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Historische Existenz

Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?

AutorErnst Nolte
VerlagLau-Verlag & Handel KG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl768 Seiten
ISBN9783957681478
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis32,99 EUR
Die Geschichte als Ganzes verstehend zu begreifen - diesem Ziel dient Ernst Noltes großes Buch. Seine bisherige Beschäftigung mit Zeitgeschichte und vor allem mit den modernen Ideologien erhält damit den denkbar größten zeitlichen Rahmen. 'Historische Existenz' meint die Geschichte im Ganzen, nämlich den Zeitabschnitt von etwa 5000 Jahren zwischen der Vorgeschichte und unserer Gegenwart, die der Anfang einer möglicherweise unabsehbar langen 'Nachgeschichte' sein könnte. Eine Begrenztheit der Geschichte ist seit Hegel zum Thema für Historiker und Geschichtsphilosophen geworden. Ernst Nolte nähert sich dieser Frage nicht auf 'universalhistorische' Weise, sondern er analysiert die wichtigsten Kategorien der historischen Existenz wie Religion, Staat, Adel, Krieg und Frieden, Stadt und Land, das Aufbegehren und die Linke, ohne dabei auf erzählende Kapitel zu verzichten. Die 'Nachgeschichte' ist für Nolte indessen keine fraglose Realität, die durch eine klare Grenze von der Geschichte abgetrennt ist. Wenn er in diesem Buch der Geschichte des 20. Jahrhunderts den weitestmöglichen Rahmen zu geben versucht, so bleibt er gleichwohl ein Geschichtsdenker, der sich von den großen Konstruktionen einer 'Geschichtsphilosophie' fernhält. 'Historische Existenz' ist das Opus magnum eines großen Gelehrten und zugleich unentbehrliche Lektüre für alle, die sich für die Geschichte als Ganzes interessieren.

Ernst Nolte ist Historiker und Philosoph. Er war Gymnasiallehrer, promovierte 1952 und habilitierte sich 1964. Von 1965 bis 1973 war er Professor für Neuere Geschichte an der Universität Marburg, von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1991 Professor an der FU Berlin. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte u. a. an der Yale University, am Massachusetts Institue of Technology, am Institue for Advanced Study in Wassenaar, an der Cambridge University und an der Hebrew University in Jerusalem.

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Leseprobe

1Explikation der Frage: Was heißt »historische Existenz«?


Die Frage »Was heißt ›historische Existenz‹?« ist nur dann eine eigenständige, wenn sie nicht mit der Frage »Was heißt ›menschliche Existenz‹?« identisch ist. Nach dem Wesen oder der Natur des Menschen zu fragen, gilt seit langem als eine der vornehmsten Aufgaben der Philosophie, und sie wird heute meist der »Anthropologie« als spezielles Sachgebiet zugeordnet. Es gibt indessen eine weitgehende Übereinstimmung darüber, daß es während des menschlichen Daseins Perioden oder Zustände gegeben hat bzw. in Zukunft geben könnte, die nicht den Charakter der Geschichte oder – wie man manchmal sagt – der »eigentlichen Geschichte« gehabt haben oder haben werden.

In der biblischen Erzählung von den ersten Menschen lebt Adam, von Gott aus Erde geformt und mit dem Lebensatem bedacht, zusammen mit der aus einer Rippe geformten Gefährtin Eva für eine unbestimmte, anscheinend »zeitlose« Zeit im Garten Eden, dem Paradies – offenbar in vollständiger Harmonie mit Gott, der umgebenden Natur und mit sich selbst, denn die beiden Menschen waren nackt, und »sie schämten sich nicht voreinander«. Erst als Eva, von der Schlange verführt, das Gebot des Herrn übertrat und, wie dann auch Adam, eine Frucht vom Baum des Lebens aß, erkannten sie, daß sie nackt waren, so daß sie sich vor Gott und voreinander schämten. Aber zugleich waren sie zur Erkenntnis von Gut und Böse gelangt, und wenn sie deshalb aus der ursprünglichen Harmonie herausfielen, so wuchs ihnen doch gerade dadurch die Möglichkeit zu, daß sie »wurden wie Gott« und ihre Hand auch nach dem »Baum des Lebens« ausstreckten, das heißt, zu unsterblichen Herren der Erde wurden. Um das zu verhindern, vertrieb Gott sie aus der paradiesischen Einheit des Lebens und verurteilte sie dazu, in ständiger Mühsal den »Dornen und Disteln«, einer feindseligen Natur, ihren kärglichen Lebensunterhalt abzuringen. So bekleidete Gott sie mit Röcken aus Fellen und verbannte sie auf die ungastliche Erde, zu deren Staub sie mit ihrem Tode würden zurückkehren müssen.

Damit begann für sie eine fundamental andere Seinsweise, obwohl sie doch auch wieder blieben, was sie waren, nämlich Menschen. Man könnte sagen: Mit der Gabe der Wahlmöglichkeit zwischen dem Guten und dem Bösen, aber auch mit den Lasten der ständig herandrängenden Notwendigkeit von Entscheidungen, mit dem gebrochenen Verhältnis zu der eigenen Natur und dem daraus resultierenden Bewußtsein der Fehlbarkeit oder der Sünde, mit der Unumgänglichkeit ständiger Arbeit und mit der Mühsal der unablässigen Sorge um Kinder und Enkel sei der Mensch aus dem paradiesischen Zustand seines Ursprungs in die Nöte der »geschichtlichen Existenz« eingetreten. Bekanntlich folgte der Vertreibung aus dem Paradies bald der erste Brudermord, und gerade aus der Nachkommenschaft des Mörders Kain gingen die Schmiede und die Flötenspieler hervor, d. h. es entstanden Industrien und Künste.

Aber dieser tiefsinnige Mythos war keineswegs eine Erfindung des »Jahwisten«, dem die Alttestamentler die Kapitel 2, 4b bis 3, 24 der Genesis oder des ersten Buches Moses zuschreiben. Vielmehr finden sich Erzählungen von dem »Goldenen Zeitalter« der Menschheit, das dem »Eisernen Zeitalter« oder, in der Sprache des indischen Mythos, dem »Kali-Zeitalter« der Gegenwart vorhergegangen sei, bei zahlreichen Völkern und in der klassischen Antike zuerst bei Hesiod.

Im 19. und 20. Jahrhundert ist daraus die Entgegensetzung zwischen »Vorgeschichte« und »Geschichte« bzw. zwischen »primitiven« Völkern und »Kulturvölkern« geworden. Als »Vorgeschichte« wird der unvorstellbar lange Zeitraum zwischen den ersten Spuren menschlicher oder mindestens menschenähnlicher Wesen vor über einer Million Jahren bis zur Ablösung des Zeitalters der Sammler und Jäger durch den Übergang zur Seßhaftigkeit und zur Landwirtschaft in der »neolithischen Revolution« oder auch erst durch das Aufkommen von Schrift und »Hochkultur« verstanden. Zu diesem Zeitalter gab es im 19. Jahrhundert an ziemlich vielen Stellen der Erde und gibt es heute noch in ganz versteckten Winkeln Analogien unter »Naturvölkern«, die durchweg durch einen fundamentalen Konservativismus und durch die Ablehnung von »Neuerungen«, zugleich aber durch ein in zivilisierten oder entwickelten Zuständen längst verschwundenes Höchstmaß an »Sozialintegration«, an Gemeinschaftlichkeit, gekennzeichnet sind. Eben diese Geschlossenheit und eben dieses hartnäckige Festhalten an den überlieferten Lebensformen unter Horden, Sippen und allenfalls Stämmen, welche die Wissenschaft der Ethnologie vorfand und beschrieb, darf für die gesamte Vorgeschichte der Menschheit angenommen werden, die ihrer Zeitdauer nach ebensoviel länger währte, als die »eigentliche Geschichte« seit 5000 Jahren bewegter und dynamischer ist.

Zur Veranschaulichung hat man das Bild eines Serpentinenwegs gewählt, dessen unterstes und sichtbarstes Teilstück 25 000 Jahre umfaßt, während die entsprechenden Abschnitte nach oben zu immer kleiner erscheinen, bis sie an der Spitze kaum mehr als die Länge von Millimetern aufweisen.1 Wie sollte es auch anders sein, wenn der scheinbar längste, uns am nächsten liegende Abschnitt bereits tausend Generationen abbildet, während 40 000 Generationen gelebt haben müssen? Man hat auch den Verlauf eines Tages zur Verbildlichung herangezogen, und dann errechnet sich leicht, daß für die ganze Periode der Geschichte vor dem Glockenschlag der Mitternacht nicht einmal eine Minute übrigbleibt, so daß das ungeheure zeitliche Übergewicht der »Vorgeschichte« über die Geschichte anschaulich wird. Aber wenn Sinn und Bedeutung für den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts der Länge bzw. der Kürze dieser Zeiten gerade umgekehrt proportional waren, so daß die Jahrhunderttausende der primitiven Bewegungslosigkeit sich vor der Bewegtheit der Geschichte wie ein ödes Bergmassiv vor einer fruchtbaren Ebene ausnahmen, findet heute eine andere Einschätzung in der Publizistik und sogar in der Wissenschaft Verbreitung: Die Menschen der Vorgeschichte lebten in Harmonie mit ihrer natürlichen Umwelt, welche von der »Megamaschine« der modernen Zivilisation aufs schwerste gefährdet wird, und Ethnologen weisen darauf hin, daß etwa bei heutigen Buschmännern die wöchentliche Arbeitszeit für Männer weniger als 24 Stunden und für Frauen gerade 13 Stunden beträgt, so daß sie nach Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse über weit mehr an freier Zeit verfügen als die hart arbeitenden und sogar in ihrer Freizeit auf vielfältige Weise dem »Streß« unterworfenen modernen Menschen. Und aus einer ganz anderen Weltgegend ist durch die ethnologische Literatur bekannt, daß die Pueblo-Indianer des südlichen Nordamerika imstande sind, etwa die Hälfte ihrer Zeit mit rituellen und religiösen Beschäftigungen zu verbringen. Der Mythos vom »Goldenen Zeitalter« vor der Geschichte scheint also einen rationalen Kern zu enthalten.

Aber auch in der Geschichte und neben der Geschichte gab und gibt es »geschichtslose« oder »ungeschichtliche« Zustände, die denen der »Vorgeschichte« mehr oder weniger entsprechen. So ist der Ausdruck »Geschichtslosigkeit der Fellachen« gebräuchlich, und damit ist jenes Herabsinken von einstigen Höhen der Geschichte gemeint, das zeitgenössische Beobachter schon bei den »Graeculi« der Antike beobachten zu können glaubten; nach dem Durchzug der »Seevölker« um 1200 v. Chr. sanken die einst blühenden und nun zerstörten Gegenden Kleinasiens wieder in die »Geschichtslosigkeit« zurück, und Ähnliches geschah in Griechenland nach der dorischen Wanderung. »Vorgeschichtliches« oder Archaisches erhält sich sogar mitten in der Geschichte: In den prophetischen Verkündungen des Alten Testaments ist immer wieder von »dem beruhigenden Duft für den Herrn« die Rede, der die Folge der Brandopfer sei, und das ist offensichtlich ein Relikt aus ferner Vorzeit, welches sich mit dem vergeistigten Monotheismus der Propheten eigentlich nicht verträgt. Ebenso befremdend ist es für den heutigen Leser, wenn er im 18. Kapitel des ersten Buches Samuel liest, David habe von Saul dessen Tochter Michal zur Frau erhalten, nachdem er »200 Vorhäute von Philistern« gebracht habe. Und ist nicht die moderne Psychoanalyse zum guten Teil eine Lehre vom Fortleben des Archaischen oder Vorgeschichtlichen in der Seele des modernen Menschen?

Schließlich soll Hegel das Wort haben. Er spricht, wie auch Ranke, von den »Völkern eines ewigen Stillstands«, er kennzeichnet das Vordringen der Arier in Indien als »eine dumpfe vorgeschichtliche Ausbreitung«, er nennt die von Kämpfen und Völkerwanderungen bestimmte...

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