Neue Heimat und Gegenwart –
Befreiend, sättigend und fruchtbar
Das Ziel ist noch nicht erreicht. Wir sind auf dem Weg, inmitten der gegenwärtigen, bösen und vergänglichen Welt. „Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin."112 Doch wenngleich der eigentliche Zielpunkt des Evangeliums im ewigen Reich Gottes zu finden ist, das wiederum mit dieser vergänglichen Welt nicht zusammenpasst, verbirgt diese Zukunftshoffnung nicht nur ein unglaubliches Geschenk, das uns am Ende erwartet, es ist bereits heute das größte Geschenk überhaupt. Bisher habe ich im Wesentlichen vom Evangelium an sich gesprochen, nun ist es an der Zeit, mich der gegenwärtigen Macht zu widmen, die in dieser frohen Botschaft liegt.
Gegenwärtige Freiheit dank neuer Heimat
Wie anfangs schon erwähnt, habe ich bereits vor Jahren begonnen, mich mit der Frage zu beschäftigen, wieso Paulus nach seiner Umkehr so leben konnte, wie er es tat. Den Korinthern schrieb er:
„Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne."113
Selbstlos stellte sich Paulus in den Dienst seiner Mitmenschen. Kompromisslos nahm er natürlich seine Aufgabe, die Ausbreitung des Evangeliums, an, aber seine Selbstlosigkeit spiegelte sich darüber hinaus in seinem gesamten Leben und Handeln wieder. In der Auseinandersetzung mit der Thematik des Götzenopferfleischs114 und ob man es essen dürfe, vertrat er zum Beispiel die klare Ansicht, dass es ihn nicht vor Gottes Gericht bringen würde, wenn er es äße, es im Grunde also egal sei, aber dass er, wenn es seinem Bruder schaden würde, um dessentwillen jederzeit darauf verzichten würde. Die Zukunftsperspektive seiner Predigt muss also etwas beinhalten, das unmittelbare Auswirkungen auf sein Leben hatte. Der Gemeinde in Philippi schrieb er:
„Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht."115
Oder in der Apostelgeschichte ist zu lesen, wie Paulus zusammen mit Silas im Gefängnis saß, dabei aber nicht den Kopf in den Sand steckte, sondern Gott zu loben begann. Und als sich den beiden die Chance bot, von dort zu entfliehen, taten sie es nicht, zugunsten des Aufsehers.116 Paulus lebte nicht mehr für sich, machte sich zu jedermanns Knecht, während er andererseits dennoch davon sprach, frei zu sein.
Wie Paulus zu dieser Art der Lebensführung kommen konnte, ist im Grunde doch ganz einfach. Er hatte sich entschieden, seine Heimat zu verlegen, von der vergänglichen Welt ins ewige Reich Gottes:
„Wir aber sind Bürger im Himmel"117.
Paulus wusste um den „Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel"118. In Verbindung mit der Überzeugung, „dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll"119, konnte er im Blick auf sein irdisches Dasein völlige Gelassenheit entwickeln. Und da die Gerechtigkeit vor Gott, die für das himmlische Bürgerrecht erforderlich ist, durch Glaube Gültigkeit erlangt und nicht durch das Befolgen von Geboten, konnte er uneingeschränkt von Freiheit sprechen. Paulus hatte sich schlicht von der Welt befreit, er brauchte sie und das Leben in ihr nicht mehr.
Er begehrte sehr, „den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn"120, er hatte „Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre"121.
Angesichts der unaussprechlichen Herrlichkeit des Reiches Gottes, um deren Hoffnung Paulus stetig kämpfte, sowie seines Wissens um den Zustand der gegenwärtigen Welt, halte ich diese Sichtweise für sehr nachvollziehbar. Wer hält sich schon freiwillig und unnötig lang an einem Ort auf, wenn er die Möglichkeit hat, an einen besseren zu gehen? So sehr Paulus nun aber Lust hatte, diesen Ortswechsel zu vollziehen, war es für ihn sicherlich auch außer Frage, denselben eigenständig vorzunehmen. Als Kind Gottes, mit himmlischem Bürgerrecht, wartend auf eine neue Erde, von derartiger Herrlichkeit, dass man der vorigen nicht mehr gedenken wird, brauchte Paulus die gegenwärtige Welt zwar nicht mehr und hätte sie gerne sofort gen Himmel verlassen, genauso gut konnte er aber auch getrost in ihr weiterleben. Getrost einerseits wegen der Perspektive, getrost andererseits aufgrund des Heiligen Geistes.
„Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn."122
Fern vom Herrn, wandelnd im Glauben, mit dem Geist als Anzahlung. „'Pfand' und ,Anzahlung' sind noch nicht die volle Summe, sondern nur ein kleiner Teil davon; aber sie garantieren uns, daß wir die ganze Summe erhalten werden. Der Geist Gottes in unsern Herzen ist schon ,ewiges Leben', aber nur in seinem ersten Anfang."123
Paulus fand in seinem Glauben an Gott aufgrund des Evangeliums vom Reich Gottes zur Freiheit. In der tiefen Hoffnung auf die Ewigkeit, erfüllt vom Heiligen Geist, relativierte sich für Paulus die Bedeutung dessen, was die gegenwärtige Welt zu bieten hat, nicht nur, sie verschwamm vielmehr vollkommen. „Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum können wir auch nichts hinausbringen"124, so schrieb er im ersten Brief an Timotheus. Seine Hoffnung für seine Zeit in dieser Welt war, „dass frei und offen [...] Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn"125. So gerne er die Welt vorzeitig verlassen hätte, so konsequent stellte er sich in den Dienst seines Herrn:
„Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; [...] es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen."126
„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird."127
In der Versöhnung mit Gott, durch den Glauben, dank dem Herrn Jesus Christus, fand Paulus das, was es in der vergänglichen Welt nur zu finden lohnt, nämlich die Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit. Aufgrund dieser Hoffnung gab es nichts mehr in dieser Welt, das ihn gefangen nehmen konnte, deshalb war er frei. Damit besaß Paulus auch die Freiheit zum Verzicht und konnte sich ganz in den Dienst Gottes stellen, der ihn mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt hatte, zugunsten seiner Mitmenschen auf der Erde.
Die Perspektive der Ewigkeit befreite ihn in der Gegenwart, das ist die Macht der frohen Botschaft. Auch wenn Paulus es, wie er selbst sagte, noch nicht ergriffen hatte und er auch noch nicht vollkommen gewesen sei, entschlossen jagte er dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung, nach.128 Wenngleich er noch nicht am Ziel war und sich auf einer anstrengenden Strecke befand, die ihm keineswegs lieb war, so konnte er doch aus der Zukunftshoffnung heraus, an der er sich festmachte, getrost diese Strecke zurücklegen. Er wusste:
„Ich aber laufe nicht wie ins Ungewisse"129.
Paulus kannte sein Ziel, er machte sich am Evangelium fest, deshalb konnte er seine Zeit im vergänglichen Leib gelassen in Gottes Hand legen und das Leben nehmen wie es kam. Er hatte gelernt, sich genügen zu lassen und konnte sagen:
„[...] ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht."130
Sicherlich war Paulus eine Art Ausnahmeerscheinung. Er durchlebte eine Wandlung vom extremen Judenverfolger hin zum nicht weniger engagierten Boten des Evangeliums, und das auch noch durch die Erfahrung seiner ganz persönlichen Begegnung mit Jesus, der ihn in seinen Dienst stellte. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen halte ich ihn aber für das biblische Paradebeispiel hinsichtlich der verändernden und befreienden Kraft des auf der frohen Botschaft vom kommenden Reich Gottes basierenden Glaubens an Gott. In Bedrängnis wusste er sich getröstet.131 In Traurigkeit war er allezeit fröhlich, als Armer machte er viele reich und obwohl er nichts hatte, hatte er doch alles.132
Paulus war „gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn."133
In Bedrängnissen sah er Positives, denn schließlich bringen Bedrängnisse Geduld,...