2.1 | Vorbemerkungen zu den Praxisberichten |
Im Folgenden wird die Entwicklung und Anwendung der H-FMEA in der Praxis beschrieben. Dabei handelt es sich um vier Betriebsprojekte. Da die Unternehmen in verschiedenen Branchen tätig sind, kann gezeigt werden, dass die H-FMEA in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen erfolgreich anwendbar ist.
In den beiden ersten Projekten bei den Firmen iwis (metallverarbeitende Industrie) und friedola (kunststoffverarbeitende Industrie) wurde die H-FMEA zunächst in ihrer ersten Fassung erprobt und optimiert. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen und insbesondere im Rahmen des dritten und vierten Projektes bei der Firma Adtranz (Schienenfahrzeugtechnik) und bei einem Lebensmittelhersteller konnte die H-FMEA in ihrer heutigen Form eingesetzt werden.
Im Anschluss werden die einzelnen Praxisberichte präsentiert. Hierfür werden die Unternehmen, die ausgewählten Untersuchungsbereiche und der Untersuchungsrahmen vorgestellt. Danach erfolgen eine detaillierte Beschreibung der H-FMEA-Durchführung sowie die Darstellung der erzielten Ergebnisse.
Nach etwa einem Jahr wurde bei den ersten drei Projekten eine Evaluation der erreichten Verbesserungen durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass die umgesetzten Maßnahmen und die erzielten Lerneffekte weiterhin wirksam geblieben sind.
Anhand der Beschreibung der Betriebsprojekte wird deutlich, welche positiven Effekte sich durch den Einsatz der H-FMEA erzielen lassen.
2.2 | Durchführung der H-FMEA bei der Firma iwis |
2.2.1 | Vorstellung des Projektpartners |
Die Firma iwis wurde 1916 gegründet. Heute ist das Unternehmen einer der führenden Hersteller von Motorsteuerketten auf dem in- und ausländischen Markt. Der Exportanteil liegt bei 35 %. Das Unternehmen erzielt mit 1.150 Mitarbeitern einen jährlichen Umsatz über 300 Millionen Euro (www.iwis.de, Stand: 5.2.2015).
2.2.1.1 | Unternehmensbereiche und Produktpalette |
Der Hauptgeschäftsbereich liegt auf dem Automobilsektor. Hier werden Ketten für den Antrieb von Ölpumpen, Nockenwellen sowie für den Massenausgleich im Automobil hergestellt. Ein weiteres Geschäftsfeld stellt die Produktion von Präzisionsketten für die Antriebs- und Fördertechnik der Industrie dar.
Bei Projektstart werden über 6.000 verschiedene Kettenvarianten (Motorsteuer- und Industrieketten) erzeugt. Die Stahlgelenkketten bestehen aus einer Anordnung einzelner Kettenglieder. Jedes Glied setzt sich wiederum aus Konstruktionsteilen zusammen, die der Übertragung von Zugkräften dienen, und aus solchen, die die relative Drehung zweier Glieder zueinander ermöglichen. Besonderer Wert wird auf die konstruktive Gestaltung der Gelenke gelegt. Eine Kette besteht aus Innen- und Außengliedern. Die Einzelteile werden in den entsprechenden Abteilungen aus Bandstahl gestanzt, tiefgezogen oder gerollt sowie wärme- und oberflächenbehandelt. In den Montagebereichen 1 und 2 werden sie zu Ketten montiert, danach erfolgt eine 100 %-Prüfung der Ketten auf Vollständigkeit, Gelenkigkeit sowie Oberflächen- und Montagefehler.
Bei iwis waren zu Beginn des Projektes ca. 570 Mitarbeiter beschäftigt. Die Anzahl der gewerblichen Mitarbeiter betrug dabei 393, im Angestelltenbereich waren es 177 Mitarbeiter. Der Bereich Produktion wurde überwiegend auf Gruppenarbeit umgestellt. Die Gruppen sind z. B. für die Arbeitszeit und die Urlaubsplanung zuständig.
2.2.1.3 | Kriterien für die Auswahl des Untersuchungsbereiches |
Kriterien für die Auswahl des Untersuchungsbereiches waren die Fehlerquoten und Kundenreklamationen. Durch einen Vergleich dieser Kriterien kam die Montage 1 in die nähere Auswahl für den Einsatz der H-FMEA.
2.2.2 | Produktfehleranalyse |
Der Untersuchungszeitraum für die Durchführung der H-FMEA wurde auf zehn Monate (April 1997 bis Januar 1998) und der Evaluationsbeginn auf November 1999 festgelegt. Die Untersuchungsmethoden waren die H-FMEA und ergonomische Messungen. Bild 2.1 gibt einen Überblick über das Untersuchungsdesign.
Bild 2.1 Untersuchungsrahmen der H-FMEA bei iwis
2.2.2.1 | Bereichsauswahl und Abbildung der Prozessabläufe |
Die Montage 1 steht am Ende des Herstellungsprozesses und ist somit für die volle Funktionsfähigkeit des Produktes verantwortlich. Allerdings musste innerhalb der Montage 1 ein Bereich eingegrenzt werden, der charakteristisch für die gesamte Montage ist. Da die Produktfehlerrate und die Reklamationen in der Gruppe G 67/68-3 höher lagen als in den anderen Gruppen, wurde die Analyse in diesem Arbeitsbereich durchgeführt. Er umfasst zwei komplette Montagestraßen und beschäftigt 16 Mitarbeiter.
Vorteilhaft erscheint die Tatsache, dass Gruppenarbeit eingeführt ist und die Gruppenmitglieder für Teamarbeit sensibilisiert sind. Schließlich ist die Mitwirkung der Mitarbeiter eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der H-FMEA.
Zunächst wurde ein Team gebildet. Dieses setzte sich aus Mitarbeitern der Produktion, der Segmentleitung, dem Kontrollpersonal und einem Projektverantwortlichen (wissenschaftliche Begleitung) zusammen. Durch die wöchentlichen Teamsitzungen ergaben sich sehr schnell die ersten positiven Effekte, da es zu einem permanenten Informationsaustausch und Feedback zwischen den Mitarbeitern der Produktion und dem Kontrollpersonal kam. Diesen Kommunikationsfluss hatte es zuvor nicht gegeben, da die Mitarbeiter relativ isoliert an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz arbeiteten.
Im Rahmen der ersten Teamsitzungen wurden die Prozessfunktionen erfasst und wurde ein Vorranggraph erstellt. Die in den einzelnen Prozessen anfallenden Handlungen sind in der Tabelle 2.1 auszugsweise dargestellt. Den jeweiligen Prozessen wurden entsprechende Zeitrangwerte zugeordnet. Dabei handelte es sich um betriebsinterne Werte. Zur Unterscheidung wurden die automatischen Vorgänge unterstrichen.
Tabelle 2.1 Erfassung der prozessbezogenen Handlungen in der G 67/68-3
Prozess | Handlungen/Operationen | Zeitrangwert |
1 IGLD-Montage | Teile anfordern, IGLD-Typ und Artikelnummer der Einzelteile auf Karte eintragen, Erststückprüfung durchführen, Teile i. O. (nein = Korrekturmaßnahmen laut Arbeitsanweisung), Innengliedmaschine bestücken, Vormontage von Innengliedern: 2IL/2 HÜ/2 RO, Innenglied bereitstellen, Maschine bestücken. | 1 |
2 Kettenmontage | Artikelnummer der Einzelteile in den Fertigungsauftrag eintragen, AL/IGLD/2 BO, IGLD/AL, Fertigungsauftrag mit Personalnummer abstempeln. | 2 |
3 & 4 Egalisieren/Nieten | Beachtung der Arbeitsanweisung, AL auf Maß montieren/DN/Sensorkontrolle der Kettenbreite und Steifigkeit,Eingabe der Kettenlänge laut Fertigungsauftrag, optische Kontrolle der Nietrollen. | 3 |
5 Belastung | Messung der Kettenlänge laut Fertigungsauftrag, Längenmessung/Belastung/Längenmessung, Rundlaufmessung/optische Vollständigkeitskontrolle. | 4 |
8 Endlosmontage | Beachtung der Arbeitsanweisung Entfernen von AL, Einstellen der Gliederzahl laut Fertigungsauftrag, Prüfung: Beölung und Reinigung i. O. (nein = Korrektur laut Arbeitsanweisung), Einsetzen von neuen AL, Vollständigkeit prüfen. | 5 |
Gelenkigkeit | Prüfung der Gelenkigkeit. | 4 |
Nach der Erfassung der Prozessfunktionen wurde ein Vorranggraph zur Visualisierung erstellt. Ziel war es, die Prozesse zur Herstellung von Ketten übersichtlich darzustellen. Der Vorranggraph verdeutlicht die komplexen Montagevorgänge und bringt sie in einen logischen Zusammenhang. Die Prozesse wurden mit laufenden Nummern versehen, die Pfeile stellen die Abhängigkeiten dar und geben die Montageflussrichtung an.
Bild 2.2 zeigt den Vorranggraphen für die Kettenfertigung in der G 67/68-3. Dabei wurden die einzelnen Prozesse durch unterschiedliche Farbgebung gekennzeichnet. Diese Gestaltung wurde während der gesamten Produktfehleranalyse beibehalten. Dadurch ließ sich jederzeit nachvollziehen, um welchen Prozess es sich handelt.
Bild 2.2 Prozessablauf in der G 67/G 68-3
2.2.2.2 | Prozessorientierte Produktfehlerklassifikation |
Mit Blick auf eine spätere Evaluation der durch den Einsatz der H-FMEA möglichen bzw. ausgelösten Verbesserungen war es erforderlich, den Ist-Zustand der Produktfehler hinsichtlich Typen, Häufigkeit und Auftretensform systematisch zu erfassen. Für diesen Zweck wurde das vorhandene Fehlererfassungsformular (Bild 2.3) in einer Gruppensitzung analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die Verwendung des Erfassungsbogens mit Schwierigkeiten verbunden war. Die Formulare wurden zum Teil auf unterschiedliche Art und Weise ausgefüllt, besonders problematisch erschien das Notieren der Arbeitswerte...