2 Zum Hirntod-Konzept
2.1 Historische Wurzeln
Es darf als etwas wesensmäßig und spezifisch Menschliches betrachtet werden, über Leben und Tod sowie über Geburt und Sterbenmüssen nachdenken zu können ? [93]. Dieser Aspekt wird in besonderer Ausprägung von Martin Heidegger ? [149] in seinem Frühwerk „Sein und Zeit“ ausformuliert, der die Ansicht vertrat, das menschliche Leben sei wesensmäßig ein „Sein zum Tode“. Über diese Sicht ist debattiert worden (z.B. ? [117]). Im Wesentlichen hat das „Faktum Heidegger“ etwas Parabelhaftes in der Kulturgeschichte: Es hat sicherlich seinen Platz in philosophischen Systematiken. Aber es ist weder für die Konzeption noch den Umgang mit dem Hirntod-Konzept wesentlich oder lebenspraktisch.
Zu jeder Epoche gab es Einzelpersönlichkeiten, die ihrer Zeit konzeptionell voraus waren. Stellvertretend werden nachstehend einige Ausführungen zu dem französischen Anatomen und Physiologen, Xavier Bichat (1771–1802), zu dem amerikanischen Neurochirurgen, Harvey Cushing (1869–1939) sowie zu dem dänischen Anästhesisten, Björn Ibsen (1905–2007), erfolgen. Der Leser erkennt: Das Thema Hirntod macht vor keiner Grenze halt – weder vor der eines Kontinents oder eines Fachgebiets noch vor der einer Weltanschauung.
2.1.1 Analogie zur Enthauptung
2.1.1.1 Moses Maimonides (um 1136–1204)
Begonnen sei aber zunächst mit dem jüdischen Gelehrten, Moses Maimonides (um 1136/8–1204; vgl. ? [379]). Auch wenn er vor 8 Jahrhunderten lebte und sein Denken nur schwer mit Themen der heutigen modernen Intensivmedizin in Zusammenhang gebracht werden kann, so lässt sich doch näherungsweise und vorsichtig formulieren, dass er dem Wesen nach bereits im 12.Jh. im Zusammenhang mit Hinrichtungen Detailaspekte der heutigen Problematik ansprach und damit im Grunde bereits diejenigen Kritikpunkte entkräftete, die sich um spinale Reflexe ranken.
Auch wenn der Vergleich mit einer Dekapitation für Angehörige von Intensivpatienten emotional schwierig sein dürfte, so ist doch letztlich die Tatsache, dass ein real Enthaupteter nie wieder ins Leben zurückkehrt, eine jahrtausendealte Binsenweisheit. Denn nach diesem Prinzip werden seit Menschengedenken Hinrichtungen inszeniert. Mit der Enthauptung ist definitiv ein Punkt der Unumkehrbarkeit („point of no return“) überschritten. Auch nach den Darlegungen in der Mishna ist ein Tier nach der Enthauptung sicher tot, die Bewegungen des Restkörpers stehen dieser Ansicht nicht im Wege.
Im Wesentlichen geht es bei den Erwägungen zum Hirntod-Konzept genau um diese einfache Überlegung in Analogie: nämlich ob man in einem intensivmedizinischen Bett einen – vom Nervensystem her betrachtet – funktionell Enthaupteten vor sich hat, der im Gegensatz zu einer realen Enthauptungssituation aber nicht ausgeblutet ist, sondern gut versorgt mit Flüssigkeit und Nährstoffen sowie Sauerstoff vom Beatmungsgerät.
Wenn man diese Analogie zulässt, sollte es nicht allzu schwer sein, etwa eine Alltagsgegebenheit vom Bauernhof auf Endzustände in der heutigen Intensivmedizin zu übertragen. Bereits Johann Kugler ? [198] hatte mit aller gebotenen Pietät gefragt: „Wenn ein Huhn geköpft wird, ist es sicher und unwiderruflich dem Tod übergeben, aber es kann halt noch eine Zeit lang reflektorisch flattern. Zu welchem Zeitpunkt würde man es für tot erklären?“
Vergleichbar mit dieser Gegebenheit ist die Legendenbildung um die Hinrichtungen des Heiligen Dionysos in Paris (um 249 n.Chr.) oder des Seeräubers Klaus Stoertebeker im Hamburger Hafen (vermutlich am 21.10.1401): Dionysos soll nach seiner Enthauptung auf dem Mons martyri(or)um, dem heutigen Montmarte, seinen abgeschlagenen Kopf genommen, ihn in einer Quelle gewaschen haben und dann mit dem Kopf in der Hand noch etwa 6km bis zu jenem Ort gelaufen sein, an dem heute die nach ihm benannte Kathedrale, Saint-Denis, steht; dort sei er zusammengebrochen und dann begraben worden. Stoertebeker soll nach der Enthauptung noch an einer Reihe seiner früheren Kameraden vorbeigegangen sein.
Letztlich besagen Legenden jenseits ihrer kaum glaubhaften Details nichts weniger, als dass Menschen ohne medizinische Vorbildung seit jeher intuitiv imstande waren zu begreifen und mitzuteilen, dass der vollständige, zweifelsfreie und unwiederbringliche Verlust desjenigen Nervensystemanteils, der sich innerhalb des Schädels befindet, unwiderruflich den Tod des Betroffenen bedeutet, dass aber für eine gewisse Zeit noch Nervenfunktionen beobachtbar sein können, die den Charakter eines gehirnunabhängigen Abspulens einfacher Reflexmuster haben. Diese Phänomene sind darauf zurückzuführen, dass noch für kurze Zeit nach einer Enthauptung die Funktionen von Rückenmark, peripheren Nerven und Muskelapparat erhalten sein können – und zwar so lange, bis der Betroffene ausgeblutet ist und die Gewebe des Restkörpers des Enthaupteten nicht mehr über die Adern die zur Funktion erforderlichen Stoffe (wie Sauerstoff und Zucker) erhalten. Dass mit der Feststellung des Hirntodes ein Unumkehrbarkeitspunkt erreicht ist, der im weiteren Verlauf unweigerlich in den der kompletten Desintegration des Gesamtorganismus einmündet, und von dem aus entweder letzteres – der Tod – billigend in Kauf genommen werden darf, oder andererseits – falls es dem Willen des Betroffenen entsprach – straffrei Organe genommen werden dürfen, konzedieren sowohl Hans Jonas (? [173], S. 224) als auch der Deutsche Ethikrat (? [86], S. 70).
An dieser Stelle wird auf eine entwicklungsgeschichtliche Besonderheit hingewiesen (vgl. ? Abb. 1.7). Die Nichtkenntnis dieser Gegebenheit wird von Kritikern gerne dazu verwendet, die Validität des Hirntod-Konzepts insgesamt infrage zu stellen.
Es handelt sich hier um die Hirnanhangdrüse (Hypophyse). Diese Hormondrüse liegt – wenn man es „knöchern“ betrachtet – zwar innerhalb des Schädels in einer Knochenmulde der Schädelbasis, dem Türkensattel (Sella turcica). Andererseits ist dieses erbsengroße Organ als einzige Struktur „innerhalb“ des knöchernen Schädelinneren nicht von Nervenwasser (Liquor) umspült. Die Hypophyse ist zwar von einem Blatt der harten Hirnhaut (Dura) umhüllt, man könnte sagen von demjenigen Blatt, das sonst die Knochenhautfunktion übernimmt. Die Hypophyse ist aber nicht, wie das Zentralnervensystem, von der Spinngewebshaut (Arachnoidea) umhüllt; sie liegt also nicht im intrakraniellen Subarachnoidalraum. Desweiteren ist selbst der komplette Ausfall der Leistung der Hirnanhangdrüse durch Verabreichung entsprechender Hormone zu kompensieren. Es gibt auch einen weiteren, unterscheidenden Aspekt, der den Aufbau der Hypophyse betrifft:
Spätestens seit den Versuchen von Wislocki ? [388] wird der exakte Unterschied im mikroanatomischen Aufbau der Grenze zwischen Gewebe und Adern im Bereich der Hypophyse erforscht: Dort ist physiologischerweise die Blut-Gewebe-Schranke grundsätzlich anders konstruiert als im Zentralnervensystem. Diese Schranke zwischen Adern und Hypophysengewebe ist viel durchlässiger. Ohne eine solche Gegebenheit würde der Transport der in der Hypophyse gebildeten übergeordneten Hormone über den Blutweg nicht funktionieren.
Effektorientiert würde man außerdem – in Analogie zu dem Fall des querschnittgelähmten Schauspielers Christopher Reeve – formulieren dürfen (? Abb. 2.1): Das menschliche Wesen wird im Kern weder durch den kompletten, unwiederbringlichen Ausfall des Rückenmarks noch durch den der Hypophysenfunktion verändert. Letzteres ist seit Morris Simmonds durch den kompletten, immunologisch vermittelten Abbau der Hypophyse im Wochenbett bekannt ? [324]. Damals war das Phänomen unbekannt; die Patientin verstarb. Heute überleben diese Patienten, wenn minimal 3 Hormonachsen durch Medikamentenzufuhr ersetzt werden (Hydrocortison, Thyroxin, Desmopressin).
Abb. 2.1 Verletzung am kraniozervikalen Übergang in Höhe W2/3 – eine Verletzung, wie sie auch Christopher Reeve erlitt.
Abb. 2.1a Röntgenübersichtsbild.
Abb. 2.1b Magnetresonanztomogramm mit Darstellung der Raumforderung gegen das Rückenmark.
Zur Feststellung des Hirntodes muss der vollständige Funktionsausfall der Hirnanhangdrüse nicht belegt werden. In der Regel fällt aber im Hirntod bald die im Wesentlichen vom Hinterlappen der Hypophyse abhängige Regulation des Salz – und Wasserhaushalts aus.
Aus diesem Grunde heißt es in der Anmerkung 4 der Fortschreibung der Richtlinie ? [396]: „Diagnostische Einschränkungen durch Blutdruckschwankungen oder Fieber sind nicht bekannt. Schon während der Entwicklung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls kann, je nach Temperatur von Umgebung und Beatmungsluft, die Körper-Kerntemperatur abfallen. Der Zeitpunkt des Auftretens eines...