Vorwort
Bis vor wenigen Jahren hatte ich nie daran gedacht, eine Hitler-Biographie zu schreiben. Schließlich gab es eine Reihe aus meiner Sicht hochrangiger Biographien. Als Student hatte ich Alan Bullocks frühes Meisterwerk fasziniert gelesen. Und als 1973 Joachim Fests neue Biographie erschien, las ich sie sofort in einem Zug durch und bewunderte wie alle anderen ihre stilistische Brillanz. Zur Abfassung des vorliegenden Werkes ließ ich mich 1989 erst nach anfänglichem Widerstreben und mit voller Hochachtung vor den Leistungen von Bullock und Fest bewegen.
Und ich zögerte auch, weil Biographien im Rahmen meiner Pläne für künftige Bücher keine Rolle gespielt hatten und ich das Genre eher mit kritischen Augen betrachtete. Seit den Anfängen meiner Laufbahn als Wissenschaftler, zunächst als Mediävist, hatte mich die Sozialgeschichte weit mehr interessiert als die »hohe Politik« oder gar die Lebensgeschichte eines Mannes. Diese Neigungen erhielten Auftrieb, als ich in den siebziger Jahren auf die antibiographischen Strömungen der deutschen Geschichtswissenschaft traf. Beim Wechsel der Fachrichtung, um künftig über das Dritte Reich zu forschen, erregten das Verhalten und die Einstellungen gewöhnlicher Deutscher während jener außerordentlichen Epoche meine Aufmerksamkeit, und nicht Hitler und seine Entourage. In meinen frühen Arbeiten, die aus der Mitwirkung am bahnbrechenden »Bayern-Projekt« erwuchsen und von den Anregungen eines brillanten Mentors, Martin Broszat, ungeheuer profitierten, verfolgte ich diese Interessen, indem ich einerseits die Volksmeinung und den politischen Dissens unter der NS-Herrschaft und andererseits das Image Hitlers in der Bevölkerung untersuchte. Mit der letztgenannten Studie nahm ich eine exponierte Position in der historiographischen Hitler-Debatte ein, die im Deutschland der siebziger Jahre geführt wurde. Gleichwohl blieb ich als Nicht-Deutscher, der sich primär für die Rezeption von Hitlers Image und die Gründe für seine Popularität und weniger für Hitler selbst interessierte, im wesentlichen außerhalb dieser Auseinandersetzungen.
Das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, ließ nach, als ich, immer noch kaum mehr als ein Neuling auf dem Gebiet, 1979 an einer wichtigen Konferenz in Cumberland Lodge bei London teilnahm. Die meisten deutschen Koryphäen nahmen ebenfalls an dem Kongreß teil, der gleichermaßen anschaulich und bestürzend die Gräben offenlegte, die sich zwischen führenden Historikern auftaten, wenn sie die Rolle Adolf Hitlers im NS-System deuteten. Die Erfahrung der Konferenz war mir ein Ansporn, mich noch weiter in die unterschiedlichen Ansätze der deutschen Geschichtswissenschaft zu vertiefen, woraus schließlich eine Überblicksdarstellung hervorging, in der meine Sympathien für die »strukturalistischen« Ansätze zur Deutung der NS-Herrschaft offenkundig waren, die eine Abkehr von der biographischen Beschäftigung mit dem NS-Diktator einleiteten.
Die nicht unwesentliche Ironie einer Hitler-Biographie aus meiner Feder beruht schließlich darauf, daß ich mich dem Genre sozusagen aus der »falschen« Richtung genähert habe. Gleichwohl hat mich die zunehmende Beschäftigung mit den Strukturen der NS-Herrschaft und mit der Kluft zwischen den Interpreten in bezug auf Hitlers eigene Stellung innerhalb dieses Systems, wenn man es überhaupt »System« nennen will, unweigerlich dazu geführt, vermehrt über den Mann nachzudenken, der der unverzichtbare Dreh- und Angelpunkt sowie die Inspirationsquelle der Ereignisse war: Hitler selbst. Schließlich drängte sich mir die Überlegung auf, ob es nicht möglich sei, die auffallende Polarisierung der Ansätze zu überwinden und sie in einer Hitler-Biographie aus der Feder eines »strukturalistischen« Historikers zu integrieren, der dem Genre Biographie mit einem kritischen Blick begegnet. Instinktiv ist er vielleicht bestrebt, bei komplexen historischen Prozessen die Rolle des Individuums, wie wirkungsmächtig es auch sei, eher abzuwerten als zu überhöhen.
Die folgende Arbeit unternimmt auf dem Wege einer Hitler-Biographie den Versuch, personale und strukturelle Elemente im Entwicklungsprozeß einer der wichtigsten Epochen der Menschheitsgeschichte zu verbinden. Während der Abfassung des Buches hat mich nach wie vor weniger der merkwürdige Charakter des Mannes interessiert, der zwischen 1933 und 1945 das Schicksal Deutschlands in seinen Händen hielt, als die Frage, wie Hitler möglich war: nicht nur, wie dieser für ein hohes Staatsamt anfänglich untaugliche Anwärter die Macht erlangte, sondern auch, wie er diese Macht ausdehnte, bis sie absolut wurde, bis Feldmarschälle bereit waren, die Befehle eines ehemaligen Gefreiten zu befolgen, ohne Fragen zu stellen, bis hoch qualifizierte »Profis« und kluge Köpfe aus allen Milieus sich bereit fanden, unkritisch einem Autodidakten zu gehorchen, dessen einzige unumstrittene Begabung darin bestand, die niedrigen Empfindungen der Massen aufzupeitschen. Wenn eine befriedigende Antwort auf diese Frage nicht aus den gegebenen Charaktereigenschaften Hitlers hervorgeht, dann muß man sie vornehmlich in der deutschen Gesellschaft suchen – in den sozialen und politischen Motivationen, die Hitler möglich gemacht haben. Es ist das Ziel meiner Studie, diese Motivationen freizulegen und sie mit Hitlers persönlichem Beitrag zur Erringung und Ausdehnung der Macht, bis er das Schicksal von Millionen bestimmen konnte, in einer Darstellung zu verknüpfen.
Wenn ich ein Konzept nennen soll, das mir mehr als jedes andere geholfen hat, beim Schreiben den Gegensatz des biographischen und sozialgeschichtlichen Ansatzes aufzulösen, dann ist dies Max Webers Begriff der »charismatischen Herrschaft« – ein Begriff, der zur Erklärung dieser außergewöhnlichen Form politischer Herrschaft primär auf diejenigen blickt, die das »Charisma« wahrnehmen, das heißt, auf die Gesellschaft und nicht in erster Linie auf die Persönlichkeit als dem Gegenstand ihrer Verherrlichung.
So kühn das Vorhaben einer neuen Hitler-Biographie auch sein mag, die ungeheure Menge an erstklassigen Publikationen zu praktisch allen Gesichtspunkten des Dritten Reiches, seitdem Joachim Fest oder gar Alan Blullock ihre bedeutenden Arbeiten schrieben, hat mich sowohl noch mehr ermutigt als auch, wie einzuräumen ist, etwas entmutigt oder sogar bestürzt. Im Rückblick überrascht zum Beispiel, welch geringe Bedeutung der antijüdischen Politik und der Entstehung der »Endlösung« in diesen frühen Biographien beigemessen wurde. Die Schwierigkeiten, Hitlers eigene oft schattenhafte Rolle auf dem »gewundenen Weg nach Auschwitz« genau zu bestimmen, gehören natürlich zu den Gründen für dieses Defizit. Doch die wichtigen Fortschritte, welche die Forschung auf diesem Gebiet erzielt hat, machen es sowohl erforderlich als auch möglich, hier Abhilfe zu schaffen, also die Arbeit fortzusetzen, zu der kürzlich Marlis Steinerts Biographie einen ersten Beitrag lieferte.
Eine neue Biographie scheint nicht nur wegen des Ausmaßes an Sekundärliteratur geboten, sondern auch auf Grund der nunmehr verfügbaren Quellentexte zu Hitler. Die großartige vielbändige Ausgabe von Hitlers Reden und Schriften seit der Neugründung der Partei im Jahr 1925 bis zu seiner Ernennung zum Reichskanzler im Jahr 1933 erschließt der Wissenschaft einen wichtigen Quellenbestand. Dank ihr ist es heute möglich, im Verbund mit der ebenso exzellenten Edition von Hitlers Reden und Schriften bis 1924 für die gesamte Zeit, bevor er die Macht übernahm, die Entwicklung seiner Ideen, wie er sie öffentlich zum Ausdruck brachte, zu betrachten. Eine zweite unverzichtbare Quelle, die jetzt zum ersten Mal einer Hitler-Biographie vollständig zur Verfügung steht, sind die Tagebücher des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, die auf Glasplatten (einer Frühform der Photokopie) im früher unzugänglichen Moskauer Staatsarchiv bewahrt wurden und erst vor kurzem ans Licht der Öffentlichkeit getreten sind. Trotz der Vorsicht, die die von Goebbels regelmäßig wiedergegebenen Bemerkungen Hitlers natürlich in einem Text gebieten, den der Propagandaminister, die spätere Veröffentlichung im Auge, zur Selbstverherrlichung schrieb und um sich einen Platz ganz oben im Pantheon der NS-Helden zu sichern, werden die Kommentare durch ihre Unmittelbarkeit und Dichte zu einer wichtigen Quelle, um Einsichten in Hitlers Denken und Handeln zu gewinnen.
Eine vermeintliche Quelle, die über Jahrzehnte als authentischer Wegweiser für Hitlers Gedanken und Pläne genutzt und allen voran von Bullock und von Fest ausgeschöpft wurde, ist auf der Strecke geblieben. Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«, ein Werk, dem man heute so wenig Authentizität zumißt, daß man es besser ganz außer acht läßt, habe ich an keiner Stelle zitiert. Auch andere Quellen, insbesondere Memoiren und sogar die »Monologe im Führerhauptquartier« der letzten Monate (die sogenannten »Bunkergespräche«), deren ursprünglicher deutscher Text nie ans Tageslicht kam, müssen mit entsprechender Vorsicht behandelt werden. Nimmt man Hitlers angeborene Heimlichtuerei, die Leere seiner persönlichen Beziehungen, seinen unbürokratischen Stil, die Extreme an Verherrlichung und Haß, die er auslöste, und die Apologien und Verzerrungen, welche die nach dem Krieg publizierten Memoiren und die geschwätzigen Anekdoten der Menschen seiner Entourage kennzeichnen, zusammen, sind die Quellen zur Rekonstruktion der Lebensgeschichte des deutschen Diktators trotz der erhaltenen Papierberge, die der Regierungsapparat des Dritten Reiches ausgestoßen hat, in vielfacher Hinsicht außerordentlich begrenzt und nicht mit den umfänglicheren archivalischen Hinterlassenschaften seiner Hauptgegner Churchill und Stalin zu vergleichen.
Hitler und...