Der Bildungsplan für Realschulen des Landes Baden-Württemberg beschreibt als übergeordnetes Ziel des Geschichtsunterrichts das Erkennen des Wertes der demokratischen Grundordnung. Die Schüler erkennen unter anderem „die Notwendigkeit von Macht und Gewalt als legitimes staatliches Gewaltmonopol, und zwar als Mittel zum Erhalt der Demokratie und zur Durchsetzung der Rechtsordnung.“[25] Das Gewaltmonopol eines demokratischen Staates wird in seiner Rechtmäßigkeit vom Gewaltmonopol in diktatorischen Staaten und von „aggressiver Gewalt gegen Menschen“[26] unterschieden.
Die Schüler sollen den Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart erkennen, sie sollen die Realität aus mehreren Perspektiven betrachten und so lernen, auch Minderheiten anzuerkennen. Sie sollen durch den Geschichtsunterricht ein Verantwortungsbewußtsein entwickeln sowie „die Bereitschaft, bei der Gestaltung unserer demokratischen, friedlichen und freiheitlichen Lebensordnung mitzuwirken“[27].
Um diese Ziele zu erreichen, sollen die Schüler die Arbeitsweisen eines Historikers in ihren Grundzügen erlernen. Weiterhin sollen sie sich mit den Fakten der Geschichtsschreibung vertraut machen, sie sollen Geschehnisse in ihren Zusammenhang einordnen können, sie sollen exemplarisch lernen. Ausdrücklich wird erwähnt, daß nicht alle geschichtlichen Themen behandelt werden sollen, was auch gar nicht möglich wäre. Der Schwerpunkt liegt auf der politischen Geschichte, aber auch „Fragestellungen der wirtschaftlichen, rechtlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Entwicklung“[28] sollen behandelt werden. „Die Lebenssituation von Frauen muß in allen geschichtlichen Zeitabschnitten berücksichtigt werden“[29].
Soviel zum Lehrplan für Realschulen. Die Zielsetzungen und Inhalte für die anderen Schularten in Baden-Württemberg unterscheiden sich nicht wesentlich. Doch welche Ziele sind für einen Geschichtsunterricht wirklich relevant, und mit welchen Inhalten und Methoden können sie erreicht werden? Um diese Fragen zu klären, müssen zunächst die Ziele eines zeitgemäßen Geschichtsunterrichts beschrieben werden, um dann seine Inhalte und Methoden auf die Ziele abzustimmen.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß es im Rahmen dieser Arbeit unmöglich erscheint, ein didaktisches Konzept in allen seinen Facetten und unter Berücksichtigung jeglicher Methoden und Medien zu entwickeln. Daher beschränkt sich die vorliegende Konzeption insbesondere im Bereich der Methodik auf einige ausgewählte Aspekte.[30]
Bevor übergeordnete Ziele bestimmt werden, soll hier zunächst kurz auf grundsätzliche Ziele und Fertigkeiten eingegangen werden, die Schüler besitzen müssen, um im Geschichtsunterricht überhaupt etwas lernen und erreichen zu können. Hierbei handelt es sich um Grundkenntnisse der Arbeitsweisen eines Historikers. Hierzu gehören u.a. die Methoden der Quellenanalyse und -interpretation[31], die Arbeit mit Karten, das Umgehen mit historischen Gegenständen. Die jeweilige Fertigkeit in den Arbeitsmethoden hängt stark von der Abstraktionsfähigkeit der Schüler ab, so daß die verschiedenen Methoden im Laufe der Zeit intensiver eingeübt und praktiziert werden können, je älter die Schüler werden. Hierbei ist auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zu achten.
Das Kennenlernen historischer Arbeitsweisen sollte nicht auf abstrakter Ebene erfolgen, sondern am praktischen Beispiel geübt werden. So nähern sich die Schüler gleichzeitig einem zweiten grundlegenden Ziel, der Kenntnis historischer Fakten, Vermutungen und Problemstellungen. Um aus und anhand der Geschichte etwas lernen zu können, muß man zunächst die Geschichte kennen. Dies muß zwar nicht in allen Einzelheiten der Fall sein, doch die groben Zusammenhänge und Prozesse müssen bekannt sein[32]. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, deutlich herauszustellen, daß nicht alle Fakten geklärt sind und auch nicht geklärt werden können, weil die Quellenlage unzureichend ist.
Im Folgenden sollen nun übergeordnetere Lernziele diskutiert werden.
Wenn von Geschichte als Prozeß die Rede ist, läßt sich dies als Theorie einer gesellschaftlichen Entwicklung sehen. Marx und Engels haben in diesem Sinne die „Theorie von den ökonomischen Gesellschaftsformationen“ entwickelt. Ihre Betrachtungsweise „geht von den wirklichen Voraussetzungen aus [...]. Ihre Voraussetzungen sind die Menschen [...] in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen.“[33] Die Entwicklungsstufen beziehen sich auf die „Teilung der Arbeit“ und somit auf „verschiedene Formen des Eigentums; d.h. die jedesmalige Stufe der Teilung der Arbeit bestimmt auch die Verhältnisse der Individuen zueinander in Beziehung auf das Material, Instrument und Produkt der Arbeit.“[34] Marx und Engels entwickeln so eine fünfstufige gesellschaftliche Evolution, an deren Ende der Kommunismus steht. Diese und andere evolutionstheoretische Betrachtungen von Geschichte sind streng genommen „unhaltbar, da vergleichende Studien von Sozialstrukturen gezeigt haben, daß unterschiedliche Entwicklungsniveaus auf sehr verschiedenen Wegen erreicht werden.“[35]
Didaktische Konzeption: Ziele des Geschichtsunterrichts_________________________________________ | |
Weiterentwickelt wurde die Theorie der Gesellschaftsformationen von Habermas, wie Gerda von Staehr beschreibt:
„Habermas versucht, die verhaltens- und interaktionstheoretischen Erklärungen für den gesellschaftlichen Zusammenhang mit der historischen Dimension von der Theorie der Gesellschaftsformationen zu verbinden (Habermas 1976)[36]. Auf die modernen Lerntheorien zurückgreifend, begreift er den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß als einen Lernprozeß, in dem die Menschen in den sich ausdifferenzierenden Lebensbereichen Fähigkeiten, Probleme zu lösen, entwickeln. Fortschritt entsteht aus dem kommunikativen Zusammenwirken der Menschen über Schwierigkeiten. Für die Neuformulierung der Gesellschaftsformationen ist die Organisationsform der jeweils historischen Vergesellschaftung wichtiger, als die Produktionsverhältnisse. Das gesellschaftlich erreichte Abstraktionsniveau der kognitiven Fähigkeiten gilt als Maßstab für die jeweils historisch möglichen Problemlösungen.“[37]
Diese Art der Betrachtung von Geschichte als Prozeß ist allerdings für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I eher irrelevant.
Wichtiger ist, daß die Schüler Geschichte nicht als zufällige Abfolge beliebiger Ereignisse, sondern als zusammenhängenden Prozeß begreifen. Jede Handlung, jedes Ereignis hat Auswirkungen auf die folgenden Ereignisse. So ist die Gegenwart die unmittelbare Folge der historischen Begebenheiten. Der Geschichtsunterricht muß deutlich machen können, daß die historischen Ereignisse nicht aus sich selbst heraus, sondern aus den vorherigen entstanden sind. Auch ist die Geschichte nicht linear, sondern vielmehr komplex, verzweigt und vernetzt. Die Schüler sollen daher lernen, die Geschichte – und auch die Gegenwart – als Ganzes zu sehen, nicht nur Einzelaspekte zu betrachten, sondern immer auch die Zusammenhänge. Dies wird allerdings erst in höheren Klassenstufen ausführlicher möglich sein.
Hier ist insbesondere von einem Gegenwartsbezug der Geschichte die Rede. Das Erkennen der Gegenwart als Folge der Geschichte entspricht dem „allgemeinen Bedürfnis der hier handelnden und leidenden Menschen nach einer zeitlichen Orientierung ihrer Praxis.“[38] Der Geschichtsunterricht soll den Schülern „Informationen über die Entstehungs- und Vorgeschichte gegenwärtiger Probleme“[39] vermitteln und sie so zu einem kritischen Umgang mit ihrer Gegenwart befähigen.
Von politischer Seite wird zurecht befürchtet, „gegenwarts- und zukunftsbezogene Geschichte sei tendenziell funktionalisierte und ideologisierte Geschichte“[40]. Eine Didaktik sollte daher immer selbstkritisch sein und überprüfen, ob sie ideologisch einzuordnen ist, wobei sicher nie vermieden werden kann, daß sich verschiedene politische Einstellungen einschleichen, allerdings darf dies nicht im extremen Maß der Fall sein. Ein gegenwarts- und zukunftsorientierter Geschichtsunterricht wirkt sich auch auf die Inhaltsauswahl aus. Inhalte müssen so gewählt sein, daß ein Bezug zwischen Schülern und dem Inhalt, d.h. zwischen Geschichte und Gegenwart hergestellt werden kann.[41] Dieser Bezug muß nicht in einer Übereinstimmung oder einer direkten Folge der historischen Ereignisse für die Gegenwart bestehen, sondern kann ebenso gegensätzlicher Natur sein.
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