1. Einleitung
»Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen,als Unordnung ertragen.«
Johann Wolfgang von Goethe:
Belagerung von Mainz[1]
Es ist allgemein anerkannt, dass uns Populärkultur etwas über den Zeitgeist, sowie über gesellschaftliche Befindlichkeiten und Normen sagen kann. Actionfilme, Thriller, Krimis, etc. spiegeln außerdem nicht einfach nur den Status quo wieder, sondern beeinflussen die Ansichten der Menschen in Bezug auf Gesetze, Rechtsinstitutionen und Gerechtigkeit. Die meisten Menschen kommen in ihrer Lebenszeit wenig bis gar nicht direkt mit dem Gesetz in Kontakt, und beziehen den Großteil ihres Wissens darüber aus Filmen und Fernsehsendungen. Viele Politiker erkennen die Macht der Populärkultur, so auch die Administration von George W. Bush. Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 traf sich Karl Rove, der damals senior advisor von Präsident Bush war, mit Führungskräften der Hollywood-Filmindustrie, um zu besprechen, wie man der amerikanischen Öffentlichkeit die geeignete Botschaft über den war on terrorism kommunizieren könne.[2] Da die Themen Selbstjustiz und Vigilantismus in extrem vielen US-amerikanischen Kulturprodukten vorkommen, verdienen sie eine genauere, wissenschaftliche Betrachtung.
Wenn ich in Gesprächen mein Buchprojekt erwähnt habe, sind beim Stichwort »Selbstjustizfilme« meist zwei Filme von meinem Gegenüber genannt worden: »Ah, so wie DEATH WISH (EIN MANN SIEHT ROT, Michael Winner, 1974) und DIRTY HARRY (Don Siegel, 1971).« DIRTY HARRY hat, wie wir noch sehen werden, den vigilante cop zwar nicht erfunden, ihm aber zu einer beeindruckenden Renaissance und Popularität verholfen. DEATH WISH zählt nicht umsonst, sowohl in den USA als auch außerhalb, als der prototypische Selbstjustizfilm. Wenn es auch vorher bereits etliche vigilante movies gegeben hat, hat sich damals mit dem Erfolg des Films, in dem ein gutsituierter, sanftmütiger Architekt nach der Attacke auf seine Frau und seine Tochter wahllos Straßenräuber erschießt, das Vigilantnarrativ in Hollywood endgültig durchgesetzt.
Selbstjustiz, umgangssprachlich als »das Gesetz in die eigene Hand nehmen« bezeichnet, zieht sich durch die gesamte amerikanische Filmgeschichte. Der Begriff vigilantism, dessen Definitionsversuche ich im nächsten Kapitel ausführe, bedeutet nach gängigen Definitionen so viel wie eine systemstützende oder systemerhaltende, konservative Form von Selbstjustiz. Den Begriff »Vigilantismus« findet man extrem selten in deutschsprachiger Literatur, und auch im Sprachgebrauch scheint er so gut wie nicht zu existieren. Auch wenn er im Deutschen (wenn überhaupt) vor allem in historischen Kontexten gebraucht wird, oder im Zusammenhang mit real existierenden Gruppierungen wie Milizen oder Bürgerwehren, werde ich ihn für dieses Buch verwenden, da der weitaus geläufigere deutsche Begriff »Selbstjustiz« eben kein Äquivalent darstellt.
Filme, die das Rachemotiv zum Inhalt haben, sind zahlreich und bekannt. Das Rachenarrativ wurde innerhalb der Filmwissenschaft auch entsprechend behandelt. Das, was ich in diesem Buch als Vigilantnarrativ bezeichnen werde, ist im Gegensatz dazu sowohl im öffentlichen Bewusstsein als auch im wissenschaftlichen Diskurs kaum vertreten. Das ist auch deshalb überraschend, weil man – je nachdem wie man Vigilantismus definiert – dahingehend argumentieren kann, dass Vigilanten öfter in Filmen auftreten als Rächer. Protagonisten können beide Rollen in einem Film erfüllen. Aber es passiert viel häufiger, dass jemand das Gesetz selbst in die Hand nimmt und illegal handelt, als dass er explizit als Rächer auftritt. So gut wie jeder Rächer ist ein Vigilant, da er das Gewaltmonopol der Staates missachtet, und nur in seltenen Fällen seine Rachehandlungen von höherer Stelle legitimiert sind (Ein Soldat ist beispielweise von seiner Regierung legitimiert, und ein Polizist vom Staat). Aber nicht jeder Vigilant ist ein Rächer, weil viele von ihnen uneigennützig handeln. Ich behaupte, dass es in US-amerikanischen Filmen mehr Vigilanten als Rächer gibt. Das was ich in diesem Buch als einen »klassischen Vigilanten« bezeichne, ist eine Figur, die nicht primär als Rächer in Erscheinung tritt, sondern um das Allgemeinwohl seiner Stadt, seines Landes oder seiner community besorgt ist. Ein klassischer Vigilant ist also ein »rechtschaffener« Vigilant, dessen Vigilantismus auf rationalen Überlegungen gründet. Ein Rächer dagegen will nur sein persönliches Unrechtsgefühl tilgen, und seine Selbstjustiz ist (fast) ausschließlich emotional bedingt und gesteuert. »Klassischer« Vigilantismus ist nach meiner Definition in erster Linie uneigennützig und wird im Dienste der Gesellschaft angewandt. Mein Ziel für dieses Buch war, fast alle filmischen Beispiele für »klassischen Vigilantismus« zusammenzuführen. Hätte ich alle Beispiele für Vigilanten in Filmen aufgeführt – also alle Figuren, die Selbstjustiz anwenden – wäre das Buch wohl sieben Mal so umfangreich geworden.
Kurz zusammenfassend: Zur gewaltsamen Rache zählen Handlungen, mit denen vom Rächer ein empfundenes Unrecht mit Gewalt ausgeglichen werden soll. Als Akte der Selbstjustiz zählen all jene Aktionen, die nicht auf institutionellem Weg (Polizei, Gerichte, etc.) vollzogen werden und die Gerechtigkeit im Sinne der dazu nicht legitimierten Person, die Selbstjustiz anwendet, wiederherstellen sollen. Vigilantismus ist demnach eine Form von Selbstjustiz, die nicht im Affekt und im Dienste der Allgemeinheit angewandt wird (genauere Definitionsversuche folgen im nächsten Kapitel).
Nicht nur historisch gesehen ist Vigilantismus eine amerikanische Institution. Der Vigilant – also jemand, der Vigilantismus anwendet – ist eine der populärsten und gängigsten Figuren amerikanischer Fiktion. Es ist meistens sowohl dramaturgisch als auch handlungstechnisch interessanter, wenn sich Figuren nicht an die Gesetze halten und Aktionen setzen, die außerhalb des geltenden Rechts stehen. Deshalb sind klassische Bösewichte auch oft interessanter als die Helden einer Geschichte, weil sie sich nicht nur über gesellschaftliche Normen, sondern auch über Gesetzesnormen hinwegsetzen. Der Protagonist mag das auch tun, aber er tut es in der Regel aus edleren, rechtschaffeneren Motiven. In der öffentlichen Wahrnehmung und selbst bei Filmfans werden Vigilantenfilme und Rachefilme meist verwechselt oder gleichgesetzt, da sich Rachenarrative und Vigilantnarrative strukturell, stilistisch und auch inhaltlich oft ähnlich sind. Den wesentlichen Unterscheid werde ich noch verdeutlichen. »Vigilantenfilm« ist ein im Deutschen eigentlich nicht existierender Begriff, den ich für dieses Buch verwenden werde. Je öfter ich ihn geschrieben habe, desto natürlicher klang er für mich, auch wenn er etwas unschöner klingt als das im englischsprachigen Raum gängige Begriffspaar »vigilante film/movie«. Als Vigilantenfilm bezeichne ich jene Filme, die sich entweder mit Vigilantismus auseinandersetzen und/oder eine Hauptfigur aufweisen, die als Vigilant auftritt, was die Handlung auch wesentlich beeinflusst.
Der Vigilant ist mythologisch aufgeladene und immer wiederkehrende uramerikanische Figur, die auf historische Ereignisse zurückzuführen ist (mehr dazu in Kapitel 3). Trotzdem kann sie meiner Ansicht nach nicht als Archetyp bezeichnet werden, da die Vigilantenfiguren zu verschieden sind. Vigilanten gibt es in verschiedensten Ausprägungen, vom Rächer bis zum selbstlosen Wohltäter, und vom Antihelden bis zum »Saubermann« und Pfadfinder-Typen. Aus einem ähnlichen Grund sind Vigilantenfilme für mich kein eigenes Genre, auch wenn sie in der englischsprachigen Wikipedia als solches bezeichnet werden[3] und dort sogar als Subgenre des Exploitationfilms aufgeführt sind.[4] Es gibt keine immanenten Gemeinsamkeiten in den Handlungen oder der Grundstimmung, zudem unterscheiden sie sich stilistisch teils enorm. Es handelt sich beim fiktiven Vigilantismus, wie ich in diesem Buch darlegen will, eindeutig um ein Narrativ, das in den verschiedensten Formen im amerikanischen Mainstream- und B-Film vorkommt. Vigilantismus ist in sämtlichen Filmgenres zu finden, vom Drama bis zum Exploitationreißer, von anerkannten Filmen wie TAXI DRIVER (Martin Scorsese, 1976) bis zu B-Actionware wie THE EXTERMINATOR (James Glickenhaus, 1980). Vigilantismus ist auch deshalb eine interessante Form von Selbstjustiz, da mit dessen Anwendung stets ein oder mehrere Missstände aufgezeigt werden, und ihm somit ein systemkritisches Element innewohnt.
Da diese Begriffe noch öfter fallen werden, hier noch kurz einfache Definitionen zu »B-Film«, »Exploitationfilm« und »Mainstream-Film« (Filmprofis können diesen Absatz überspringen). »B-Filme« werden üblicherweise so genannt, weil sie über ein geringes Budget verfügen, und/oder (meist »und«) auf Grund deren Inhalte (reißerische Thematik, kruder Stil, niedriger Anspruch, etc.). »Exploitationfilme« (to exploit: ausnutzen) sind meist so etwas wie eine härtere, deftigere Art von B-Filmen. Sie haben ein oder mehrere reißerische Elemente (Frauen in heruntergekommenen Gefängnissen, ethnische Spannungen, Nazi-Konzentrationslager, Vergewaltigung, etc.), die meist mit einem erhöhten Maß an Gewaltdarstellung einhergehen. Manchmal sind auch sexuelle Inhalte der Fokus, oder ein aktueller Trend wird kommerziell ausgenutzt. Der Begriff »Mainstream« ist schwammig, aber ich fasse ihn weit und meine mit Mainstream-Filme all jene, die über ein...