»Wie vor ewigen Zeiten, wie am Tag nach der Befreiung, als einige von uns die Wahl hatten zwischen Wut und Dankbarkeit, weiß ich, meine Wahl war richtig.«
ELIE WIESEL
WAS IST SCHICKSAL?
Der Mensch denkt und Gott lenkt
»Der Mensch denkt und Gott lenkt.« So heißt ein bekanntes Sprichwort. Manchmal treffen solche Sprichwörter ins Schwarze, zeigt sich in ihnen eine alte Weisheit. Zugleich fordern sie aber auch zum Widerspruch auf, weil sie vielleicht doch zu schlicht sind, zumindest die Gefahr besteht, dass sie recht komplexe Zusammenhänge zu einfach zu erklären versuchen. Und dennoch: Für mich steckt in diesem Sprichwort eine Wahrheit, die ich zunächst einmal recht allgemein so beschreiben würde: Unser Denken, unsere Entscheidungen, unser Tun, unser Leben ist von einer Einflussnahme umfangen, die unser bewusstes Denken, Wollen und Tun überschreitet.
Wen ich heirate, welchen Beruf ich ergreife, ist für mich nicht nur das Ergebnis einer bewusst getroffenen Entscheidung. Dass ich in den Niederlanden, während ich auf der Heimfahrt vom Urlaub eine kurze Pause einlege, auf ein Buch des Trappisten und Mystikers Thomas Merton stoße, das mich nachhaltig prägte, ist nach meiner Ansicht nicht nur Zufall. Viktor Frankl, KZ-Überlebender und Begründer der Logotherapie, berichtet davon, dass ihm nach seinem Aufenthalt im KZ von der amerikanischen Botschaft in Wien das Angebot gemacht wurde, in die USA auszuwandern. Er schwankte hin und her, war sich nicht sicher, ob er dieses Angebot annehmen sollte. Da war die Möglichkeit, unter günstigen Bedingungen seine damals noch vagen Gedanken über die Logotherapie zu Papier zu bringen, dort waren die alten, hinfälligen Eltern, die er zurücklassen würde. Er hätte sich in dieser Situation am liebsten eine Entscheidung des Himmels erhofft. Noch völlig unentschieden entdeckte er beim Besuch seiner Eltern in Wien einen Steinbrocken, den sein Vater aus der zerstörten Wiener Synagoge mitgenommen hatte. Der Steinbrocken war offensichtlich ein Teil des Thoraschreines, denn die darauf noch erkennbare Inschrift bezog sich auf das vierte Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Als ihm sein Vater diesen in hebräischer Sprache verfassten Text übersetzte, war es von diesem Augenblick an für Viktor Frankl klar, dass er bei seinen Eltern bleiben würde. Zufall oder ein Wink vom Himmel?
Ich bin davon überzeugt, dass vieles, was in unserem Leben geschehen ist und geschieht, das Ergebnis bewusst getroffener Entscheidungen ist, zugleich aber auch von Einflüssen und mitunter sogar Eingriffen mitbestimmt wird, die unser bewusstes Wollen und Tun beeinflusst haben und beeinflussen. Diesen Einfluss und diese Einwirkung auf unser Leben bezeichne ich, wenn auch noch ganz vorsichtig, als Schicksal oder Bestimmung. Beiden Begriffen ist gemeinsam, dass sie auf einen Einfluss in unserem Leben verweisen, der jedoch nicht von uns selbst kommt.
Etwas, das unausweichlich vorherbestimmt oder vorgegeben ist
Wenn ich im Folgenden vorwiegend den Begriff Schicksal verwende, weiß ich sehr wohl, dass der Begriff Schicksal viele verschiedene Bedeutungen hat. Ich orientiere mich bei meinem Verständnis von Schicksal an dem englischen Begriff destiny, der Schicksal als etwas bezeichnet, das einer Person – im Guten wie im Bösen – unausweichlich vorherbestimmt beziehungsweise vorgegeben ist. Wir werden ins Leben hineingeworfen, unterliegen vom Anfang unseres Daseins an bestimmten Gegebenheiten, die uns – so scheint es – schicksalhaft vorgegeben sind. Für jeden scheint in seinem Schicksal etwas von dem ihm zugedachten Design des Universums durch, das in jedem Augenblick unseres Lebens anwesend ist, auch wenn uns das nicht immer bewusst sein mag (vgl. May 1981, 90).
Wir begegnen unserem Schicksal auf einer kosmischen Ebene bei unserer Geburt, bei unserem Tod oder auch bei einem Erdbeben oder Vulkanausbruch (vgl. May 1981, 90). Ob wir als Mann oder Frau, weiß, schwarz, rot oder gelb geboren werden, wie wir aussehen oder mit welchen Talenten wir ausgestattet sind, hängt von genetischen Gegebenheiten ab. In welche Familie, in welche Zeitepoche, in welches politische und kulturelle Umfeld wir hineingeboren werden, sagt etwas, so Rollo May, über den kulturellen Aspekt unseres Schicksals aus. Schließlich gibt es bestimmte Umstände, mit denen wir konfrontiert werden, etwa die Weltwirtschaftskrise, der 11. September 2001, der Tsunami im Fernen Osten, der vor einigen Jahren Tausende von Menschen in den Tod riss. Sie passieren, ob wir es wollen oder nicht, und gehören zum Schicksal der Menschen dazu, die davon betroffen wurden.
Dabei ist es müßig zu fragen, warum es diese Menschen getroffen hat und nicht mich. Wären sie zum Zeitpunkt des Einsturzes nicht im World Trade Center, beim Ausbruch des Tsunamis nicht in Urlaub im Fernen Osten gewesen, ja was dann? War das Zufall? Was ist mit denen, die sich eigentlich zu diesem Zeitpunkt normalerweise im World Trade Center aufhielten, an diesem Tag und zu dieser Stunde aus welchen Gründen auch immer sich nicht dort aufhielten? Zufall? Wer kann oder will diese Fragen beantworten? Solche Fragen sind nicht leicht zu beantworten, vielleicht auch gar nicht.
Ein statisches, anonymes, undurchschaubares Etwas?
Diese Überlegungen tauchen auch auf, geht man der Frage nach, was oder wer hinter unserem Schicksal steht. Handelt es sich bei unserem Schicksal um ein statisches, anonymes, undurchschaubares Etwas, das ohne eine bestimmte Absicht auf unser Leben einwirkt? Oder wirkt in und hinter unserem Schicksal eine verborgene, uns unverfügbare Kraft, vielleicht auch Macht, die auf eine geheimnisvolle Weise und mit einer bestimmten Absicht auf unser Leben Einfluss nimmt? Bei der Beantwortung dieser Frage scheiden sich die Geister.
Für den von mir sehr geschätzten Psychoanalytiker Irvin D. Yalom (2010, 193f.), Begründer der existenziellen Psychotherapie und Verfasser vieler Fachbücher und Romane, gibt es eine solche geheimnisvolle im Verborgenen wirkende Kraft nicht. Für ihn sind wir Menschen ein Zufallsprodukt. Die existenzielle Weltanschauung, auf der seine klinische Arbeit basiert, folgt der Vernunft und meidet jeden übernatürlichen Glauben. Sie postuliert, »dass das Leben im Allgemeinen und unser menschliches Leben im Besonderen aus Zufallsereignissen entstanden ist; dass wir, obwohl wir uns danach sehnen, in unserem Sein zu überdauern, endliche Kreaturen sind; dass wir allein in eine Existenz ohne vorherbestimmte Lebensstruktur oder Schicksal geworfen wurden; dass jeder von uns entscheiden muss, wie er so erfüllt, glücklich, ethisch und sinnvoll wie möglich lebt«. Wir sind auf uns selbst angewiesen und es liegt nach seiner Auffassung ausschließlich an uns, was wir im Wissen und mit der Erfahrung, dass uns allenthalben Grenzen gesetzt sind, aus unserem Leben machen.
Ähnlich wie bei Irvin D. Yalom hat auch im Denken von Sigmund Freud das Schicksal als eine geheimnisvolle, verborgen wirkende Kraft keinen Platz. Sein strenger Determinismus verbietet jede Form von geheimnisvollen Erfahrungen. Wenn sich zum Beispiel jemand verliebt, dann steht die Libido dahinter, hat das mit unserer Erziehung zu tun, mit unserem kulturellen Hintergrund, unseren persönlichen Plänen (vgl. May 1981, 87). Dass da auch noch etwas anderes eine Rolle spielen könnte, dass in alledem etwas Geheimnisvolles beteiligt und erfahrbar sein könnte, gar eine geheimnisvolle Macht dahinter stehe, ist für Freud unwissenschaftlich und hat in seinem deterministischen Denken keinen Platz.
Verstehen wir Schicksal als ein anonymes, undurchschaubares Etwas, das ohne bestimmte Absicht in unser Leben einwirkt, erinnert das an ein Verständnis von Schicksal, das im Altertum als blindes Fatum verstanden wurde, das ohne Ansehen der Person und ohne Gründe einfach zuschlägt. Dieses Verständnis von Schicksal, das in der Regel mit tragischen Ereignissen, die unausweichlich und unwiderrufbar ihren Lauf nehmen, verbunden wird, begegnet uns oft in der Mythologie oder in Liebesromanen.
Dort erfahren wir von dem gut aussehenden, verwitweten Arzt, der noch schwer mit dem Tod seiner geliebten Gattin zu kämpfen hat, der beschließt, einen Neuanfang zu wagen. Er will alles hinter sich lassen. In der Abgeschiedenheit eines kleinen schwedischen Dorfes hofft er, die Schatten der Vergangenheit abstreifen zu können. Er beabsichtigt, einen heruntergekommenen Hof am Rande der Ortschaft zu renovieren und hier sein neues Leben zu beginnen. Zur gleichen Zeit, am anderen Ende des Dorfes, kehrt eine junge Frau nach vielen Jahren der Abwesenheit erstmals an ihren Geburtsort zurück. Ihre behütete Kindheit im Schoße einer liebenden Familie wurde damals durch den schrecklichen Unfall ihrer Schwester erschüttert. Die junge Frau gibt sich selbst die Schuld an diesem Unglück und hatte ihr Heimatdorf verlassen, um nicht dauernd daran erinnert zu werden. Einem Impuls folgend, wagt sie es nun erstmals, sich ihren Erinnerungen zu stellen …
Eine geheimnisvolle, verborgene Kraft, die auf ein Ziel ausgerichtet ist
Der englische Begriff für Schicksal als blindes Fatum, das einfach zuschlägt, ist fate. Wenn ich dagegen von dem englischen Begriff destiny ausgehe, der auch mit Schicksal übersetzt werden kann, weitet sich das Verständnis von Schicksal. Der Begriff destiny leitet sich von destine ab, das mit bestimmen, hingeben, heiligen übersetzt werden kann. Weiter ist destiny mit dem Begriff destination verwandt, der eine Bewegung in eine bestimmte Richtung, auf ein bestimmtes Ziel hin andeutet (vgl. May 1981, 89). Schicksal ist auf diesem Hintergrund nicht mehr nur etwas...