Einleitung
Wo auch immer Hugo Höllenreiner seine Geschichte erzählt: Man kann im Saal eine Stecknadel fallen hören. Tausende junger Menschen haben ihn in den vergangenen 20 Jahren bei seinen Vorträgen erlebt. Danach gab es oft nichts mehr zu sagen; die Bilder, die er in den Köpfen der Zuhörer hervorgerufen hat – sie wirken jedoch weiter.
Bildungsarbeit im Schatten von Auschwitz: verändernde Praxis
Das vorliegende Buch ist ein Ergebnis dieser Wirkung. Alle Autorinnen und Autoren kennen Hugo Höllenreiner, viele sind ihm persönlich sehr verbunden. Sie sind berührt von seiner Geschichte, die für immer mit dem Ort, der ihn zeitlebens nicht mehr losgelassen hat, verbunden ist: Auschwitz. Sein Zeugnis wirkt weiter. Es verändert den Blick auf die Menschen, auf die Welt, auf das eigene Leben und auf den Bereich, in dem wir arbeiten. Das Zeugnis eines überlebenden Sinto eröffnet Perspektiven für eine erinnerungssensible Bildungsarbeit: Erinnern, das die unschuldigen Opfer der Geschichte nicht vergisst, ist der Gegenwart verpflichtet. Der Schatten von Auschwitz, er führt zur Grundlagenarbeit in Ethik, Literaturwissenschaft, Geschichte, (Religions-)Pädagogik und Politik. Bildungsprozesse werden auf diesem Hintergrund zum Ausgangspunkt einer verändernden Praxis, weil von Auschwitz her die Dinge dieser Welt anders aussehen und unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten (immer wieder) einer grundlegenden Kritik ausgesetzt sind. Den Schatten von Auschwitz auf dieser Welt zu sehen, ist identisch mit dem Aufruf, sie zu verändern – um der Menschen willen.
Die Erinnerungen der überlebenden Sinti und Roma – eingeschrieben in die Geschichte
Das ist ein mühsamer Prozess. Nur langsam und unter großen Anstrengungen gelingt es den Sinti und Roma, ihre Erinnerungen und Anliegen in der Öffentlichkeit angemessen zu Gehör zu bringen. Keineswegs wurden die, die 1945 der Vernichtung entronnen waren, mit offenen Armen wieder aufgenommen – ihre Diskriminierung ging anhaltend weiter. Auch und gerade die Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma lehrt, dass die Mechanismen von Ausgrenzung und Verfolgung lange vor 1933 begonnen haben und in Auschwitz kulminierten – nicht aber ihren Endpunkt fanden. Der weitgehende Ausschluss ihrer Erinnerungen – und damit ihrer Leidensgeschichte – aus allen kulturellen, pädagogischen und wissenschaftlichen Diskursen bis in die Gegenwart hinein kann nur als unglaublicher Vorgang bezeichnet werden. Auch dagegen mussten Hugo Höllenreiner und viele andere ankämpfen. Auch das ist Teil seines und ihres Zeugnisses von der Wahrheit „Auschwitz“, die 1945 mitnichten untergegangen ist. Es gehört zum bleibenden Auftrag, die Bedingungen, die Auschwitz ermöglicht haben, umfassend zu reflektieren und zu verändern. Die Mahnung „Nie wieder Auschwitz“ zielt auf nichts anderes.
Und gleichzeitig muss jeder sagen, was er meint, wenn er von Auschwitz spricht. Als Name für ein konkretes Geschehen in Raum und Zeit ist das am Ort selbst am intensivsten erfahrbar, wenn man sich Zeit lässt und auf die Botschaft der Gedenkstätte zu hören vermag. Dieser rassistisch motivierte Angriff auf die Menschlichkeit wird heute mit dem Begriff des „Zivilisationsbruches“ bezeichnet. In seiner ganzen Radikalität sagt er nichts anderes, als dass in den Todeslagern das Selbstverständnis vom „zivilisierten Menschen“ inexistent geworden ist. Alles, was bis dahin vertraut und sinnvoll, dem Menschen gemäß und der Gesellschaft geschuldet schien, ist dadurch infrage gestellt.
Verantwortete Bildung wird sich in Zukunft auch von daher bestimmen lassen, inwiefern sie die (verstummten) Schreie der Gequälten nicht ignoriert und sie mit aufnehmen kann in ihr Versprechen, „die Menschen (zu) stärken, die Sachen (zu) klären.“ (Hartmut von Hentig)
Bleibende Zeitgenossenschaft: Unterbrechung der Alltagsroutinen
Den Worten der Zeitzeugen kommt dabei bleibende Bedeutung zu, jedoch nur dann, wenn es gelingt, ihre Botschaft gerade in ihrem verstörenden und die Alltagsroutinen unterbrechenden Gehalt weiterzutragen. So bleiben sie für Gegenwart und Zukunft gefährliche Erinnerungen, die die ansonsten fraglose Kontinuität unserer Geschichte und unserer Lebensvorstellungen irritieren. Nach Auschwitz haben ethnische, soziale, kulturelle und ökonomische Ausgrenzungen und Diskriminierungen endgültig ihre Un-Schuld verloren und zeigen dies in einem so krassen Licht, das an dieser Stelle keiner weiteren Begründung bedarf. Selbst wenn der Nationalsozialismus als historische Epoche in die weitere Ferne rückt – der Menschheit ist fürderhin die bleibende (moralische) Zeitgenossenschaft zu Auschwitz eingeschrieben, zu der sie sich praktisch verhalten muss. Allerdings: Eine „Identifikation mit den Opfern“ gibt es letztlich nicht: Kein Medium, keine Imagination, keine Empathie führen in diese Hölle, in dieses „Jenseits der Menschlichkeit“. Die kennen nur die Überlebenden – hier muss das schreckliche Geheimnis von Auschwitz gewahrt werden und bleiben.
Die Anlage des Buches
In diesem Sinne will das Buch wirken. Ein erster Abschnitt (Begegnungen und Anstöße) sammelt Stimmen von Menschen, die mit Hugo Höllenreiner zusammengetroffen sind und diese Begegnung als bedeutsam für ihr Selbstverständnis oder ihr berufliches Tätigsein erfahren haben – in der Politik, in der Kunst oder einfach im Gespräch. Ein zweiter Abschnitt geht Über das Persönliche hinaus und entwirft Perspektiven für eine erinnerungssensible Bildungsarbeit von Menschen, die berufsmäßig mit der „Wissensvermittlung“ beschäftigt sind und durch die Einsprüche Hugo Höllenreiners ihre Arbeit einer Revision unterziehen. Das Kapitel Ein Auftrag: das Erinnern weitertragen macht deutlich, welche Aufgaben, anregenden Projekte und Impulse aus der Erinnerungsarbeit erwachsen – gerade in Bezug auf die Minderheit der Sinti und Roma. Zwischendrin informieren Historische Einwürfe über Grundsätzliches der Verfolgungsgeschichte und präsentieren neuere Forschungsergebnisse.
Dank
Das Buch wäre nicht möglich gewesen ohne Vertrauen, Tatkraft und Geduld. So danken wir vor allem den Verantwortlichen des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und des NS-Dokumentationszentrum München für das entgegengebrachte Vertrauen, das für uns gleichermaßen Verpflichtung war, ein entsprechendes Werk zu schaffen. Dies ging nicht ohne Einsatz und entschiedene Tatkraft – unser Dank geht an alle Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Kunst, Bildung und Politik; sie haben neben vielen anderen Aufgaben engagiert, konzentriert und unentgeltlich die Beiträge erstellt. Die Aufbereitung der Manuskripte begleiteten zuverlässige und liebe Menschen, danken dürfen wir den studentischen Hilfskräften Tanja Liedtke (Universität Koblenz-Landau, Campus Landau) und Rita Groh (Universität Regensburg).
Herzlich danken wir dem Förderverein der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz (IJBS) für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses; den Bildungsanliegen der Begegnungsstätte fühlen wir uns tief verbunden. Ebenso geht unser Dank an das Kulturamt der Stadt Ingolstadt für die freundliche Zusage, eine größere Zahl unseres Buches abzunehmen – möge das Werk auch in der neuen Heimatstadt Hugo Höllenreiners Verbreitung finden und Denkanstöße bieten.
Und eine große Portion Geduld war vonnöten: zu danken ist dem Lektor des Kohlhammer-Verlages, Herrn Dr. Daniel Kuhn, der mit großer Ruhe zeitlichen Verzögerungen zugesehen hat und dafür sorgte, dass dieses Buch zum 27. Januar 2014 erscheinen konnte. Geduld brauchten neben den Herausgebern aber auch die Autorinnen und Autoren angesichts mancher Wünsche und Änderungsvorschläge – Ihnen und Euch allen ein herzliches Dankeschön!
Alle Beiträge des Buches gehen von Hugo Höllenreiner aus: ihm, der mit seinen Erzählungen berührt und uns – trotz allem – seine vorbehaltlose Zuwendung geschenkt hat, ihm sei dieses Buch gewidmet. Am 13. September 2013 konnte er sein 80. Lebensjahr vollenden. Besser als wir es könnten, würdigen Romani Rose, Christian Ude und Ernst Grube mit ihren Beiträgen seine Lebensleistung und überbringen unser aller Glückwünsche!
München/Regensburg im November 2013
Matthias Bahr & Peter Poth
Geleitwort
Romani Rose
Mit großer Freude bin ich dem Wunsch der Herausgeber gefolgt, dieser Festschrift anlässlich des 80. Geburtstags von Hugo Höllenreiner einige persönliche Gedanken voranzustellen.
Hugo Höllenreiners Leben ist geprägt von der existenziellen Verfolgungserfahrung, die er als Kind im Nationalsozialismus, darunter im Lager Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, machen musste. Seine Familie ist seit Generationen in Bayern beheimatet. Unter seinen Vorfahren waren hochdekorierte Soldaten, die bereits im Ersten Weltkrieg und im Kaiserreich ihren Patriotismus unter Beweis gestellt hatten. Die überlieferten Dokumente der Familie, die vor den Nationalsozialisten gerettet werden konnten, entlarven das Stigma des „Fremden“ und des „Minderwertigen“, mit dem die NS-Propaganda unsere Menschen belegte, als zynischen Rechtfertigungsversuch einer menschenverachtenden „Rassenpolitik“.
So wie Hugo Höllenreiners Familie in München fest verwurzelt war, so waren die anderen Sinti-Familien integraler Bestandteil der Gesellschaft, bevor sie...