Nach dem Münchner Begabungsmodell[85] gibt es verschiedene Leistungs bereiche, in denen Personen hochbegabt sein können. Die mathematische Begabung ist ein Teil der intellektuellen Hochbegabung. Neben allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen Hochbegabter gibt es spezielle, die auf eine besondere mathematische Begabung hinweisen können.
Es sind unter anderen die Fähigkeit zu logischem Denken, ein hohes Abstrak tionsvermögen, Motivation und Ausdauer beim Lösen mathematischer Aufgaben, sowie das Entwickeln eigener Rechenstrategien durch intuitives, systematisches oder probierendes Vorgehen.[86]
Auch für den Begriff ‚mathematische Begabung’ gibt es in der Fachliteratur keine einheitliche Definition. Drei wichtige Personen im Hinblick auf die Erforschung mathematischer Begabung möchte ich jedoch vorstellen. Dies sind Krutetskii, Radatz und Käpnick. Sie haben weitere, zum Teil ähnliche, Merkmale festgestellt, die sowohl bei der Identifizierung wie auch der Förderung mathematisch Begabter sehr hilfreich sein können.
Der sowjetische Forscher Krutetskii führte in den 1950er bis 60er Jahren umfangreiche Studien über mathematische Fähigkeiten durch. Daraus erarbeitete er folgende Merkmale[87]:
formalisierte Wahrnehmung mathematischer Strukturen, d.h. die Fähigkeit, von Inhalten zu abstrahieren und nur die formale Struktur eines gegebenen mathematischen Problems zu erfassen;
Verallgemeinerung mathematischer Problemstellungen, d.h. ein konkretes Problem wird als Spezialfall eines allgemeinen Problems erkannt;
Verkürzung eines Gedankenganges und das Denken in übergeordneten Strukturen;
Flexibilität bei geistigen Prozessen, die leichtes und schnelles Umschalten von einer Denkoperation zu einer anderen gestattet;
Reversibilität (Umkehrbarkeit) geistiger Prozesse (insbesondere beim mathematischen Beweisen);
Streben nach Klarheit, Einfachheit und Eleganz einer Lösung;
schnelles und dauerhaftes Erinnern mathematischen Wissens;
kaum auftretende Ermüdungserscheinungen bei der Beschäftigung mit mathematischen Fragestellungen.
Radatz[88] bezog sich eher auf das Lernen von Mathematik in der Grundschule. Er fand heraus, dass sich mathematisch begabte Kinder bei der Lösung arithmetischer Aufgaben schnell vom zählenden Rechnen abwenden und früh heuristische Strategien anwenden. Auch sind leistungsstärkere Schüler in der Lage, die Repräsentationsebenen zu wechseln und haben genaue Vorstellungen zu bekannten Begriffen und Beziehungen entwickelt, welche in konkreten Beispielen umgesetzt werden können.
Käpnick[89] führte 1998 umfangreiche Untersuchungen durch, aus denen er ein Merkmalsystem zusammenstellte. Ihm ist es wichtig zu erkennen, dass mathematisch begabte Kinder sehr unterschiedlich sein können, sowohl in der Ausprägung ihrer Begabung wie auch in ihrer gesamten Persönlichkeit. Deshalb empfindet er es als wichtig, gemeinsame Merkmale aufzustellen, an denen Hochbegabte mit besonderen mathematischen Fähigkeiten erkannt werden können. Diese spezifischen Merkmale sind[90]:
Fähigkeit zum Speichern mathematischer Sachverhalte im Kurzzeit gedächtnis unter Nutzung erkannter mathematischer Strukturen;
Mathematische Fantasie;
Fähigkeit im Strukturieren mathematischer Sachverhalte;
Fähigkeit im selbstständigen Transfer erkannter Strukturen;
Fähigkeit im selbstständigen Wechseln der Repräsentationsebenen und im selbstständigen Umkehren von Gedankengängen beim Bearbeiten mathematischer Aufgaben;
Mathematische Sensibilität.
Außerdem stellte er eine Liste der Persönlichkeitseigenschaften auf, die eine mathematische Begabung positiv unterstützen. Sie umfasst hohe geistige Aktivität, intellektuelle Neugier, Anstrengungsbereitschaft, Freude am Problemlösen, Konzentrationsfähigkeit, Beharrlichkeit, Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit.
Voigt[91] meint weiterhin, dass „mathematische Fähigkeiten [...] auch weniger leicht operationalisierbare Handlungsweisen und Vorstellungen [betrifft], z.B. wie man sich der Lösung einer ungewohnten Aufgabe nähert, wie man eigene Lösungsversuche gegenüber sich und anderen begründet oder wie man mit eigenen Fehlern umgeht“.
Dahlke[92] geht von zwei unterschiedlichen Forschungsansätzen, dem faktorenanalytischen und dem deskriptiven (beschreibenden), aus, nach denen besondere mathematische Fähigkeiten identifiziert werden können.
Im faktorenanalytischen Ansatz wird das Ergebnis eines Standardtests zur Ermittlung der Intelligenz analysiert und mit anderen verglichen. Daraus wird auf die Ausprägung der Begabung geschlossen. Da die mathematische Begabung ein Teil der intellektuellen Intelligenz ist, kann sie so erkannt werden.
Der deskriptive Ansatz hält weniger das Ergebnis als den Weg dorthin für wichtig. Es geht um die Beobachtung bei der Findung von Problemlöse strategien.
Krutetskii war einer der wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes. Er unterteilte ihn in drei Grundstufen, bestehend aus dem Sammeln, dem Verarbeiten und dem Behalten mathematischer Informationen. Dies zu können verlange nach bestimmten Fähigkeiten, welche Krutetskii als Merkmale einer mathema tischen Begabung erkannte.[93]
Vor fünf Jahren veröffentlichte der Fachdidaktiker Käpnick zehn Indikatoraufgaben speziell zur Feststellung mathematischer Begabung. Diese sind in Anlehnung an Heller in ein dreiphasiges Stufenmodell eingegliedert und so konzipiert, dass sie die verschiedenen kognitiven Bereiche abdecken. Fünf dieser Indikatoraufgaben sind in seinem Buch „Mathe für kleine Asse“[94] enthalten.
Neben einer Diagnostik durch diese Aufgaben sollten zusätzlich Beobachtungen von Lehrern und Eltern berücksichtigt werden. Als Hilfe kann die weiter oben beschriebene Merkmalsliste[95] dienen. Auch nach Erkennen der mathematischen Begabung ist eine prozessbegleitende Identifikation wichtig. Das bedeutet, dass man das Kind genau in seinem Verhalten beobachtet, seine Problemlösestrategien hinterfragt und analysiert und spezifische Tests wiederholt durchführen lässt.
Käpnick macht deutlich, dass eine Art der Diagnose allein nicht ausreichend ist, um ein Kind als mathematisch begabt anzusehen. Auch sollten immer mehrere Personen an den Identifikationsverfahren beteiligt sein, um ein möglichst objektives Bild des Kindes und seiner möglichen Begabung zu erhalten.[96]
Im Gegensatz zu anderen Fächern wie Heimat und Sachunterricht ist der Mathematikunterricht sehr sequentiell. Ein Vorgreifen auf schwierigere Dinge ist oft nicht möglich, da die dazu benötigten Rechenoperationen noch nicht bekannt sind.[97]
Auch ist der Unterricht oft eher starr und läuft meistens nach dem gleichen Prinzip ab: Der Lehrer erklärt eine neue Rechenart und diese wird dann von den Schülern geübt bis sie das Neue in komplexeren Zusammenhängen anwenden können.
Das Interesse der Schüler an Mathematik ist dadurch naturgemäß nicht sehr groß. Durch offenere und kreativere Gestaltung kann der Mathematikunterricht ansprechender werden.
Wichtig ist es, die Kinder nicht als Objekte der...