Ich glaube, dass niemand seinen Nächsten dadurch „retten“ kann
dass er für ihn eine Entscheidung trifft.
Die einzige Hilfe besteht darin,
dass er ihn in aller Aufrichtigkeit und Liebe
sowie ohne Sentimentalität und Illusionen
auf mögliche Alternativen hinweisen kann.
Die wichtigste aller falschen Alternativen
ist wohl die zwischen dem sogenanntem „Realismus“,
worunter man einen Automatismus versteht,
der keine Urteile auf Grund menschlicher Werte mehr kennt,
und einem Utopismus,
bei dem es keine realen und glaubwürdigen Ziele mehr gibt,
nur weil diese noch nicht realisiert sind.
Die echte Alternative zu Realismus und Utopismus
erwächst aus dem Syndrom von Denken,
Erkenntnis, Vorstellungsvermögen und Hoffnung.
Dieses befähigt den Menschen,
die realen Möglichkeiten zu sehen,
deren Keime bereits vorhanden sind.
Voraussetzungen für seelische Gesundheit
und das Überleben der Zivilisation
sind eine Wiederbelebung des Geistes der Aufklärung,
eines rücksichtslos kritischen und wirklichkeitsnahen,
jedoch von seinen überschwänglich optimistischen
und rationalistischen Vorurteilen befreiten Geistes,
und zugleich die Wiederbelebung humanistischer Werte,
die nicht gepredigt, sondern im persönlichen
und gesellschaftlichen Leben realisiert werden.
Ich glaube, dass der Einzelne so lange nicht
mit seiner Menschheit in sich in engen Kontakt kommen kann,
solange er sich nicht anschickt,
seine Gesellschaft zu transzendieren und zu erkennen,
in welcher Weise diese die Entwicklung
seiner menschlichen Potenziale fördert oder hemmt.
Kommen ihm die Tabus, Restriktionen, entstellten Werte
ganz „natürlich“ vor, dann ist dies ein deutlicher Hinweis darauf,
dass er keine wirkliche Kenntnis der menschlichen Natur hat.
Ich glaube, dass die Verwirklichung einer Welt möglich ist,
in der der Mensch viel „sein“ kann,
selbst wenn er wenig „hat“.
Vorwort von Rainer Funk
Wer versucht, den „roten Faden“ im Frommschen Werk zu benennen, der sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen zieht, wird zuerst auf seinen sozialpsychologischen Denkansatz stoßen, mit dem er die gesellschaftlich geprägten leidenschaftlichen Strebungen des Menschen aufspürte. Doch spätestens Ende der Dreißiger Jahre wird im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus dem Institut für Sozialforschung und den Auseinandersetzungen mit Horkheimer, Marcuse und Adorno noch etwas anderes, unverkennbar Frommsches sichtbar, das sich wie ein roter Faden durch sein Leben und Werk zieht: sein humanistisches Menschen- und Weltbild. Wann immer Fromm sein eigenes Denken kennzeichnen will, gebraucht er das Attribut „humanistisch“. Er spricht von einer humanistischen Wissenschaft vom Menschen, vom humanistischen Sozialismus, von der humanistischen Industriegesellschaft, vom humanistischen Gewissen, von der humanistischen Religion, vom humanistischen Management, von der humanistischen Weltanschauung, von der humanistischen Psychoanalyse, vom humanistischen Charakter, von der humanistischen Ethik und von der humanistischen Utopie.
Genau dieser humanistische Glaube an den Menschen führt bei der Beurteilung des Frommschen Denkens oft zur „Scheidung der Geister“: Wie kann Fromm, der ein Großteil seiner Verwandten in den Vernichtungslagern der Nazis verlor und die unheilvollen Auswirkungen der Selbstentfremdung des am Markt orientierten Menschen mit solcher Klarheit erkannt hat – und der gleichzeitig jede Erlösung von außerhalb nur als Ausdruck der Selbstentfremdung demaskiert –, wie kann Fromm da noch an den Menschen glauben?
Die Beiträge dieses letzten Bandes der Schriften aus dem Nachlass geben Antwort auf diese Frage, indem sie beides tun: Sie zeigen das ganze Ausmaß der destruktiven und heillosen Selbstentfremdung des Menschen von heute; gleichzeitig sprechen sie aber auch von den realen Möglichkeiten, die zum Glücken des Menschen führen können. Es gibt so lange eine „reale“ Utopie, solange der Mensch wenigstens noch ansatzweise einen Zugang zu seinen wachstumsfördernden Eigenkräften hat.
Ausgangspunkt des Frommschen Humanismus ist der durch die Einsichten der Psychoanalyse ermöglichte Glaube, dass das Unbewusste den ganzen Menschen und die ganze Menschheit repräsentiert. Das Unbewusste enthält das ganze Spektrum möglicher Antworten, und es kommt sehr darauf an, welche Möglichkeiten gefördert und welche gehemmt und verdrängt werden. Grundsätzlich aber hat
der Mensch in einer jeden Kultur alle Möglichkeiten: Er ist der archaische Mensch, das Raubtier, der Kannibale, der Götzendiener, und er ist zugleich das Wesen mit der Fähigkeit zu Vernunft, Liebe und Gerechtigkeit. (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 10.)
Da es den Menschen nicht anders denn als gesellschaftliches Wesen gibt, entscheidet die besondere Art von Gesellschaft, in der ein Mensch lebt, welche Möglichkeiten bevorzugt werden. Jede Gesellschaft formt die Energien der Menschen derart, dass sie das tun wollen, was sie zum Gelingen der Gesellschaft tun müssen. „So werden die Bedürfnisse der Gesellschaft in persönliche Bedürfnisse verwandelt, sie werden zum ‘Gesellschafts-Charakter’.“ (Humanismus und Psychoanalyse, 1963f, GA IX, S. 9.)
Jede Gesellschaft fördert aber nicht nur bestimmte Möglichkeiten, die im Unbewussten des Menschen zur Verfügung stehen, indem sie diese bewusst macht und sich der Einzelne mit ihnen identifiziert, es werden auch Möglichkeiten und Neigungen unterdrückt und verdrängt, die den gesellschaftlichen Verhaltensmustern – dem Gesellschafts-Charakter – widersprechen. So kommt es, dass
unser Bewusstsein hauptsächlich unsere eigene Gesellschaft und Kultur (widerspiegelt), während unser Unbewusstes den universalen Menschen in einem jeden von uns repräsentiert. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).
In seinem Unbewussten erlebt der Mensch die ganze Menschheit und sich
als Sünder und Heiligen, als Kind und als Erwachsenen, als geistig Gesunden und als Geistesgestörten, als Mensch der Vergangenheit und als Mensch der Zukunft (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223).
Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass der Humanismus seine Letztbegründung in der humanistischen Erfahrung, das heißt in der humanisierenden und produktiven Wirkung des Bewusstmachens des Unbewussten hat.
Diese humanistische Erfahrung besteht in dem Gefühl, dass mir nichts Menschliches fremd ist, dass „ich du bin“, dass ich ein anderes Wesen deshalb verstehen kann, weil beide die gleichen Elemente menschlicher Existenz gemeinsam haben. (...) Die Erweiterung der Selbst-Wahrnehmung, die Transzendierung des Bewusstseins und die Durchleuchtung der Sphäre des gesellschaftlichen Unbewussten wird dem Menschen die Möglichkeit geben, in sich die ganze Menschheit zu erleben. (Die Seele des Menschen, 1964a, GA II, S. 223.)
Mit der Erkenntnis, dass das Unbewusste unabhängig vom gesellschaftlich Bewussten und Verdrängten den ganzen Menschen mit all seinen Möglichkeiten repräsentiert, begründet Fromm also nicht nur theoretisch den humanistischen Glauben an die Einheit der Menschen; sobald ein Mensch sich auf sein Unbewusstes einlässt, sich seines Unbewussten bewusst wird und also seine anderen Möglichkeiten in Erfahrung bringt, entfaltet er sich, wächst er und macht er die paradoxe und produktive – oder wie Fromm gerne auch sagt: die humanistische – Erfahrung, dass er vernünftig und liebend zur Welt und zum Menschen bezogen sein kann, weil ihm nichts Fremdes mehr wirklich fremd ist. Nur im Sich-Einlassen auf das Unbewusste, auf den ganzen Menschen in mir, in der Verwirklichung meiner Individualität, komme ich zum Erleben des universalen Menschen, denn „nur das ganz entwickelte individuelle Selbst kann das Ego aufgeben“ (Jenseits der Illusionen, 1962a, GA IX, S. 154).
Das, was Fromm am meisten am Humanismus interessiert, was ihn dazu veranlasst, so häufig das Attribut „humanistisch“ zu gebrauchen und warum er eine Renaissance des Humanismus fordert, hat mit dieser humanistischen Erfahrung zu tun. Ihm geht es um das Humanistische im Sinne der Entfaltung der liebenden und vernünftigen Eigenkräfte des Menschen, um eine humanistische Orientierung und Haltung, wie er sie innerhalb seiner Charakterologie mit dem Begriff der Produktivität und der produktiven Orientierung, der Biophilie und Orientierung am Sein verdeutlicht hat. Je mehr der Mensch sich selbst als Autor, Akteur, Subjekt seines Lebens erfährt und also er selbst es ist mit seinen eigenen Kräften, der denkt, fühlt und handelt, entwickelt er auch seine Kräfte der Vernunft und der Liebe, mit denen er ganz bei der Welt und beim anderen Menschen sein kann, ohne sich selbst zu verlieren.
Die einzelnen Beiträge dieses Bandes entstanden in den letzten zwanzig Lebensjahren Erich Fromms. In ihnen erkannte Fromm das ganze Ausmaß der Selbstentfremdung des Menschen, ohne dadurch in seinem Glauben an den Menschen erschüttert zu werden.[1] Den Beiträgen liegen Vorträge (vor allem im 1. Kapitel) und Manuskripte zugrunde, die Fromm zu speziellen Anlässen formuliert hat (vor allem im 2. Kapitel, das humanistische Initiativen und Bekenntnisse enthält) oder als Buchmanuskripte verfasst hat (wie im abschließenden 3. Kapitel zur realen Utopie der Orientierung am Sein nach Meister Eckhart und Karl Marx). – Die Zusammenstellung der Beiträge, ihre Zuordnung und Gliederung sowie die meisten Überschriften stammen von mir als Herausgeber. Anmerkungen des Herausgebers zur Entstehung...