Den Diagnoseschock überwinden
Ich habe Krebs
Im März 1998 musste ich mich wegen immer wiederkehrender Hüftgelenksentzündungen in einer Klinik an der Ostsee, weit entfernt von meinem Heimatort, behandeln lassen. Ich war 35, hatte eine junge Familie und einen interessanten Halbtagsjob. Die Ärzte versprachen, mir sollte es bald wieder besser gehen. Meine Eltern hatten die Gelegenheit genutzt, um mit meinen Kindern, sie waren drei, fünf und sieben Jahre alt, im Sauerland Urlaub zu machen. Mein Mann Jo war zu Hause geblieben, er musste arbeiten.
In der Klinik bekam ich plötzlich heftige, stechende Schmerzen in der rechten Brust.
An einem sonnigen, frühlingshaften Tag im März, nach einer Vielzahl von Untersuchungen, fiel am späten Nachmittag die Diagnose. Drei Worte. Anderthalb Sekunden. Und die Erde blieb stehen.
Ich habe Krebs.
Nicht einen kleinen Tumor, sondern einen ungemein teuflischen, der wie ein gedehntes Netz meine ganze rechte Brust umspannte. Teuflisch, weil er trotz Mammographie und Ultraschalluntersuchung unerkannt geblieben war. Teuflisch, weil er größer war als ein Tennisball und trotzdem kaum tastbar. Tödlich, weil er bereits in die Lymphknoten gestreut hatte? Tödlich, weil ich erst 35 war? Die Ärzte waren betroffen, schauten zu Boden, sprachen leise und meinten, ich müsse so schnell wie möglich behandelt werden.
Ich muss sterben, dachte ich.
Erstarrt vor Todesangst wurde ich in mein Zimmer gebracht. Ich saß auf meinem Bett und bewegte mich nicht; ich konnte nicht wirklich sehen, nicht wirklich hören, weder klar denken noch normal fühlen. An der Wand mir gegenüber stand ein Wickeltisch, darüber bewegte sich langsam im Luftzug des geöffneten Fensters ein kleines Mobile aus gelben Papierenten. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte meine Tochter Charlotte auf einer Wickelkommode gelegen und fasziniert die kreisenden Teddybärchen eines Mobiles mit großen Kulleraugen verfolgt. Erinnerungsblitze der Vergangenheit – unendliche Traurigkeit. Auf dieser Frauenstation wurde auch Leben geboren … Noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart verlassen und einsam gefühlt. Ärzte und Schwestern glaubten mich gefasst, weil ich so ruhig war. Geschäftig, freundlich, aber wortkarg kamen sie herein und gingen wieder, ließen mich allein mit dieser schrecklichen, mir selbst völlig fremden Stille. Ich wollte sie festhalten, schreien: »Bitte, bleibt, bleibt doch, nehmt mich in den Arm, redet mit mir, holt mich raus aus diesem Zustand, ich will leben, ich will doch leben! Bitte, sagt mir, dass ich es schaffen kann! Ich habe doch Kinder!« Aber ich konnte es nicht. Die ganze Zeit verharrte ich in dieser Lähmung und war nicht einmal in der Lage, meine Familie anzurufen.
Für die Nacht erhielt ich, als Präventivmaßnahme sozusagen, eine Valiumtablette.
Noch nie zuvor hatte ich derart Schreckliches erlebt. Ein Unfallverletzter wäre mit »meinen« Symptomen sicherlich mehr überwacht worden. Man hätte sich um ihn gekümmert, mit ihm geredet. Aber mir war ja eigentlich nichts passiert, nichts »Akutes« zumindest; so war auch niemandem aufgefallen, dass ich unter schwerem Schock stand. Hätte mich doch nur jemand in den Arm genommen oder meine Hand gehalten, dann hätte ich vielleicht weinen können.
In den meisten Kliniken ist Zeit Mangelware. Dafür sorgt der drastische Stellenabbau zur Kostenreduzierung im Gesundheitswesen. Auch haben viele Ärzte Gesprächsführung und Mitteilen von lebensbedrohlichen Befunden nicht gelernt. Das ist kein Pflichtfach im Studium. Wir können also kaum erwarten, psychologisch aufgefangen zu werden, wenn die Diagnose Krebs fällt. Umso wichtiger ist es für jeden, der sich zur diagnostischen Abklärung begibt – wo immer auch diese stattfinden mag –, einen Angehörigen, Freund oder eine Freundin mitzunehmen.
Familie und Freunde erfahren von der Diagnose
Erst am Morgen »danach« rief ich Jo, Carmen und meine Eltern an. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, und kann mich auch kaum an die Reaktionen meiner Familie erinnern. Ich war immer noch wie betäubt, alles erschien mir so unwirklich, wie in einem Albtraum. Ich erinnere mich nur noch, dass Carmen anfing zu weinen, dann den Hörer auflegte und mich kurze Zeit danach zurückrief. »Ich bin immer für dich da«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, »ich bin immer für dich da.« Mir war, als weinte sie mit ihren Tränen auch die meinen, die einfach noch nicht fließen konnten.
Meine Eltern dagegen – ich hatte nur meinen Vater gesprochen – standen so sehr unter Schock, dass sie zunächst, genauso wenig wie ich, ihre Gefühle zum Ausdruck bringen konnten.
Mein Vater erzählte mir später, wie der Tag war, bevor ich anrief, und was dann passierte:
»Nach einem gemütlichen, ausgiebigen Frühstück waren wir gerade dabei, den Abwasch zu machen. Die Kinder sangen fröhlich Lieder; Sebastian spielte mit dem Spüli-Schaum, bauschte ihn auf seinen Handrücken zu Bergen auf, die durch die Sonnenstrahlen, die durch das kleine Küchenfenster hineinfluteten, glitzerten bzw. ›diamanten‹, wie Sebastian es nannte. ›Alle Vögel sind schon da‹ stimmten wir gerade an, als dein Anruf kam und uns alles fortnahm. Deine Stimme war fremd. Tonlos und im Telegrammstil sagtest du mir, du müsstest sterben. Brustkrebs im Endstadium. Und immer wieder: Papa, Papa, ich muss sterben.«
Meinem Vater brach es schier das Herz, und er verstummte einfach. Meine Mutter fing an zu weinen, und Sebastian fragte sie: »Oma, warum weinst du? Hat die Mama angerufen? Weinst du wegen ihr?« Mit großen Augen schaute er zu ihr auf und versuchte, sie zu trösten: »Ach, Oma, der Mama geht es doch gut da. Sie wird ganz gesund nach Hause kommen und wieder richtig laufen können.«
»Genau, Oma«, bekräftigte Lionel, »du brauchst nicht zu weinen. Mamas Hüfte wird wieder heil gemacht.«
Charlotte hatte gar nichts mitbekommen und sang weiter.
Das war der traurigste, schrecklichste Moment im Leben meiner Eltern.
Das Telefongespräch mit Jo war kurz und knapp. Seine Reaktion war anders als die meiner Eltern. Jo zeigte keinerlei Gefühle, weder Entsetzen noch Angst oder Traurigkeit. »Dann komm nach Hause oder lass dich direkt in eine Klinik hier vor Ort verlegen«, war sein praktischer Rat. Viel mehr sagte er nicht. Als hätte ich nur eine Blinddarmentzündung oder eine ähnlich harmlose Erkrankung. Ich stand zu sehr unter Schock, als dass ich hätte schreien können: »Jetzt komm zu mir! Ich habe Krebs!«, was ja eigentlich eine normale Gegenreaktion gewesen wäre. Jo verleugnete die Schwere der Diagnose, und umso mehr fühlte ich mich alleingelassen, ganz und gar nur auf mich gestellt.
Was wir glauben, über Krebs zu wissen
Bei der Diagnose Krebs fallen die meisten Menschen, ähnlich wie meine Familie und ich es erlebt haben, in einen schockähnlichen Zustand, der sich häufig durch Verwirrung, Erstarrung oder Verleugnung äußert. Krebs überfällt uns und schürt unbändige, nie gekannte Ängste.
Wie kommt es, dass Krebs unser Leben derart aus den Angeln heben kann, wo es doch zahlreiche andere lebensbedrohliche Erkrankungen gibt? Es sterben statistisch gesehen weitaus mehr Menschen an einem Herzinfarkt.
Was geschieht in einem solchen Moment mit uns? Erstarren wir, weil wir bei dieser Diagnose zum ersten Mal über den eigenen Tod nachdenken und uns mit ihm auseinandersetzen müssen, da er plötzlich so nah zu rücken scheint? Weil wir mit Krebs unendliches Leid verbinden, nämlich Operationen, Schmerzen, Verstümmelung, Chemo-, Strahlentherapie, Verlust der Berufstätigkeit, Siechtum und Sterben? Weil wir glauben, dass Krebs eine unheilbare Krankheit ist, die unweigerlich zum Tode führt? Woher kommen diese festen Vorstellungen?
Zum einen entstehen sie aus den Erfahrungen, die wir selbst in unserem Leben mit krebskranken Menschen gemacht haben, zum anderen aus Erzählungen von Freunden und Bekannten, aber auch aus den Medien, die fast täglich darüber berichten.
Was waren »meine« Erfahrungen mit Krebs? Mein Großvater war qualvoll in jungen Jahren an Krebs gestorben; meine Großmutter hatte Eierstock- und Gebärmutterkrebs mit nachfolgenden schmerzvollen Operationen – sie hat den Krebs aber überlebt und lebt heute noch; meine Mutter hatte in jungen Jahren Brustkrebs im Frühstadium – auch sie hat überlebt. Mit dem zusätzlichen Wissen aus Medienberichten hatte ich dann folgendes Verständnis: Krebs entsteht aus unseren eigenen Zellen, die plötzlich verrücktspielen, mutieren und sich unaufhörlich teilen. Bis heute weiß man noch nicht, warum unser Immunsystem versagt, wo die Kette der Abwehr nicht mehr funktioniert. Niemand hat so richtig die Kontrolle über die Krankheit. Krebs ist lautlos, schleichend und unheimlich. Er wächst im Verborgenen und wird oft erst sichtbar, wenn es bereits zu spät ist. Die Therapie kann qualvoll und langwierig sein, vielleicht sogar nicht einmal wirksam. Je früher der Krebs diagnostiziert wird, desto besser sind die Heilungschancen. Wenn die Erkrankung weit fortgeschritten ist, ist sie nicht mehr heilbar, der Tod steht sozusagen vor der Tür.
Was ich damals aber nicht wusste, war, dass es über hundert verschiedene Krebsarten gibt, die Wissenschaft in der Krebstherapie enorme Fortschritte gemacht hat, viele Krebserkrankungen geheilt werden können und es auch im fortgeschrittenen Stadium Chancen auf Heilung gibt. Dass bei Versagen einer Chemotherapie eine andere eingesetzt werden kann – vielleicht mit Erfolg. Ich wusste nicht, dass Chemotherapien auch gut vertragen werden, ebenso Strahlen,...