AUS DER EINLEITUNG VON
LEONHARD TAFEL
Cassius Dio Cocceianus wurde zu Nikaia in Bithynien in der Nähe des durch seine Fische berühmten Asklepischen Sees um das Jahr 908 seit der Gründung Roms, d.h. um 155 n.Chr. geboren. Den Beinamen Cassius scheint einer seiner Vorfahren von einem Cassius, der ihm das römische Bürgerrecht verschaffte, angenommen zu haben. Sein Vorname ist unbekannt. Dio Cocceianus hieß er nach seinem mütterlichen Großvater Dio Chrysostomus, welcher sich den Beinamen Cocceianus wahrscheinlich zu Ehren des Kaisers Cocceius Nerva beigelegt hatte. Sein Vater Cassius Apronianus, römischer Senator, wurde unter Mark Aurel, vermutlich um das Jahr 163, Statthalter in Kilikien, wohin ihn Dio begleitete, um sich unter ihm nach der Gewohnheit der jungen Römer praktisch auszubilden.
Nach Rom zurückgekehrt, wurde er unter Mark Aurel, oder gleich nach dessen Tod 180 n.Chr. noch vor der Ankunft des Commodus, in den Senat aufgenommen, aber unter Letzterem zu keinen Ehrenstellen befördert. Während der 13 Regierungsjahre desselben brachte er es kaum zur Quästur und zur Ädilität und blieb zu Rom, wo er seinen Freunden in ihren Rechtshändeln beistand und sich wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet zu haben scheint. Als aber Pertinax (geb. 192), der sein Freund war, auf den Thron gelangte, wurde er teils auf andere Weise ausgezeichnet, teils auch zum Prätor für das folgende Jahr designiert. Als nach dessen Ermordung durch die Soldaten Iulianus als Meistbietender den Thron erstanden hatte, hörte er in aller Devotion dessen Rede in der Curia, bestätigte ihn mit seinen Kollegen in der Kaiserwürde und machte ihm, der soeben noch die Leiche seines kaiserlichen Freundes und Gönners verhöhnt hatte, mit jenen seine Aufwartung im Palast, um ihm zur Thronbesteigung Glück zu wünschen. Bald darauf, als ein neuer Herr der Stadt sich nahte, erschien er gleich bereit im Senat und verurteilte den machtlosen Iulianus zum Tode, rief den Severus auf den Thron und beschloss für den ermordeten Pertinax die Verehrung als Held.
Ein neuer Glücksstern schien Dio unter Severus aufzugehen. Seine Schrift über die Träume und Wunderzeichen, welche diesem Hoffnung auf den Kaiserthron gemacht hatte, wurden von dem neuen Kaiser huldvoll aufgenommen, und Dio erhielt in der folgenden Nacht im Traum die göttliche Weisung, Geschichtsschreiber zu werden. Er schrieb die Regierungsgeschichte des Commodus, wozu er schon früher die Materialien gesammelt hatte, während er, selbst in Rom anwesend, Augenzeuge von dessen Untaten war. Er übersandte sie Severus, noch bevor derselbe wider den Gegenkaiser Niger zu Felde zog, und fand eine so günstige Aufnahme, dass er die ganze römische Geschichte zu schreiben beschloss. Als aber Severus nach Besiegung des Albinus den Senat, welchen er einer günstigen Gesinnung für diesen beargwöhnte, hart anging, den Commodus verehrte und seinen Bruder nannte, wurde Dios schriftstellerischer Eifer abgekühlt und musste von der Göttin im Traum durch Verheißung der Unsterblichkeit aufs Neue angefeuert werden. Jetzt sammelte er zehn Jahre lang die Materialien seiner Römergeschichte und verwendete zwölf weitere Jahre auf die Bearbeitung derselben, was nach Reimar so zu verstehen ist, dass sich Dio von 201 bis 211 die historischen Belege verschaffte, wozu er in Rom die beste Gelegenheit hatte, und nach dem Tod Severus’ mit der Bearbeitung des gesammelten Stoffs bis zum Jahr 222 n.Chr., da Alexander Severus zur Regierung gelangte, fortfuhr und im Sinne hatte, das Übrige bis zu seinem Tod nachzuliefern, davon aber, durch Letzteren zu wichtigen Staatsgeschäften und von einer Statthalterschaft in die andere gerufen, Abstand nahm und, zumal von Alter und Krankheit geschwächt, die Geschichte Alexanders und seiner Zeit nur noch oberflächlich berührte.
Was nun seine politische Laufbahn betrifft, so bekleidete er im Jahr der Stadt 947 (194 n.Chr.) unter Severus die Prätur, zu welcher er von Pertinax designiert worden war. Beim Ausbruch des Kriegs zwischen Severus und Albinus gehörte er zu denjenigen Senatoren, welche sich, mit kluger Vorsicht den Ausgang erwartend, öffentlich weder für den einen noch für den anderen entschieden. Dies und Severus’ Sinnesänderung über Commodus waren vielleicht hauptsächlich schuld, dass er von diesem zu keiner Ehrenstelle befördert noch außerhalb Roms verwendet wurde, sondern sich in Muße teils in Rom, teils in Capua seinen historischen Studien widmen konnte.
Nach der Ermordung seines Bruders Geta Alleinherrscher geworden, blieb der tyrannische Caracalla stets der Lehre seines Vaters Severus eingedenk: »Bereichert die Soldaten und verachtet die anderen!« Er schaffte durch jede Art von Bedrückung die zur Befriedigung seiner Soldaten erforderlichen Summen herbei und suchte das Vermögen der angesehenen Senatoren planmäßig zugrunde zu richten. Immer mussten ihn, wie Dio selbst erzählt, wenn er Rom verließ, Senatoren begleiten, und ihm, auf eigene Kosten mitten auf seinen Reisen Häuser, Quartiere und, wo er überwinterte, Amphitheater und Rennbahnen erbauen und Wild zur Jagd herbeitreiben lassen. So musste ihm denn auch Dio, welcher jetzt zum ersten Mal Italien verließ, nebst anderen auf seiner Reise in den Orient folgen, vorgeblich, weil sie dem Kaiser zu den Gerichtssitzungen und zur Beratung nötig wären, in Wirklichkeit aber, um seiner Willkür ihr Vermögen aufzuopfern und den Soldaten und Eunuchen zur Zielscheibe des Spotts zu dienen. In den Winterquartieren in Nikomedia wurden sie, nach Dios eigenem Geständnis, oft vor Tagesanbruch von dem Kaiser zur Gerichtssitzung oder zum Rat berufen und mussten bis Mittag, zuweilen sogar bis zum Abend vor der Tür warten, ohne eingelassen oder begrüßt zu werden, während er wilde Tiere erlegte, im Wagen fuhr, Fechterspiele trieb oder mit den Soldaten Trinkgelage hielt. Auf seinem Zug wider die Parther scheint ihn jedoch Dio nicht begleitet zu haben, sondern irgendwo in Vorderasien zurückgeblieben zu sein, wo ihn dann Macrinus, nach Caracallas Ermordung, zum Statthalter in die unruhigen Städte Smyrna und Pergamus berief. Hier blieb er, bis nach Elagabals Fall Alexander Severus auf den Thron gelangte.
Nach dieser Statthalterschaft begab er sich in seine Vaterstadt Nikaia und erkrankte daselbst. Während seines dortigen Aufenthalts scheint er, vielleicht zur Belohnung seiner Dienste in den beiden Städten, zum ersten Mal zum Konsul ernannt worden zu sein, sein Amt aber, der Krankheit wegen, nicht angetreten zu haben. Aus Asien ging er als Prokonsul nach Afrika und wurde, kaum von da zurückgekehrt, nach Dalmatien, wo auch sein Vater Statthalter gewesen war, abgeschickt und im folgenden Jahr mit der Verwaltung des oberen Pannonien beauftragt. Wegen der Strenge aber, womit er auf Disziplin hielt, missfiel er den Soldaten, sodass bei seiner Rückkehr nach Rom die zügellosen Prätorianer, die Mörder des Hauptmanns der Leibwache, Ulpianus, Gleiches auch von sich befürchtend, seinen Kopf verlangten. Der Kaiser aber nahm ihn in Schutz und ernannte ihn, außer anderen Auszeichnungen, für das nächste Jahr zu seinem Kollegen im Konsulat, indem er die damit verbundenen Kosten aus der eigenen Kasse bestritt. Um ihn der Wut der erbitterten Prätorianer zu entziehen, erlaubte er ihm, die Zeit seines Amtes außerhalb der Stadt in irgendeinem Teil Italiens zuzubringen. Nach Ablauf derselben erschien er wieder ungefährdet in Rom, erbat sich aber, nunmehr im Alter vorgerückt und überdies an einer Fußkrankheit leibend, vom Kaiser die Erlaubnis, sich von den öffentlichen Geschäften in seine Vaterstadt Nikaia zurückziehen zu dürfen, um dort den Rest seiner Tage in Ruhe zu verleben und die letzte Hand an sein Geschichtswerk zu legen, das er denn auch, auf Befehl seines Genius’ mit den homerischen Worten:
Hektor aber entrückt Zeus aus den Geschossen, aus dem Staube, weg aus dem tödlichen Kampf, aus Blut und Schlachtengetümmel!
beendigte.
So viel vom politischen Leben Dios. Dass unser römischer Senator zu lange nach dem letzten echten Römer gelebt hat, um noch einen Funken altrömischen Stolzes in sich zu fühlen, belegt er selbst überall mit bewundernswerter Naivität durch die sprechendsten Beweise; und doch gehörte er, was freilich nicht viel heißen will, noch zum besseren Teil seiner Mitbürger, und trat sogar hin und wieder, wo es ohne eigene Gefahr geschehen konnte, für das Bessere auf. Sobald es aber galt, der eigenen Sicherheit seine Ehre zum Opfer zu bringen, entblödete er sich nicht, sich gegen die verworfensten Ungeheuer zu kriechender Schmeichelei zu erniedrigen und sich unbedenklich zum Werkzeug ihrer Willkür herzugeben. […]
Die Schriften, als deren Verfasser er angeführt wird, sind folgende:
– Das Buch von den Träumen und Wunderzeichen (welche dem Severus Hoffnung auf den Kaiserthron machten)
– Die Geschichte des Commodus (wahrscheinlich später zum Bestandteil der Römischen Geschichte geworden)
– Römische Geschichte (das vorliegende Werk)
– Die...