Einleitung
Dieses Buch beschreibt Theorie und Praxis des Holotropen Atmens, einer von uns beiden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entwickelten neuen Methode der Selbsterforschung und Psychotherapie. Das Holotrope Atmen führt Elemente aus den unterschiedlichen Ansätzen der Tiefenpsychologie – der Theorie und Praxis der Schulen von Freud, Reich, Rank und Jung – zusammen und integriert diese; hinzu kommen Einsichten der modernen Bewusstseinsforschung und der Anthropologie sowie Praktiken der östlichen Spiritualität und der mystischen Traditionen der Welt (eine Erklärung des Begriffs „holotrop“ findet Sie auf Seite 39). Zwar haben wir das Holotrope Atmen seit mehr als dreißig Jahren im Rahmen unserer Workshops, von internationalen Konferenzen und bei der Ausbildung von Facilitatoren auf der ganzen Welt praktiziert, aber dieses Buch ist die erste umfassende Darstellung von Theorie und Praxis dieser neuen Strategie der Psychotherapie und Selbsterforschung.
Das Buch beginnt mit einem kurzen Überblick über die historischen Wurzeln des Holotropen Atmens. In Kapitel 1 erkennen wir den Einfluss der bahnbrechenden Arbeit von Sigmund Freud an, dem Begründer der Tiefenpsychologie, aber auch der Arbeit seiner Schüler, die das Verständnis der menschlichen Psyche weiter vertieft haben. Das Holotrope Atmen hat zudem bestimmte Elemente mit den erfahrungsorientierten Therapien gemeinsam, die während der 1960er Jahre im Rahmen der Humanistischen Psychologie auftauchten. Die Entdeckung der machtvollen psychoaktiven Wirkungen von LSD-25 und unsere Erfahrung mit der psychedelischen Therapie machten es uns möglich, die tiefsten Winkel der Psyche auszuloten und das erstaunliche therapeutische Potenzial außergewöhnlicher Bewusstseinszustände zu erkennen. Das Kapitel endet mit einer Darstellung der Ursprünge der Transpersonalen Psychologie, jener Disziplin, die das theoretische Fundament für das Holotrope Atmen liefert.
Kapitel 2 erörtert, inwiefern die Arbeit mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen unser Verständnis der Natur des Bewusstseins und der menschlichen Psyche in Krankheit und Gesundheit verändert. Diese „Psychologie der Zukunft“ (Grof 2000), die für die Ausübung des Holotropen Atmens unerlässlich ist, liefert uns eine enorm erweiterte Landkarte der Psyche, eine Karte, die sich nicht wie das Modell der akademischen Psychologie auf die nachgeburtliche Biografie und das freudsche individuelle Unbewusste beschränkt. Sie umfasst zwei wichtige zusätzliche Bereiche, den perinatalen (in Zusammenhang mit Erinnerungen an die biologische Geburt stehenden) sowie den transpersonalen Bereich (das historische und archetypische kollektive Unbewusste). Gemäß diesem neuen Verständnis der „Architektur der Psychopathologie“ liegen die Wurzeln von emotionalen und psychosomatischen Störungen nicht allein im Säuglingsalter und in der Kindheit, sondern sie reichen tief in diese bisher verkannten Bereiche des Unbewussten hinab. Diese scheinbar entmutigende Entdeckung wird aufgewogen durch die Entdeckung neuer, wirksamer therapeutischer Mechanismen, die uns in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen auf der perinatalen und der transpersonalen Ebene des Bewusstseins zur Verfügung stehen.
Die neuen Erkenntnisse zur Strategie der Selbsterforschung und Therapie stellen die wahrscheinlich radikalsten Innovationen der neuen Psychologie dar. Das breite Spektrum der psychotherapeutischen Schulen und der erstaunliche Mangel an Übereinstimmung zwischen ihnen in Hinsicht auf die fundamentalsten Aspekte von Theorie und Praxis sind Ausdruck der unzulänglichen Strategie, die ihnen allen (mit Ausnahme der Analyse nach Jung) gemeinsam ist. Sie versuchen nämlich, ein intellektuelles Verständnis der Funktionsweise der Psyche zu gewinnen und daraus dann eine Technik abzuleiten, die es ermöglicht, diese Funktionsweise zu korrigieren. Die Arbeit mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen bietet eine völlig neue Herangehensweise, die den therapeutischen Prozess wesentlich vereinfacht. In diesen Zuständen wird ein „inneres Radar“ aktiviert, das automatisch das Material mit starker emotionaler Ladung ausfindig macht und es zur Bearbeitung ins Bewusstsein hebt. Der Therapeut greift nicht aktiv in diesen Prozess ein, sondern er ist ein „Mitabenteurer“, der das Geschehen auf intelligente Weise unterstützt.
In einem wichtigen Teil des zweiten Kapitels wird das Problem von Spiritualität und Religion angesprochen. Die traditionellen Psychiater und Psychologen haben sich einer materialistischen Einheitsweltanschauung verschrieben, in der es keinen Raum für irgendeine Form von Religion oder Spiritualität gibt. Dagegen basiert die Arbeit der Facilitatoren des Holotropen Atmens auf der Transpersonalen Psychologie, einer Disziplin, die eine auf direkter persönlicher Erfahrung beruhende Spiritualität als legitime und wichtige Dimension der menschlichen Psyche und des menschlichen Lebens ansieht. Viele Beobachtungen aus der holotropen Atemarbeit und aus anderen Ansätzen, die mit außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen arbeiten, sind so einschneidend, dass sie nicht nur das Denkgebäude der gängigen Psychologie und Psychiatrie unterminieren, sondern auch die metaphysischen Grundannahmen der westlichen Wissenschaft über die Natur des Universums und die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie infrage stellen.
Kapitel 3 erörtert die Grundbestandteile des Holotropen Atmens und macht deutlich, dass sie im rituellen Leben der Stammeskulturen und in den spirituellen Praktiken der Weltreligionen sowie in verschiedenen mystischen Traditionen wurzeln. Hier erkunden wir die wesentliche Rolle, die Atmung und Musik im Verlauf der gesamten menschlichen Geschichte gespielt haben – in Heilungszeremonien und als wichtiges Element unterschiedlicher „Technologien des Heiligen“. Der nährende Körperkontakt und die Körperarbeit, die im Holotropen Atmen angewendet werden, haben gleichfalls Vorläufer in verschiedenen Ritualen der Eingeborenen. Auch das Mandala-Malen, das den Prozess der Integration von holotropen Erfahrungen unterstützen soll, hat bereits eine lange Geschichte in den Ritualen der Stammeskulturen, im spirituellen Leben alter Zivilisationen sowie in den religiösen Traditionen des Ostens.
In Kapitel 4 findet sich eine detaillierte Darstellung der Praxis des Holo-tropen Atmens: Wie man ein sicheres Umfeld mit einer tragenden zwischenmenschlichen Unterstützung für die Teilnehmer schafft, wie man sie theoretisch und praktisch auf eine Sitzung vorbereitet, und wie man zuvor sicherstellt, dass es keine körperlichen oder emotionalen Kontraindikatio-nen gibt. Hier werden die grundlegenden Prinzipien für die Durchführung einer Atemsitzung erörtert sowie die Rolle der Begleiter (Sitter) und der Facilitatoren sowie die Natur der Erfahrungen, zu denen es in einer holotropen Atemsitzung kommt. Ein wichtiges Thema in diesem Kontext ist das Mandala-Malen und die Anleitung von Gruppen, in denen die Erfahrungen aufgearbeitet werden.
Das Ergebnis einer holotropen Atemsitzung hängt ganz wesentlich von der guten Integration der Erfahrung ab. In Kapitel 5 werden wichtige Aspekte dieses Prozesses beschrieben: Wie man die bestmöglichen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Integration schafft, wie man den Übergang ins Alltagsleben erleichtert, welche Wechselwirkungen mit der jeweiligen Kultur zu beachten sind und wie man die Nachbereitungsgespräche durchführt. Dabei gehen wir insbesondere auf die verschiedenen therapeutischen Ansätze ein, die sich zur Ergänzung der Atemarbeit eignen und die eine Integration der holotropen Erfahrung erleichtern – unter anderem die Gestalttherapie, gute Körperarbeit, Ausdruck durch Malerei und Tanz, Jacob Morenos Psychodrama, die Sandspieltherapie von Dora Kalff, Francine Shapiros EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) und Bert Hellingers Familienaufstellung.
Das Holotrope Atmen ist eine radikale Neuerung auf dem Gebiet der Psychotherapie und weicht in vielerlei Hinsicht von den konventionellen Ansätzen ab. Zu seinen Besonderheiten gehören das Erzeugen außergewöhnlicher Bewusstseinszustände, die Verwendung ungewöhnlicher Musik von großer Lautstärke, der Ausdruck starker Emotionen und heftige körperliche Reaktionen sowie enger Körperkontakt. Dies alles kann bei Personen, die nicht mit dieser Arbeit vertraut sind, starke Reaktionen auslösen. Kapitel 6 trägt die Überschrift „Herausforderungen und Schwierigkeiten für die Facilitatoren des Holotropen Atmens“. Es ist eine Sammlung von Geschichten über abenteuerliche Erfahrungen und Herausforderungen, denen wir bei der Durchführung von Workshops des Holotropen Atmens in verschiedenen Erdteilen und in unterschiedlichen Kulturkreisen begegnet sind.
In Kapitel 7 geht es um das therapeutische Potenzial des Holotropen Atmens und um die Mechanismen von Heilung und Transformation, die in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen zugänglich werden. Wir erörtern die positiven Auswirkungen, die diese Herangehensweise bei einer Vielzahl von emotionalen und psychosomatischen Störungen haben kann, ja sogar bei einigen Krankheiten, die nach Ansicht der Schulmedizin organischer Natur sind. Ein anderer wichtiger Aspekt der Wirkung des Holotropen Atmens sind seine Konsequenzen für die Persönlichkeit, die Lebensführung und das Wertesystem. Mit Beispielen der Erfahrung von Menschen, die von amerikanischen und australischen Ureinwohnern abstammen, zeigen wir, welches Potenzial zur Heilung von kulturellen Wunden und zur Auflösung historischer Konflikte das Holotrope Atmen hat.
Kapitel 8 erkundet die therapeutischen Mechanismen, die in der holotropen Atemarbeit...