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Andere psychische Störungen bei Essstörungen
Viele Essstörungsbetroffene weisen auch andere psychische Störungen auf. Diese können vorbestehen, zur gleichen Zeit auftreten, oder sich auch später im Leben manifestieren. Teilweise liegen ähnliche Ursachen vor, entweder im Sinne einer erblichen Disposition, bestimmter Persönlichkeitsfaktoren oder Belastungsfaktoren, die gleichermaßen Ursache sowohl der Essstörung als auch anderer psychischen Störungen sein können. Psychische Störungen können aber auch sekundär als Folge einer Essstörung auftreten.
Im Folgenden ist der wissenschaftliche Kenntnisstand zu anderen psychischen Störungen, die bei Essstörungen häufig auftreten, zusammengefasst.
Abb. 5: Komorbidität bei Patienten mit Anorexia Nervosa, N = 2511 (Schön Klinik Roseneck)
Die Abbildungen 5 und 6 zeigen die Häufigkeiten klinisch gestellter psychiatrischer Diagnosen bei stationär behandelten Patienten mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa.
Abb. 6: Komorbidität bei Patienten mit Bulimia Nervosa, N = 1959 (Schön Klinik Roseneck)
2.1 Affektive Störungen und Essstörungen
Verbindungen von Essstörungen und affektiven Erkrankungen sind bei allen Essstörungen besonders häufig und werden übereinstimmend berichtet (Myers und Wiman, 2014).
2.1.1 Depression und Essstörungen
In der wissenschaftlichen Literatur werden bei Essstörungen Häufigkeiten für eine majore Depression über die gesamte Lebensspanne mit ca. 40% für die Anorexie und mit ca. 50% bei der Bulimie angegeben (Rodgers & Paxton, 2014). In einer Auswertung von Patienten der Schön Klinik Roseneck finden wir sogar noch höhere Häufigkeitsraten. Dies ist dadurch erklärbar, dass bei Patienten, bei denen eine stationäre Behandlung erforderlich ist, im Durchschnitt ein höherer Schweregrad vorliegt als bei einer Gesamtstichprobe an Betroffenen und somit auch die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie begleitend oder auch als Folge an einer weiteren psychischen Störung leiden. Auswertungen des Schweregrades der Depressivität bei Patientinnen mit Magersucht zeigten, dass depressive Symptome etwa so schwer ausgeprägt waren wie bei Betroffenen, die an einer mittelschweren oder schweren depressiven Episode leiden, wobei es durchaus große Unterschiede zwischen den Patienten gab. Die Betroffenen zeigen meist eine Vielzahl von Symptomen einer Depression, die sich aber teilweise auch mit den Symptomen der Essstörung überlappen. Zum Beispiel sind sie niedergeschlagen, gefühllos, leiden an Schlafstörungen, sind gedanklich eingeengt und grübeln viel, sind zurückgezogen, haben wenig Interesse und Freude, weniger Kraft und Energie, ein stark herabgesetztes Selbstwertgefühl und viele andere Symptome. Im Rahmen einer intensiven Behandlung und damit verbundenen Gewichtssteigerung kommt es im Durchschnitt zu einer deutlichen Besserung vieler dieser depressiven Symptome (Voderholzer et al. 2015).
Bezüglich der Erklärung und Hintergründe, warum depressive Symptome so häufig bei Essstörungen auftreten müssen verschiedene Aspekte betrachtet werden.
Essstörungen können auch auf dem Boden bzw. als Folge einer Depression oder emotionalen Instabilität auftreten. Es ist bekannt, dass bei bestimmten Formen von Depressionen, insbesondere sehr schweren Depressionen, der Appetit stark vermindert ist und ein Gewichtsverlust auftritt. Eine starke Gewichtsabnahme muss daher nicht Folge einer Essstörung sein, sondern kann durch eine schwere Depression ausgelöst werden.
Auf der anderen Seite wird Essen auch gezielt genutzt, um Stimmung zu beeinflussen. Dieser Mechanismus spielt bei Essstörungen mit Essanfällen wie der Bulimia nervosa und der Binge-Eating-Störung eine besondere Rolle. Diese Betroffenen neigen dazu, auf negative Gefühle mit Essanfällen zu reagieren, die ihnen kurzfristig helfen, negative Gefühle zu bewältigen und Spannung abzubauen, wenngleich langfristig durch die Folgen der Essstörung noch mehr negative Gefühle hervorgerufen werden (Naumann et al., 2015).
Bei der Binge-Eating-Störung wurde eine Lebenszeitprävalenz für affektive Störungen zwischen 46% und 54% berichtet (Wilfley et al., 2016).
In der wissenschaftlichen Literatur konnte übereinstimmend bestätigt werden, das zwischen Depressivität und ungesundem Ernährungsverhalten, übermäßigem Essen, Essen mit Kontrollverlust sowie Binge-Eating-Verhalten bidirektionale Zusammenhänge bestehen, d. h., Depressivität fördert gestörtes Essverhalten und umgekehrt (Sinclair-McBride & Cole, 2017).
2.1.2 Bipolare Störung und Essstörungen
Patienten mit bipolarer Störung leiden an depressiven und manischen Phasen, die im Wechsel auftreten, wobei depressive Phasen meist häufiger sind.
In einer Untersuchung von McElroy et al. (2016) hatten 27% der Patienten mit bipolarer Störung auch eine zusätzliche Essstörung nach DSM-5-Kriterien, wobei es sich in den meisten Fällen um eine Bulimia Nervosa (15%) oder Binge-Eating-Störung (12%) und nur ganz selten um eine Anorexia Nervosa (0,2%) handelte. Die Wahrscheinlichkeit, bei einer bipolaren Störung eine zusätzliche Essstörung zu entwickeln war bei Frauen in jüngerem Alter größer (McElroy et al., 2016). Bipolare Störungen bei Essstörungen waren gehäuft mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität, Substanzmissbrauch oder Therapieresistenz der Essstörung assoziiert (Campos et al., 2013; Stein et al., 2004). Als Erklärungsansatz der Überschneidungsbereiche zwischen Essstörungen und bipolarer Störung werden gemeinsame genetische Faktoren oder der Gebrauch bestimmter psychotroper Substanzen (z. B. über eine pharmakologisch-induzierte Essstörung) diskutiert (McElroy et al., 2016).
2.2 Persönlichkeitsstörungen und Essstörungen
Persönlichkeitsstörungen sind allgemein häufig bei allen psychischen Erkrankungen und haben, insbesondere bei schweren Persönlichkeitsstörungen, oftmals einen ungünstigen Einfluss auf die Heilungschancen der psychischen Erkrankung. Der Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsfaktoren wie Ängstlichkeit, Unsicherheit und Perfektionismus und der Entwicklung von Essstörungen ist bereits im Kapitel 2.2 beschrieben. In Studien zeigten sich besonders häufig Persönlichkeitsstörungen wie Borderline-Störungen bei Patienten mit Bulimia nervosa sowie Anorexia nervosa vom Purging-Typ (Farstad et al., 2016). Über alle Essstörungen hinweg ergeben sich beispielsweise für die Binge-Eating-/Purging-Symptomatik häufig Assoziationen zu Persönlichkeitsstörungen mit dramatisch-emotionalem Verhalten und erhöhter Impulsivität (Cluster-B-Störungen), während restriktive Verhaltensweisen oder übermäßige körperliche Aktivität eher Zusammenhänge mit Persönlichkeitsstörungen aus dem ängstlich-vermeidenden Formenkreis (Cluster-C-Störungen), insbesondere der zwanghaften Persönlichkeit aufzeigen (Farstad et al., 2016). Mittels einer Übersichtsarbeit von Farstad et al. (2016) konnten Persönlichkeitseigenschaften erkannt werden, die generelle Assoziationen zum Spektrum der Essstörungen aufweisen. Unter Ihnen befanden sich insbesondere erhöhte Werte für Perfektionismus, häufig erkennbar an unrealistisch hohen Erwartungen an die eigene Person, Neurotizismus, Vermeidungsmotivation, Sensitivität für soziale Interaktionen mit Belohnungscharakter, sowie ein niedrigeres Ausmaß an Extraversion (Farstad et al., 2016). Veränderungen hinsichtlich Perfektionismus nach einer Behandlung der Essstörung konnte bei der Mehrzahl der Studien nicht beobachtet werden (Agüera et al., 2012; Cassin & von Ranson, 2005; Segura-García et al., 2013), d. h., Persönlichkeitsfaktoren sind meist sehr stabile Merkmale, die Krankheitsepisoden überdauern.
Studien, die die verschiedenen Essstörungen untereinander verglichen, fanden bei Patienten mit Bulimie höhere Werte für Impulsivität im Vergleich zur Anorexie (Farstad et al., 2016).
Bei Impulsivität handelt es sich um das Auftreten impulsiver Verhaltensweisen beim Erleben sowohl positiver als auch negativer Emotionen extremen Ausmaßes, begleitet von...