II. Hintergrund: Der Zweite Weltkrieg in Ostasien
Wie weit aber müssen wir zurückgehen, um die Zusammenhänge, die in Hiroshima und Nagasaki kulminierten, zu erklären? Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs? Dieser wird in Europa gewöhnlich mit dem 1. September 1939 angegeben, als Hitlers Truppen Polen überfielen. In Fernost ist die Datierung schwieriger. Aus amerikanischer Sicht ist der 7. Dezember 1941 das entscheidende Datum. Am frühen Morgen dieses Tages, dem 8. Dezember japanischer Zeit, griffen japanische Flugzeuge den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor in Hawaii an, wo sie vier Schlachtschiffe der Pazifischen Flotte versenkten, vier weitere Schiffe stark beschädigten und 188 Flugzeuge zerstörten. In der amerikanischen Geschichtsschreibung und mehr noch im Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung ist dieser Tag nicht irgendeiner in einer krisenreichen Zeit, sondern ein Wendepunkt, ein Trauma, ein Symbol für Amerikas Rolle im Zweiten Weltkrieg. Wie präsent dieses Datum im amerikanischen Gedächtnis ist, wurde deutlich, als von US-Politikern und in der amerikanischen Presse unmittelbar nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington Pearl Harbor als Bezugspunkt und Vergleich herangezogen wurde.
Für Amerika definiert Pearl Harbor den Zweiten Weltkrieg wie kein anderes Ereignis und rechtfertigt alles, was folgte, denn der Angriff war heimtückisch, aus heiterem Himmel und unprovoziert, so jedenfalls die allgemeine Erinnerung in Amerika. «Der Wunsch nach Rache (denkt an Pearl Harbor und die japanische Misshandlung von Kriegsgefangenen, forderte Truman) hat wohl auch dazu beigetragen, den Beschluss zum Einsatz der Bombe zu bestätigen», urteilt Barton Bernstein, einer der profiliertesten Historiker auf diesem Gebiet. Pearl Harbor stand und steht in Amerika für infamen Verrat und die gefährliche Aggressivität einer anderen «Rasse» und wurde zur Chiffre für die moralische Legitimität aller amerikanischen Kriegshandlungen.
Für Japan hingegen war Pearl Harbor ein verzweifelter Befreiungsschlag, der in einer Reihe mit anderen Ereignissen stand, die die Rivalität zweier aufstrebender Mächte im pazifischen Raum kennzeichneten. Seit Japans Annexion Taiwans nach dem ersten chinesisch-japanischen Krieg 1895 und Amerikas Sieg im Krieg gegen Spanien und dem darauf folgenden Erwerb der Philippinen 1898 sowie Japans Sieg im russisch-japanischen Krieg 1905 hatten beide Länder potenziell konfligierende Interessen im westlichen Pazifik. Japan war von Importen aus den USA abhängig, insbesondere von Öl und Eisen für die Rüstungsindustrie, einer tragenden Säule seiner expansionistischen Politik. Als Japan seine von den westlichen Mächten als legitim angesehenen Interessen in der Mandschurei nach China und weiter nach Südostasien auszudehnen begann, stieß es auf den Widerstand Washingtons, das seine eigenen Interessen dadurch gefährdet sah. Durch ein seit Sommer 1940 sukzessive verschärftes Wirtschaftsembargo versuchte die amerikanische Regierung Japans Expansion einzudämmen. Als japanische Truppen im Sommer 1941 in Südindochina einfielen, koordinierte Washington das Embargo mit England und Holland, so dass Japan von Öl- und Kautschuklieferungen abgeschnitten war, und unterstützen in China die nationalchinesische Fraktion unter Chiang Kai-Shek im Kampf gegen Japan mit einer Fliegerstaffel. Japan sah sich umringt und in die Enge getrieben.
Unterdessen wurde intensiv aber erfolglos verhandelt, um aus der Sackgasse herauszukommen. Washington verlangte, dass Japan sich nicht nur aus Indochina, sondern auch aus China zurückzöge, während Tokio die Aufhebung des Ölembargos forderte und darauf bestand, dass die USA Japans Vormachtstellungim Fernen Ostenanerkannten. Beide Verhandlungspositionen waren ebenso kompromisslos wie durch schwere Fehleinschätzungen der Gegenseite bestimmt. Washington erwartete, dass Japan nachgeben würde und Tokio unterschätzte den Effekt von Pearl Harbor, der die Amerikaner zu einer opferbereiten und kriegsentschlossenen Nation zusammenschweißte.
Verkompliziert wurde die Lage einerseits dadurch, dass Japan – weniger aus Sympathie für den Faschismus als aus machtpolitischen Gründen – im Herbst 1940 den Dreimächtepakt mit dem Deutschen Reich und Italien und im April des folgenden Jahres einen Neutralitätspakt mit der UdSSR unterzeichnet hatte. Hinzu kam, dass es in Südostasien mit Deutschlands Kriegsgegnern in Konflikt geriet. Schon 1938 hatte Prinz Konoe Fumimaro, der damalige Premierminister, eine Erklärung zu einer «neuen Ordnung in Ostasien» abgegeben, die seither Grundlage der japanischen Außenpolitik war. Sie zielte auf die Errichtung einer von Japan beherrschten «großen ostasiatischen Wohlstandssphäre». Selbst wenn die antikolonialistischen Parolen, die Japan auf seine Fahnen schrieb, weniger altruistisch motiviert waren als dadurch, der japanischen Hegemonie in Ostasien den Weg zu bereiten, war es doch eine Tatsache, dass die Westmächte in China ihre eigenen Interessen verfolgten und ihre asiatischen Kolonien hatten. Dass ihrer Präsenz im Fernen Osten durch Asiaten ein Ende bereitet werden sollte, war für die politischen Führer Großbritanniens, Frankreichs und der Niederlande undenkbar. Der Generalgouverneur von Niederländisch-Indien und Shell-Direktor B. C. de Jonge sagte deutlich, worum es ging: «Wir haben hier dreihundert Jahre mit Peitsche und Knute geherrscht und werden das auch die nächsten dreihundert Jahre tun.»
Retrospektiv ging es im Pazifischen Krieg um die Neuordnung des asiatisch-pazifischen Raums inklusive Chinas und Südostasiens, in dem bis dahin die imperialistischen Mächte das Sagen hatten: Großbritannien in Indien, Burma, Malaysia und Hongkong, Frankreich in Indochina, die Niederlande in Indonesien und die USA auf den Philippinen. Dazu kamen die Marianen, die Karolinen, die Salomonen, die Marshall- und Gilbert-Inseln sowie andere pazifische Inseln, die ebenfalls in der Hand der imperialen Mächte waren.
Müssen wir so weit zurückgehen, um zu verstehen, wie es zum Angriff auf Pearl Harbor und schließlich zum Abwurf der Atombomben kam? Oder vielleicht noch weiter bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als das japanische Inselreich, das fernab vom Weltgeschehen in selbst gewählter Abgeschiedenheit seit zweieinhalb Jahrhunderten mit seinen Nachbarn im Frieden lebte, von amerikanischen Kanonenbooten auf die internationale Bühne gezwungen wurde, wo es den imperialistischen Staaten nacheifernd schnell zu einer Macht wurde, die ihren Forderungen mit militärischen Mitteln Geltung verschaffen konnte? Noch einen Schritt weiter zurück gehen Historiker wie Michio Kitahara, der den Angriff auf Pearl Harbor als Reaktion auf den westlichen Rassismus deutet, mit dem sich Japan seit 1543 konfrontiert sah, als die ersten portugiesischen Missionare ins Land kamen, um den Menschen dort den rechten Glauben und die bessere Lebensweise beizubringen. Der missionarische Geist und der Rassismus gehörten in der westlich dominierten Welt der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Normalität, und die Japaner hatten als einzige nicht-weiße Teilnehmer an der Friedenskonferenz von Versailles die Erfahrung gemacht, dass ihr Vorschlag, in die Satzung des Völkerbunds einen Paragraphen gegen rassistische Diskriminierung aufzunehmen, von den westlichen Mächten abgelehnt wurde.
Dies sind Schlaglichter, die im Hintergrund aufscheinen. Sie verweisen auf die Komplexität der Zusammenhänge und erinnern an die alte Frage, die immer wieder gestellt wird: Wie kann der Mensch die scheinbar blindwütigen Kräfte der Geschichte verstehen und beherrschen? Sie kann an dieser Stelle nicht verfolgt werden. Hier geht es nur um eine Kriegshandlung und darum, welche Gestalt sie dadurch annimmt, dass aus verschiedenen Blickwinkeln von ihr erzählt wird. Und es geht darum zu zeigen, dass nach wie vor um die Legitimität dieser Blickwinkel gekämpft wird, weswegen es noch nach 65 Jahren schwierig ist und vielleicht immer schwieriger wird, dieses Schlüsselereignis des zwanzigsten Jahrhunderts richtig einzuordnen. Mindestens vier Aspekte von Hiroshima verlangen nach Aufmerksamkeit: die technologische Seite, die militärische Seite, die politische Seite und die menschliche Seite.
Die technologische Seite
Das amerikanische Atomprogramm wurde 1939 ins Leben gerufen, nachdem der dänische Physiker Niels Bohr Kollegen in Amerika von bahnbrechenden Experimenten berichtet hatte, die Otto Hahn, Fritz Strassmann und Lise Meitner in Deutschland auf dem Gebiet der Kernspaltung durchgeführt hatten. In der Folge wurden an den Universitäten von Chicago und Kalifornien, Columbia, Princeton und Stanford sowie verschiedenen anderen Einrichtungen atomphysikalische Forschungsprogramme aufgelegt, an denen aus dem faschistischen Europa geflohene Wissenschaftler wie Enrico Fermi und Leó Szilárd federführend beteiligt waren. Nach zögerlichen Anfängen wurden die Arbeiten unter größter Geheimhaltung immer intensiver vorangetrieben und schließlich in dem «Manhattan-Projekt» koordiniert. Die Konstruktion der Bombe wurde einer neuen Forschungsanlage in Los Alamos, New Mexico, unter Leitung von J. Robert Oppenheimer von der Universität von Kalifornien in Berkeley...