Vorstellungen verabschieden
»Ist sie nicht wieder toll gestylt?«, schwärmt Christian, der in der Modebranche tätig ist, über seine sechsjährige Tochter. »Das hat sie sich alles selbst ausgesucht und zusammengestellt. Lina hat schon ein unglaubliches Gespür für Mode – eine kleine Stylistin!« Christians Augen glänzen genauso wie die von Sabine, wenn sie von ihrem Sohn erzählt: »Tom schießt mit seinen sieben Jahren schon ein Tor nach dem anderen. Nächste Woche kommt der Scout vom FC Bayern zur Sichtung in unseren Verein. Ich schätze, Tom hat gute Chancen, genommen zu werden. Das wäre zwar sehr aufwendig – fünf Mal die Woche Training –, aber wir würden es natürlich voll unterstützen.«
Unsere Kinder sind Projektionsflächen unserer Träume, davon können wir uns nicht frei machen. Manche Eltern wünschen sich für ihr Kind alles, was sie selbst nicht erreichen konnten. Andere wünschen sich ein Mini-Me, das genauso werden soll wie sie selbst. Dann kommt die Pubertät. Aus Traumkindern werden junge Erwachsene mit Ecken, Kanten und eigenen Vorstellungen. Wir müssen feststellen: Vieles kommt anders, als wir dachten. Unsere Ideen für die richtigen Hobbys, unsere Bemühungen um die passenden Freunde und unsere Ziele für die erfolgreiche Schullaufbahn verlieren an Einfluss oder gehen ganz den Bach runter. Und wir machen uns die größten Sorgen. Warum eigentlich? Wir könnten ja auch interessiert beobachten, wie hier ein Individuum mit eigenen Ansichten heranwächst. Warum wehren sich so viele Eltern gegen den natürlichen Drang heranwachsender Kinder, sich auf eigene Füße zu stellen?
Aus besten Wünschen werden konkrete Vorstellungen
Unseren Wohlstandsgesellschafts-Kindern muss es an nichts fehlen – nicht an Zuneigung, nicht an Chancen, nicht an Unterstützung. Umso größer ist der Druck, den viele Eltern verspüren, das Beste aus diesen guten Voraussetzungen zu machen. Wir wünschen uns, dass es unserem Kind im Leben wohlergeht, und sehen es als unsere Aufgabe, dafür zu sorgen – vom ersten Tag an.
Zuallererst möchten wir Unangenehmes möglichst von ihm fernhalten. In unseren riesigen Mütter-Handtaschen findet es jederzeit etwas zu essen. Väter räumen regelmäßig das Ehebett und müssen es sich im Kinderbett auf 1,40 Meter Länge bequem machen, damit der Sprössling genügend Nähe und guten Schlaf bekommt. Mütter kämpfen für jeden übersehenen Punkt in der Schulaufgabe. Wir kennen das alle. Die Frage ist, ob es dabei immer um die Bedürfnisse des Kindes geht. Wenn wir ehrlich sind, geht es wohl auch um uns:
Nie war das Bestreben größer, als Mutter oder Vater perfekt zu sein und den Weg fürs Kind bestmöglich zu bereiten. All die Entscheidungen, die wir als Eltern treffen, sind bestens recherchiert und wohlüberlegt. Stundenlang habe ich gegoogelt, welches Spielzeug vom Material her unbedenklich ist und möglichst die Kreativität fördert! Ich habe zeitweilig täglich Kürbis an Reis gekocht und gevitamixt, obwohl es das Gericht von mindestens drei Biofirmen im Glas zu kaufen gibt. Und auch den unvermeidlichen Englisch-so-früh-wie-möglich-Kurs hat mein Sohn Leo mit vier Jahren brav besucht. (Nebenbei gesagt: ohne dass ich es seinen Englischnoten heute anmerke.)
Wir haben eine ziemlich konkrete Vorstellung vom idealen Leben für unser Kind. Und seine Entwicklung dahin ist das Ergebnis unserer unermüdlichen Bemühungen – davon sind wir überzeugt.
Einmal abgesehen von ein paar Trotzphasen funktioniert dieses Prinzip ja auch etwa zwölf Jahre lang gut – unsere Kinder folgen unseren Empfehlungen und erleben unsere klare Führung als normal und angenehm. Und wir freuen uns über Erfolge: Es ist unser Verdienst, wenn sich unsere Tochter oder unser Sohn nach unseren Vorstellungen entwickelt. Alles richtig gemacht, alles unter Kontrolle.
Wie unglaublich wichtig uns unsere – mehr oder weniger bewussten – Pläne sind, wird uns meist erst klar, wenn sie durchkreuzt werden. Das fängt ganz banal an – mit unseren Ideen für ihren Tag.
»Denkst du heute daran, Geschichte zu lernen, Leo.«
»Hmm.«
»Du hast ja sonst nichts vor, fahr doch auch neue Hefte besorgen, damit das Zettelchaos endlich ein Ende hat.«
»Ganz sicher nicht, bin zu kaputt.«
»Dann mach doch erst eine Pause, der Nachmittag ist ja lang.«
»Nerv nicht!« (Zimmertür schlägt zu)
Oder für ihre Nacht:
»Gehst du jetzt bitte ins Bett, Leo.«
»Es ist zehn Uhr, ich bin nicht müde.«
»Trotzdem, morgen musst du fit sein, und dafür brauchst du nun mal mindestens acht Stunden Schlaf.«
»Mama, wann kapierst du es endlich? Ich bin fünfzehn, du kannst mir keine feste Schlafengehzeit mehr aufdrängen. Ich gehe ins Bett, wenn ich müde bin. Und falls du dir Sorgen machst, dass ich bis in die Nacht wach bleibe, auch wenn Schule ist: Ich bin doch nicht komplett bescheuert!«
Ich möchte Leos Leben optimieren, ihm wichtige Ratschläge geben und ja, Ansagen machen. Das war viele Jahre ganz normal – obwohl er noch nie von der Sorte »Ich mache brav, was Mama und Papa sagen« war. Neuerdings aber ist es anders. Leo widerspricht mir nicht nur öfter, die ganze Situation ist völlig verändert: Ich auf der einen Seite versuche durchsetzungsstark aufzutreten, während mein Sohn auf der anderen mich gnadenlos auflaufen lässt und mir unmissverständlich zu verstehen gibt, wie »dein Ernst jetzt?!« unpassend er mein Verhalten findet. Ich fühle mich prompt lächerlich in meiner Rolle, und mich beschleicht immer öfter das Gefühl: Leo hat recht, manches geht mich nichts mehr an.
Mit Eintritt in die Pubertät wehren sich Heranwachsende meist unerwartet heftig dagegen, von ihren Eltern beeinflusst zu werden. Egal um was es geht, unsere Meinung zählt nicht mehr, erwachsene Pläne werden unerbittlich bekämpft, und wenn nur der Hauch einer Erwartung in der Luft liegt, löst das großen Widerstand aus. Warum? Jugendliche möchten ihre eigenen Vorstellungen vom Leben entwickeln – die der Eltern stehen dabei im Weg. Bettgehzeiten, Lernpläne, Klamotten und Essgewohnheiten sind da nur der Anfang. Aber schon die Diskussionen darüber geben uns ein erstes ungutes Gefühl von Kontrollverlust. Wir spüren, dass unser Verhalten nicht mehr richtig zur Situation passt, und je öfter uns dieses Gefühl beschleicht, desto unsicherer werden wir.
Und nicht nur das: Wenn wir mit unseren elterlichen Erwartungen abblitzen, kann das auch richtig schmerzhaft sein, besonders, wenn es um die emotionale Beziehung zu unserem Kind geht, so wie in diesem Beispiel:
Teresa freut sich riesig: Wie schon in den letzten sieben Jahren wird sie auch dieses Jahr in den Sommerferien für drei Tage mit ihrer besten Freundin und den beiden gleichaltrigen Söhnen Campen gehen. Aber etwas ist anders in diesem Jahr: Die Begeisterung des fünfzehnjährigen John hält sich im Gegensatz zu den Vorjahren in Grenzen. Schließlich lässt er sich von der Mutter überreden – es ist schließlich Tradition. Auf dem Campingplatz angekommen, beschließen die beiden Mütter, dass es Sache der jungen Männer sei, die Zelte aufzubauen. John sieht das anders: »Was für ein Scheiß bei der Hitze, das ist mir jetzt echt zu anstrengend, kein Bock, lass erst mal was trinken gehen.« Ben dagegen fügt sich (wie so oft) widerspruchslos dem Wunsch der Mutter, und sein Zelt steht binnen kurzer Zeit. Nach einer halben Stunde voller Diskussionen und gescheiterter Versuche, ihr Zelt auch nur ansatzweise zu errichten, liegen Teresas Nerven blank: »Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst zu motzen und dich in Zeitlupe zu bewegen, kannst du dein Handy für die Ferienzeit vergessen«, faucht sie ihren Sohn an, leise, aber mit viel Nachdruck. »Keine Ahnung, was mich geritten hat«, fügt sie hinzu, als sie mir später von der Szene erzählt, immer noch entsetzt über ihr eigenes Verhalten – denn mit Strafen zu drohen ist sonst gar nicht ihr Ding. Tatsache ist: John baut das Zelt jetzt auf. Doch der Preis ist hoch: Die gute Stimmung ist für die Campingtage dahin.
Teresa wird von ihrem Sohn unmissverständlich vor den Kopf gestoßen. Es beginnt damit, dass John – anders als sie selbst – das gemeinsame Campen von Anfang an nicht mehr als schönes Ritual, sondern als Last empfindet. Teresa kann ihn zwar überreden, aber er zeigt seine Unlust von Anfang an deutlich. Vor Ort prallen die Stimmungen dann im Streit um den Zeltaufbau aufeinander. Interessant und wohlbekannt an der Szene ist auch: Sobald unser Kind und unsere Beziehung zu ihm »öffentlich« wird, kämpfen wir nicht mehr nur mit unseren eigenen Erwartungen, sondern zusätzlich mit denen der anderen. Sich von der Freundin, die in »ekelhafter Einigkeit« mit ihrem Sohn ins Campen startet, beobachtet zu fühlen, verstärkt Teresas Enttäuschung und ihren Wunsch, der eigene Sohn möge sich doch auch nach ihren Vorstellungen verhalten. Ein seltsamer Mechanismus: Wir vergleichen uns mit anderen Eltern und Kindern, werden unsicher, wenn es bei denen besser läuft, und sind womöglich sogar erleichtert, wenn sie auch Probleme haben.
Es ist unser Perfektionismus, der uns in diese Wahrnehmung treibt. In Gesellschaft wird er noch größer: Wie finden die anderen mein Kind? Verhält es sich so, wie sie es erwarten? Je perfekter wir uns unser Kind aber wünschen, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit werden wir spätestens in der Pubertät mit herben Enttäuschungen unserer Erwartungen konfrontiert.
Es geht ums Ganze
Dabei geht es mit Beginn der Pubertät nicht mehr nur ums Tagesgeschäft. Plötzlich rückt das...