Einleitung
Die Germanistik ist (noch immer) eine klassische Buchwissenschaft; auch die Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen beschäftigt sich vor allem mit Büchern. Da lag es nahe, zwanzig Jahre Arbeitsstelle Holocaustliteratur mit einem Buch zu feiern, wenngleich ein zwanzigster Geburtstag gewöhnlich keine Festschrift mit sich bringt. So ist es auch keine Festschrift im eigentlichen Sinne geworden, ebenso wenig soll der Band in eine institutionelle Nabelschau münden. Vielmehr bietet der Geburtstag nur Anlass und Ausgangspunkt, den Blick auf 85 Jahre Holocaustliteratur (und die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit ihr) zu richten, auf den Gegenstand unserer Arbeit.
Damit ist ein weiter Bogen von den ersten Berichten der aus den Lagern Geflohenen wie Hans Beimler oder den Fiktionalisierungen von Exilanten wie Ferdinand Bruckner oder Lion Feuchtwanger über Zeugnisberichte der Nachkriegszeit und Editionen von Tagebüchern und anderen Zeugnissen der Zeit bis hin zur Prosa der dritten und vierten Generation ›nach Auschwitz‹ geschlagen. Die Zahl dieser Werke, das deutet sich hier schon an, geht in die Tausende. Sie ist weder von darauf spezialisierten Einrichtungen wie der unsrigen noch gar von Einzelnen wirklich zu überblicken. Daher soll dieses Buch gar nicht erst den Versuch unternehmen, eine wie auch immer geartete Repräsentativität oder gar einen Kanon ›klassischer‹ Holocaustliteratur herzustellen. Welches Kriterium auch immer man hier anlegte, ein Band mit zwanzig Beiträgen müsste zwangsläufig eklatante Lücken aufweisen. So ist es auch mit diesem Buch.
Allen Beiträgerinnen und Beiträgern haben wir eine Auswahlliste mit Vorschlägen zugeschickt, aus der sie sich ein Werk aussuchen konnten. Aber auch Vorschläge jenseits dieser Liste waren willkommen und wurden gemacht. Herausgekommen ist die vorliegende, relativ bunte Mischung an Werken. Auffallen mögen hier vielleicht zunächst Leerstellen – weder Primo Levi noch Eli Wiesel, noch Anne Frank sind vertreten, auch Anna Seghers und weitere ›Klassiker‹ fehlen. Stattdessen finden sich Bücher von Boris Cyrulnik, Rudolf Kalmar oder Hans Scholz, die heute entweder weitgehend unbekannt sind oder aber nur wenigen zu einem Band über Holocaustliteratur eingefallen wären. Hier wollten die Herausgeber nicht ›korrigierend‹ eingreifen, schien doch eine solche Mischung reizvoll – zum einen ein mitunter recht persönlicher Blick auf weithin bekannte Werke, zum anderen mehr Aufmerksamkeit für jahrzehntelang vergessene oder weniger einschlägige Titel.
Eine solche zufällig entstandene Auswahl zeigt bei aller Vorsicht vor Überinterpretationen vielleicht doch eine Entwicklung an, die sich ein wenig von den ›Klassikern‹ ab- und bislang vernachlässigten oder lange in Vergessenheit geratenen Werken (wieder) zuwendet. Dies scheint ein Trend sowohl auf dem Buchmarkt der letzten Jahre als auch in den Geschichts- und Literaturwissenschaften zu sein. Eine ganze Reihe von Editionen ließe sich hier einordnen; und auch die Forschung widmete und widmet sich in jüngerer Zeit vermehrt solchen Publikationen.
In mancher Hinsicht schließt sich so momentan ein Kreis in der Entwicklung der Holocaustliteratur, indem eine ganze Reihe von Werken wieder zugänglich gemacht wird, die vor über 70 Jahren schon einmal publiziert, damals aber kaum rezipiert wurden. Dazwischen liegt ein langer Weg, der hier in groben Strichen nachgezeichnet werden soll.
Holocaustliteratur gibt es seit den ersten Tagen der nationalsozialistischen Herrschaft. Schon im Sommer 1933 erschienen die ersten Werke, die sich literarisch und in Form von Zeugnisliteratur mit der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten zunächst gegen politische Gegner und gegen Juden auseinandersetzten. Dabei wies die Holocaustliteratur bereits in dieser frühen Phase nahezu die gesamte Bandbreite auf, die sie heute noch hat – Erinnerungsberichte, Romane, Erzählungen, Gedichte, Dramen, dokumentarische Literatur und andere mehr erschienen seit 1933 in vielen Sprachen und Staaten der Welt. Vor allem berichteten und schrieben zunächst aus Deutschland entkommene und vertriebene Künstler sowie ehemalige KZ-Häftlinge, die geflohen oder entlassen worden waren. Dies waren neben bekannten Leuten wie Lion Feuchtwanger, Friedrich Wolf, Hans Beimler oder Ferdinand Bruckner auch weniger bekannte wie Max Abraham oder zahlreiche andere, die aus Sorge um ihre Angehörigen anonym berichteten. Aber auch Beobachter von außen schrieben über die Verbrechen des NS-Regimes, die sich schließlich in weiten Teilen vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielten. Oskar Singer zum Beispiel, der später selbst Opfer des Holocaust werden sollte, veröffentlichte 1935 in Prag das Drama Die Herren der Welt, in dem er die Ausgrenzung der Juden im benachbarten Deutschen Reich szenisch bearbeitete.[1]
So wie die gesamte Bandbreite und Vielfalt der Holocaustliteratur schon seit 1933 vorhanden war, so traf sie, wie in den folgenden Jahrzehnten auch immer wieder, bereits in den dreißiger Jahren auf Ablehnung, auf Überdruss sowie auf Zweifler und Leugner. So schreibt zum Beispiel ein unbekannter Rezensent in der Schweizer Zeitung Vaterland am 20. Dezember 1935 in einer Kritik zu Walter Hornungs Buch Dachau. Eine Chronik (Zürich 1935): »Wer die ›Moorsoldaten‹ gelesen hat, wird in diesem Buche nicht viel Neues finden. Man kann sich darum fragen, warum es erscheinen mußte – es gibt wahrlich genug Schilderungen aus deutschen Konzentrationslagern«[2]. Diese frühe Abwehrhaltung entwickelte sich zu einem Topos, der die Holocaustliteratur während der folgenden Jahrzehnte hartnäckig begleiten sollte, ohne jedoch Einfluss auf deren Entwicklung nehmen zu können.
Die Werke stießen freilich nicht nur auf Ablehnung. Im Gegenteil – es gab seit den ersten Wochen des NS-Regimes und seiner brutalen Verfolgungspraxis auch Initiativen, und schließlich auch Institutionen, um diese zu dokumentieren. Neben offiziellen Verlautbarungen des Regimes und Zeitungsausschnitten bildeten dabei die Berichte derjenigen Verfolgten, die auswandern durften oder aber illegal ins Ausland flohen, eine zentrale Grundlage.
Die wohl bekannteste und bis heute aktive Einrichtung ist die Wiener Library. Ins Leben gerufen hatte sie der deutsche Jude Alfred Wiener, der bereits vor 1933 die aufstrebenden Nationalsozialisten bekämpft hatte. Er floh 1933 in die Niederlande, wo er das Jewish Central Information Office gründete, das sofort mit der Sammlung von Material begann und für seine Verbreitung sorgte. 1939 zog Wiener mit seiner Institution nach London, wo das Umschlagfoto für diesen Band entstand und wo sie auch heute noch beheimatet ist.[3] Ein wichtiger Grundstock seiner Sammlungen waren und sind die Zeugnisse der Verfolgten, die weiterhin innerhalb und außerhalb des deutschen Herrschaftsbereichs entstanden.
Während des Kriegs ging zwar die Zahl der publizierten Werke signifikant zurück, allerdings entstanden in dieser Zeit Tausende, wenn nicht Zehntausende Zeugnisse. Hatten schon vor dem Krieg etliche Verfolgte Tagebuch geschrieben, stieg ihre Zahl nun sprunghaft an. In den Hunderten Gettos im besetzten Polen und im gesamten Ostmitteleuropa führten viele Tagebuch, legten Chroniken an[4], etablierte Schriftsteller unter den Gettobewohnern schrieben auch dort weiter Prosa oder dramatische Texte[5]; manch einer griff hier zum ersten Mal zum Stift und versuchte, seine Erfahrungen literarisch, etwa in Gedichtform, zu verarbeiten. Auch in den Lagern schrieben die Häftlinge, wenn auch dort die Bedingungen dafür sehr viel schwieriger waren. In dieser Zeit entstanden zentrale Werke der Holocaustliteratur wie die Tagebücher von Victor Klemperer, Anne Frank, Adam Czerniaków, Emanuel Ringelblum und vielen anderen mehr; Romane wie Das siebte Kreuz von Anna Seghers, Die Karwoche von Jerzy Andrzejewski oder Revolte der Heiligen von Ernst Sommer. Die Zahl der entstandenen Werke lässt sich nicht einmal annähernd beziffern; veröffentlicht wurden die wenigsten noch in jener Zeit. Das Gros kam erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit, viele dieser Zeugnisse aber verschwanden, wie ihre Verfasser, für immer unter den Trümmern der Gettos, in den Lagern und anderswo.
Bis zum Kriegsende im Frühjahr 1945 erschienen, außerhalb Deutschlands freilich, immerhin über 110 selbstständige Werke der Holocaustliteratur auf Deutsch; für andere Sprachen liegen keine auch nur annähernd gesicherten Zahlen vor. Nach dem Krieg änderte sich die Situation grundlegend, da nun die noch lebenden Häftlinge aus den Konzentrationslagern befreit wurden und nunmehr unter alliierter Hoheit auch in Deutschland die Möglichkeit bestand, von den erlittenen Verfolgungen zu berichten. So wundert es nicht, dass über 350 deutschsprachige Werke alleine bis 1949 publiziert wurden, zu denen noch Tausende Berichte zu rechnen wären, die in den Zeitungen und Zeitschriften Nachkriegsdeutschlands abgedruckt wurden.
Vor allem die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten gegen politische Gegner rückten zunächst in den Vordergrund, da diese vermehrt berichteten. Aber auch Zeugnisse über die Verfolgungs- und Mordpolitik gegen die europäischen Juden sowie originär literarische, fiktionale Bearbeitungen erschienen. Die Werke dieser Jahre zeichnen sich in besonderem Maße durch einen hohen Zeugnisdruck aus, der sich mitunter schon jahrelang aufgestaut hatte. Expressive Gewaltdarstellungen und drastische Schilderungen des...