Vorwort
Im ersten Teil der vorliegenden Biographie »Hitler 1889-1936« habe ich zu zeigen versucht, wie die Bevölkerung eines hochkultivierten, ökonomisch fortgeschrittenen, modernen Staates einem politischen Außenseiter ihr Schicksal anvertraut und die Macht übergeben hat. Wenn dieser Mann überhaupt Talente besaß, dann nur wenige, die sein zweifellos vorhandenes Können als Demagoge und Propagandist übertrafen.
Bis zu dem Zeitpunkt, als Hitler durch Intrigen einflußreicher Persönlichkeiten, die Reichspräsident von Hindenburg nahestanden, die Reichskanzlerschaft überantwortet wurde, hatte er nur einmal vermocht, die Stimmen von etwas mehr als einem Drittel der deutschen Wählerschaft zu erringen. Ein weiteres Drittel des Wahlvolks, die Anhänger der Linken, standen ihm als unversöhnliche Gegner gegenüber, wenn ihre Reihen auch zerstritten waren. Die übrigen Wähler verhielten sich oftmals skeptisch, abwartend, zögerlich und unsicher. Am Ende des ersten Bandes dieses Werkes haben wir die Konsolidierung von Hitlers Macht bis zu dem Punkt verfolgt, da sie beinahe absolut geworden war. Die Opposition im Inneren war zerschlagen. Die Zweifler waren durch den Umfang des inneren Wiederaufbaus und die Stärkung der außenpolitischen Position des Reiches, die fast über alles Vorstellbare hinausgingen, weitgehend gewonnen worden. Ein Großteil des verlorengegangenen Nationalstolzes war wieder aufgerichtet, und das Gefühl der Erniedrigung, das der Erste Weltkrieg zurückgelassen hatte, war überwunden. Eine autoritäre Form der Herrschaft betrachteten die meisten Deutschen als einen Segen. Die Unterdrückung derjenigen, die politisch nicht im Gleichschritt marschierten, und von unliebsamen ethnischen Minderheiten oder sozialen Außenseitern wurde als akzeptabler Preis für das hingenommen, was als eine nationale Wiedergeburt erschien. Während die Masse unter Hitler immer stärker in Ergebenheit verharrte und die Opposition zerschlagen war oder sich als wirkungslos erwiesen hatte, hatten mächtige Kräfte in der Wehrmacht, dem Junkertum, der Industrie und den höheren Rängen der Beamtenschaft sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter das Regime gestellt. Wie schwer die negativen Aspekte auch wiegen mochten, man erkannte, daß es diesen Kreisen viel zu bieten hatte.
Die Zeit, in der der erste Band mit der militärischen Wiederbesetzung des Rheinlands im Jahre 1936 schließt, markiert eine überwältigende Unterstützung der Deutschen für Hitler, sogar derjenigen, die in den Wahlen vor der Übernahme des Kanzleramts nicht für ihn gestimmt hatten. Aus den Tiefen der nationalen Erniedrigung emporsteigend, war den meisten Deutschen die Teilhabe am neuen Nationalstolz viel wert. Das Gefühl, daß sich Deutschland auf dem richtigen Weg befinde, um die vorherrschende Macht in Europa zu werden, breitete sich allerorten aus. Hitlers in den Wiener Jahren schmerzlich empfundene Erniedrigung war seit langem durch das zunehmende Gespür überblendet, die politische Mission zu erfüllen, Deutschland vom Chaos zu befreien und die dunklen und bedrohlichen Kräfte zu vernichten, die die Existenz der Nation grundsätzlich in Frage stellten. 1936 schwoll seine narzißtische Selbstglorifizierung, befruchtet von einer gottesfürchtigen Verherrlichung seiner Anhängerschaft, ins Unermeßliche. Damals hielt er sich für unfehlbar; sein Selbstbild war endgültig von Hybris durchdrungen.
Das deutsche Volk hatte die persönliche Hybris seines Führers geformt, jetzt sollte es alle Auswirkungen davon erleben: Als größtes Hasardspiel in der Geschichte der Nation um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Alle Deutschen werden die Konsequenzen zu tragen haben. Die Größe des Spiels enthielt mittelbar die Bereitschaft, sich auf das Risiko der Selbstvernichtung einzulassen, also eine Einladung an Nemesis, die Göttin des Untergangs. Nur einige wenige Menschen sahen den Sturz in den Abgrund vorher, als unausweichliche Folge von Selbstüberhebung in einem solchen Ausmaß.
In der griechischen Mythologie ist Nemesis die Göttin der Vergeltung, die die Strafen der Götter für menschliche Laster wie anmaßende Arroganz oder eben Hybris verteilt. Das Sprichwort »Hochmut kommt vor dem Fall«, das manchen Völkern bekannt ist, verweist auf das häufige Auftauchen dieses Phänomens. In der Geschichte gibt es dafür zahlreiche Beispiele unter den Herrschern und Mächtigen, obwohl der Begriff »Nemesis« eher ein politisches als ein moralisches Werturteil ausdrückt. Auf den glänzenden aber flüchtigen Aufstieg von Herrschern, Politikern oder einflußreichen Günstlingen bei Hofe folgte oftmals eine Arroganz der Macht, die schließlich zu einem schnellen Sturz aus dem Stand der Gunst führte. Gewöhnlich trifft es eine Persönlichkeit, die wie eine Sternschnuppe blitzartig prominent wird, dann schnell in Bedeutungslosigkeit verglüht und schließlich das Firmament im wesentlichen unverändert läßt.
Die Geschichte kennt einige Beispiele, wo individuelle Hybris tieferliegende, gesellschaftliche Kräfte in der Gesellschaft spiegelt und folgenschwere Vergeltung provoziert. Napoleon, der aus einfachen Verhältnissen im Strudel revolutionärer Umbrüche aufstieg, die Macht im französischen Staat übernahm, sich selbst die Kaiserkrone aufs Haupt setzte, einen Großteil Europas eroberte und schließlich Niederlage und Exil erfuhr, während sein Reich zerlegt und entehrt war, liefert ein aufschlußreiches Beispiel. Aber Napoleon hat Frankreich nicht vernichtet, und wichtige Elemente seines Erbes haben überdauert. Die Verwaltungsstruktur der Nation, das Erziehungssystem und das bürgerliche Gesetzbuch bilden drei bedeutsame Erbstücke. Nicht zuletzt aber ist Napoleon kein moralisch schändliches Handeln zugeschrieben worden. Die Franzosen von heute können mit Stolz und Bewunderung auf ihn zurückblicken.
Hitlers Erbe trug eine andere Signatur. Einzigartig in der Neuzeit, vergleichbar vielleicht nur mit dem Hunnenkönig Attila und Dschingis Khan in der fernen Vergangenheit, hinterließ sein Vermächtnis nur Zerstörung. Keinerlei architektonische Zeugnisse, kein Kunstschaffen, keine politischen Strukturen oder wirtschaftlichen Modelle, am wenigsten die moralische Verfassung – kurz es blieb nichts für die kommenden Generationen. Große Fortschritte auf den Gebieten der Motorisierung, der Luftfahrt und der Technologie vollzogen sich, teilweise kriegsbedingt. Aber die Entwicklung ging in allen kapitalistischen Ländern, am deutlichsten in den USA, dahin, und es wäre in Deutschland auch ohne Hitler nicht anders gewesen. In diesem Betracht kommt aber der Tatsache größte Bedeutung zu, daß Hitler im Unterschied zu Napoleon ein gewaltiges, moralisches Trauma hinterließ, das es noch Jahrzehnte nach seinem Tod, von politischen Randexistenzen auf der äußersten Rechten abgesehen, unmöglich macht, auf den deutschen Diktator und sein Regime mit Zustimmung oder Bewunderung zurückzublicken, ja überhaupt mit irgend etwas anderem als mit Abscheu und Verdammung.
Urteile über andere Machthaber wie Lenin, Stalin, Mao, Mussolini oder Franco weisen nicht dieselbe Übereinstimmung im Urteil auf und sind nicht mit so großem moralischem Gewicht befrachtet. Als Hitler erkannte, daß der Krieg unwiderruflich verloren war, bewegte ihn die Frage nach seinem Platz in der Geschichte, im Pantheon der germanischen Helden. Heute steht er als die verhaßteste Gestalt des 20. Jahrhunderts da. Sein Platz in der Geschichte ist ihm sicher, doch füllt er eine Rolle aus, die nicht sein Wunsch gewesen war: die des personifizierten Bösen in der modernen Politik. Doch ist das Böse eher ein theologischer oder philosophischer als ein historischer Begriff. Wenn man Hitler mit dem Attribut böse belegt, mag dies zwar richtig und auch moralisch befriedigend sein, aber es erklärt nichts. Die Einhelligkeit, mit der er verurteilt wird, ist sogar ein Hindernis auf dem Weg zu Erklärung und Verstehen. Die folgenden Kapitel machen hoffentlich unzweifelhaft deutlich, daß ich persönlich Hitler als eine verabscheuungswürdige Gestalt empfinde und all das verachte, wofür sein Regime steht. Aber dieses negative Urteil hilft mir kaum zu begreifen, warum Millionen deutscher Bürger so vieles attraktiv fanden, was Hitler verkörperte, und bereit waren, bis zum bitteren Ende in einem schrecklichen Krieg gegen das starke Bündnis der mächtigsten Nationen der Welt zu kämpfen. Diese Deutschen waren gewöhnliche Menschen und im Kern kaum böse. Sie waren im allgemeinen an Wohlstand und Wohlergehen für sich und ihre Familie interessiert, wie es Menschen überall auf der Welt sind. Sie waren auf gar keinen Fall einer Gehirnwäsche unterzogen, durch eine faszinierende Propaganda hypnotisiert oder durch rücksichtslose Unterdrückung bis zur Unterwerfung terrorisiert worden. Meine Aufgabe ist es daher im vorliegenden Band wie schon im ersten Teil dieser Arbeit nicht, mich auf die moralische Debatte über das Problem des Bösen in einer historischen Gestalt einzulassen, ich will vielmehr den Versuch unternehmen, die Macht zu ergründen, die Hitler über die Gesellschaft besaß, die schließlich für ihre Zustimmung einen derart hohen Preis zu zahlen hatte.
Letzten Endes sollte sich Hitlers Nemesis nicht nur als persönliche Vergeltung erweisen, sondern auch als Nemesis für das Deutschland, das ihn hervorgebracht hatte. Sein Land sollte in Ruinen – wie viele Gegenden Europas – und geteilt zurückbleiben. Das, was einstmals Mitteldeutschland war, sollte 40 Jahre lang die oktroyierten Wertvorstellungen des sowjetischen Siegers kennenlernen, während die westlichen Teile des Landes unter einer »Pax americana« erfolgreich auflebten. Ein neues Österreich, das die Erfahrung des Anschlusses unter Hitler gemacht hatte, sollte sich im...