhung der Demut und im zielstrebigen guten Wollen seufzend dem zu, den er gefunden hat [nämlich Volmar]. – Du also, o Mensch, der du dies alles nicht in verwirrender Täuschung, sondern in einfältiger Reinheit empfängst, bist beauftragt, das Verborgene bekanntzumachen. Darum: Schreibe, was du siehst und hörst!“ (Scivias, S. 4–5)
Was Hildegard auf diese Weise in sich aufnimmt, dem widersetzt sie sich zuerst. Sie weigert sich, etwas aufzuschreiben. Das geschieht, wie sie ausdrücklich hervorhebt,
nicht aus trotzigem Widerstreben, sondern aus dem Gefühl meiner Unzulänglichkeit …, bis die Geißel Gottes mich ins Krankenbett zwang. Erst dann machte ich mich, von den vielen Leiden besiegt, ans Schreiben. Ein Mädchen aus adeligem Hause und wohl gesittet40 und der Mann [Volmar], den ich, wie oben bereits erwähnt, insgeheim gesucht und gefunden hatte, waren meine Zeugen.
Als ich nun anfing zu schreiben und sogleich, wie zu Anfang schon gesagt, spürte, wie die Gabe der Deutung der Schrift nach deren tiefem Sinn in mir am Werk war, kam ich wieder zu Kräften und genas von meiner Krankheit. Nur unter Mühen konnte ich dieses Werk in zehn Jahren schaffen und vollenden. (Scivias, S. 5–6)
Der Lichtherrliche
Nach der Vorrede kommt Hildegard auf die Vision zu sprechen, die auf der zweiten Miniatur des Rupertsbergers Codex als „der Leuchtende“ dargestellt ist. Auf einem großen „eisenfarbenen Berg“ thront er, der Lichtherrliche, ein geflügeltes, mit Augen übersätes Wesen von beträchtlichen Ausmaßen. Weitere Gestalten treten ins Bild. Die Beschauerin ist durch das sich ausbreitende Licht geblendet. Eine apokalyptische Stimmung, die in mancher Hinsicht Szenen der Johannes-Offenbarung im Neuen Testament ähnelt, kommt auf.
Und aus dem, der auf dem Berg saß, sprühten auch viele lebendige Funken, und sie umschwebten die Gestalten mit sanftem Leuchten. Der Berg selbst war mit sehr vielen kleinen Fenstern versehen, und in diesem wurden die – zum Teil bleichen, zum Teil weißen – Häupter von Menschen sichtbar. Und siehe da: Der auf dem Berg saß schrie mit lauter, durchdringender Stimme:
„Hinfälliger Mensch, Staub vom Staub der Erde, Asche von Asche, rufe laut aus, wie man zur Erlösung gelangt, die alles wiederherstellt, damit diejenigen belehrt werden, die den tiefsten Sinn der Schrift zwar kennen, ihn aber dennoch nicht kundtun oder predigen wollen.41 Denn taub sind sie und tun sich schwer, auf die Gerechtigkeit Gottes zu achten. Ihnen mache die verborgenen Geheimnisse bekannt, die sie voller Furcht heimlich im Acker vergraben, ohne dass sie Früchte tragen.42
Brich hervor wie ein sprudelnder Quell und ergieße die geheimnisvolle Kunde, damit durch das Strömen deiner Wasser diejenigen wachgerüttelt werden, die dich [als Frau] verachten aufgrund der Sünde Evas. Denn diese Schärfe des Geistes und diese Tiefe werden dir nicht von einem Menschen zuteil. Sie werden dir vielmehr vom himmlischen, Furcht erregenden Richter von oben gegeben, wo dieses starke Licht in klarer Helligkeit unter den Leuchtenden strahlen wird.43
So steh denn auf und rufe hinaus, was dir kundgetan wird durch die so starke Kraft göttlichen Beistands, denn der, der seine gesamte Schöpfung mächtig und milde lenkt, durchdringt die, die ihm in Hingabe und Liebe und im Geist der Demut dienen, mit dem Licht himmlischer Erleuchtung, und wenn sie beharrlich den Weg der Gerechtigkeit gehen, dann führt er sie den Freuden der ewigen Anschauung entgegen.“ (Scivias, S. 7–8)
Nachdem der Leuchtende mit diesen Worten sich selbst vorgestellt und als ein übermenschliches, in den Kosmos hineinragendes, ihn erfüllendes Wesen kundgetan hat, geht es darum, das zu entschlüsseln, was die Seherin aufgenommen hat. Das besagt die Aufforderung: Erkenne nun, was du siehst! Es handelt sich um eine Weise, die allegorische Aussage zu übersetzen. So fährt sie fort:
Der große, eisenfarbene Berg versinnbildlicht die Stärke und die beständige Dauer des ewigen Reiches Gottes, das durch keinerlei vergängliche Veränderlichkeit angegriffen und zerlöst44 werden kann. Der auf dem Berg in so strahlendem Licht thront, dass die Herrlichkeit deine Augen blendet, versinnbildlicht im Reich der Seligkeit den Herrscher des ganzen Erdkreises im...