Denken
Die Gedanken sind frei – aber werden sie das auch bleiben?
Onur Güntürkün
Immerzu denke ich. Schon oft habe ich versucht, mein Denken zu stoppen, eine Leere in mir zu erzeugen, um dann durch den Vergleich dieser Leere mit meinem alltäglichen Denken mehr über das Gefüge meiner Gedanken zu erfahren. Nie ist es mir gelungen. In der Meditation, so heißt es, gelänge dies nach langem Üben. Ich werde wohl eines Tages das Training des Meditierens auf mich nehmen müssen, um in innerer Leere meinem Denken auf den Grund zu gehen.
Ich beobachte an mir, dass mein Denken ständig seinen Charakter wechselt. Manchmal ist es verwaschen bis zur Unkenntlichkeit; ein dumpfes Chaos von Gedankensplittern und wortlosen Bildern, die sich aneinanderreihen und überlagern. Manchmal, für kurze Momente, bin ich nur Sehen, Fühlen oder Hören. Manchmal springt mein Denken plötzlich auf etwas Neues, und ich weiß nicht, warum. Und zuweilen ist mein Denken kristallklar. Ein luzider Gedanke trägt mich dann für Stunden durch das komplexe Geflecht einer Argumentation und ich erkenne mit Leichtigkeit die innere Struktur des Gegenstandes, an dem ich geistig arbeite. In solchen Zeiten ist Denken ein rauschhaftes Vergnügen.
Als Psychologe und Hirnforscher versuche ich, die neuronalen Grundlagen des Denkens zu verstehen. Für diese Forschung brauchen wir die ganze methodische Bandbreite der kognitiven Neurowissenschaften. In Zellkulturen werden zum Beispiel hybride Kompositionen aus Nervenzellen und Mikrochips gebastelt, um einen momentan noch primitiven biologisch-technischen Dialog mit kleinen Gruppen von Nervenzellen zu führen. In Tierexperimenten lernen verschiedenste Tierarten, von Forschern ertüftelte Aufgaben zu lösen, während man gleichzeitig die Aktivität von Dutzenden ihrer Nervenzellen aufnimmt und versucht, die Teilaufgaben zu entschlüsseln, die die einzelnen Neuronen ausführen.
Diese Experimente offenbaren, dass Neuronen wie kleine Zahnräder einer gewaltigen Maschine funktionieren, indem sie Teilaufgaben eines großen Funktionsgefüges übernehmen. In anderen Versuchen rekonstruieren Wissenschaftler die komplexen Vorgänge im menschlichen Gehirn und schaffen es, einzelne Bausteine des Denkens sowie ihre zugehörigen neuralen Signaturen zu isolieren. In klinischen Studien werden gelähmte Menschen mit Elektroden in oder an ihrem Gehirn ausgestattet, um sie zu befähigen, allein durch die Kraft ihrer Gedanken Rollstühle und Roboterarme zu steuern oder über Schrift mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. All diese Erkenntnisse helfen uns, immer besser zu verstehen, wie Denken, Lernen, Erinnern, Entscheiden und Handeln funktionieren und warum diese Prozesse zuweilen versagen. Die von Neugier getriebene Grundlagenforschung macht dabei die spätere klinische Anwendung erst möglich. Wenn wir die psychologischen und neuralen Signaturen des Denkens entschlüsselt haben, können wir vielen Menschen mit Krankheiten und Behinderungen helfen. Aber können wir dann auch Gedanken lesen? Könnten all diese Erkenntnisse eventuell dazu führen, dass das berührende Volkslied «Die Gedanken sind frei» nur noch mit bitterem Beigeschmack gesungen werden kann, weil wir in unserem Denken gläsern geworden sind?
Nichts ist für die Forschung so wichtig wie eine Theorie, die das Experimentieren leitet und dem Forscher hilft, gewonnene Daten in echte Erkenntnisse umzuwandeln. Die wahrscheinlich fundamentalste Theorie der kognitiven Neurowissenschaft wurde 1949 von dem kanadischen Psychologen Donald Hebb in seinem Buch The Organization of Behavior: A Neuropsychological Theory ausformuliert. Hebb spezifiziert hierbei drei Postulate, die immer noch als Grundmuster der heutigen neurowissenschaftlichen Forschung dienen.
Das erste Postulat besagt, dass Neuronen, die gemeinsam aktiv sind (und somit im Jargon der Neurowissenschaften gemeinsam «feuern»), untereinander effektivere Synapsen entwickeln. Ich will dies an einem Beispiel erläutern. Stellen wir uns vor, dass Sie in eine andere Wohnung umgezogen sind und dort das erste Mal in Ihrer neuen Küche kochen. Während es in der Pfanne brutzelt, beugen Sie sich geschwind nach vorne, um ein Gewürz zu greifen. Ein Teil der Nervenzellen in Ihrem Gehirn verarbeitet gerade die Situation: «Ich stehe vor dem Herd», «Gewürze sind im Bord vor mir», «Ich greife in Richtung der Gewürzdosen» und so weiter. In dem Moment kollidieren Sie schmerzhaft mit der Dunstabzugshaube. Sofort melden sich andere Nervenzellen: «Schmerz an der Stirn», «Dunstabzugshaube hängt tiefer als in der alten Küche» und so fort. Alle in dieser fiktiven Szene aufgeführten Nervenzellen feuern nun für einen kurzen Moment gemeinsam. Dadurch wird die synaptische Bindung zwischen ihnen stärker. Eine stärkere synaptische Bindung führt dazu, dass, wenn Sie das nächste Mal an Ihrem neuen Herd kochen, wieder die Nervenzellen aktiv sind, die ihre jetzige Situation verarbeiten (etwa «Ich stehe vor dem Herd»). Die Aktivierung dieser Neuronen ist aber nun durch die starken synaptischen Kontakte in der Lage, diejenigen Nervenzellen zu aktivieren, die damals die schmerzhafte Kollision verarbeitet haben. Dadurch erinnern Sie sich während des Kochens, wie weh es damals tat und dass Sie ein neues Bewegungsmuster brauchen, um ohne Blessuren Ihr Pfannengut zu würzen.
Das erste Postulat von Donald Hebb (neurons that fire together, wire together) hat sich neurobiologisch als absolut zutreffend erwiesen. So simpel dieses Postulat klingt, so genial ist die vorgeschlagene Lösung für ein grundlegendes Problem der Hirnforschung: Wie organisiert sich das Gehirn selbst und wie integriert es die im Leben gemachten Erfahrungen ohne die Existenz eines übergeordneten Kontrollsystems, das dem Gehirn sagt, wie es das tun soll? Heute wissen wir, dass entsprechend der Hebb’schen Regel Synapsen durch die Korrelation der Aktivität gleichzeitig feuernder Neurone gestärkt werden. Dadurch organisiert sich die Gedächtnisbildung unseres Gehirns durch das gemeinsame Auftreten von Ereignissen, die dann neuronal assoziiert werden.
Für Sie als Leser bedeutet das, dass ich gerade dabei bin, Ihr Gehirn zu verändern. Millionen Neuronen Ihres Nervensystems verarbeiten gerade die Inhalte dieser Seite. Die Synapsen, an denen erfolgreich beide beteiligten Nervenzellen gleichzeitig aktiv sind, durchlaufen daher in diesem Moment eine komplexe Kette molekularer Prozesse, an deren Ende die Stärkung dieser Synapsen steht. Wenn Sie sich morgen noch an diesen Beitrag erinnern, habe ich Ihr Gehirn erfolgreich modifiziert.
Das zweite Hebb’sche Postulat lautet, dass Nervenzellen sich zu flexiblen, kurzfristig gemeinsam feuernden Koalitionen (sogenannte Assemblys) formen, die dann ein Objekt, eine Handlungsintention oder einen Gedanken repräsentieren. Es ist an dieser Stelle wichtig, genau zu definieren, was mit einer neuronalen Koalition gemeint ist. Ein Neuron A kann beispielsweise Teil des Assemblys «Herd» sein, wenige Minuten später im Assembly «Schreibtisch» ebenfalls feuern und kurz danach schweigen, wenn Sie an Ihr Auto denken. Dagegen könnte ein Neuron B eventuell bei «Herd» inaktiv bleiben, aber bei «Schreibtisch» und «Auto» feuern. Sollten Sie aber etwas Neues über Ihren Schreibtisch lernen, können sich die Zusammensetzungen ändern, so dass zum Beispiel Neuron A aufhört, Mitglied dieses Assemblys zu sein. Sollten Sie den Begriff Assembly noch nie in diesem Zusammenhang gehört haben, formt sich eventuell in diesem Augenblick eine neue Konstellation von Nervenzellen in ihrer Hirnrinde, die durch Ihre gemeinsame Aktivität die synaptische Effizienz innerhalb dieser Gruppe erhöht (erstes Hebb’sches Postulat) sowie Assoziationen mit anderen ähnlichen Begriffen etabliert (das heißt mit Assemblys, die schon früher in Ihrem Gehirn entstanden waren).
Jedes Mal, wenn Sie in Zukunft das Wort Assembly hören oder lesen oder wenn Sie über die neuralen Korrelate des Denkens nachdenken, werden Sie genau diese neue Konstellation von Nervenzellen aktivieren. Und wenn Sie bei diesem Nachdenken zu neuen Einsichten kommen, wird auch Ihr Assembly für den Begriff «Assembly» sich in der Zusammensetzung seiner neuronalen Mitglieder verändern.
Es ist wichtig festzuhalten, dass die Neuronen, die ein Assembly bilden, nicht zwangsläufig räumlich benachbart sein müssen. Im Gegenteil, es ist wahrscheinlich, dass sie...