Prolog
Da steht er unten vor der Haustür und krakeelt zu mir hoch in den dritten Stock.
»Dominic, komm runter«, brüllt der ungebetene Besucher durch die Sprechanlage.
»Warum?«, frage ich gereizt.
»Los, komm aus deiner Wohnung!«
Die Stimme nimmt einen bedrohlichen Unterton an: »Dominic, komm jetzt runter und sag mir das mal alles ins Gesicht«, schreit der Mann.
Ich gehe zum Fenster und betrachte mir den Wüterich unten auf dem Bordstein eine Weile. Er trägt einen Vollbart, ist Anfang 30, mittelgroß und trommelt permanent gegen die Haustür. Ein diffuses Gefühl der Angst beschleicht mich. Ismail, so wollen wir ihn nennen, führt sich auf wie ein Wahnsinniger.
Wohlweislich spricht er mich nicht mit meinem muslimischen Namen Musa an, so wie er mich früher genannt hat, als wir noch Freunde waren.
In seinen Augen bin ich ein Verräter, ein Aussteiger, kein wahrer Muslim mehr. Einer, der sich in seinem Videoblog sowie in Interviews mit TV- und Printmedien gegen das radikal-islamische Gedankengut der hiesigen Salafisten-Szene wendet. Einer jener vermeintlich weichgespülten Muslime, die dem wahren Glauben den Rücken gekehrt haben. Für ihn bin ich ein Abtrünniger, kein Bruder mehr.
In meinen YouTube-Clips wende ich mich offen gegen die Propaganda führender Hassprediger wie Pierre Vogel, Sven Lau oder Ibrahim Abou Nagie. Sie treiben Hunderte junger sinnsuchender Menschen mit falschen Dogmen über den Islam den Terrormilizen »Islamischer Staat« (IS) oder »Dschunud asch-Scham« in Syrien und im Irak in die Arme.
Drei meiner Weggefährten folgten dem Lockruf in den »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen, die Kuffar. Einer dieser Dschihadisten kommandiert inzwischen eine »deutsche Einheit« einer tschetschenischen IS-Truppe. Dabei war Daniel früher ein eher scheuer, friedfertiger Mensch gewesen. Im Laufe der letzten Jahre wandelte er sich zu einem Hardcore-Salafisten.
Unten beginnt Ismail an meiner Haustür zu rütteln: »Komm jetzt runter und zeig, dass du so cool bist wie auf den Videos.«
So wie er reagieren viele meiner ehemaligen Mitstreiter, wenn sie mich auf der Straße in Mönchengladbach sehen. Die Brüder von einst wenden das Prinzip des Takfir gegen mich an: Ihrer Meinung nach bin ich ein Ausgestoßener aus der Gemeinschaft der wahren Gläubigen, weil ich mich von ihrer kruden salafistischen Lehre abgewandt habe.
Für sie gibt es keine Freundschaft zwischen Christen und Muslimen, keinen Frieden, sondern nur die islamische Mission (Da’wa). Wer sich weigert, den Glauben Allahs anzunehmen, wird auf ewig in der Hölle bestraft. So einfach, so unsinnig sind die Regeln.
Leute wie der Schreihals Ismail da unten sagen: »Du bist ein Heuchler, deswegen bist du raus.« Andere wiederum argumentieren: »Du bist sowieso raus, weil du nicht mehr unserem Weg folgst.« So oder so ist für mich das Leben nach meinem Ausstieg nicht leichter geworden.
Im Gegenteil. In Mönchengladbach geht es zu wie in einem großen Dorf. Zwangsläufig läuft man sich hier immer wieder über den Weg. Das gilt auch für ehemalige Freunde, die heute meine Feinde sind. Deshalb schaue ich mich immer wieder um, wer kommt aus welcher Richtung? Sobald ich meine Wohnung verlasse, schaltet mein Gehirn in eine Art Alarmmodus um. Automatisch scanne ich mein Umfeld, ein normales Leben ist längst nicht mehr möglich. Dreimal stand ich kurz vor einer Schlägerei. Im Internet und in den Kommentaren zu meinem Videoblog häufen sich die Drohungen.
Wenn ich etwa über die Kirmes in meinem Heimatviertel laufe, werfen mir viele junge Muslime böse Blicke zu. Oft sind es Jugendliche, die alles andere als einen gottgefälligen Lebenswandel betreiben. Sie kiffen, klauen, zocken Handys ab – und doch fühlen sie sich als die wahren Anhänger Allahs.
Ich aber gelte als der Heuchler (Munafiq), als ungläubiger Hund. Für salafistische Hardliner gibt es da nur ein Urteil: den Tod, weil ich ein sogenannter Abtrünniger bin (Murtad). Eine abstruse Weltsicht – gewiss, aber dennoch real und gefährlich.
Bis vor wenigen Jahren habe ich in vielen Aspekten genauso eindimensional gedacht, genauso gefühlt wie meine Gegner heute. Musa al-Almani haben sie mich damals genannt. Musa, der Deutsche. Musa, der Salafist. Ich war ein fanatischer Jünger Allahs.
Mit 17 Jahren bin ich zum Islam konvertiert, abgetaucht in eine fundamentalistische Parallelwelt voller Hass gegen alle Andersdenkenden, gegen die »ungläubigen« Christen und Juden. Vollgepumpt mit einer unbändigen Wut auf die normalen Bürger in meiner Heimatstadt Mönchengladbach, die nichts mit dem Koran am Hut hatten.
Ich war Musa, der Konvertit, ein Feind westlicher Werte, ein Gegner moderner Kleidung. Für mich gab es keine Musik mehr, kein Fernsehen, keine Frauen, keine Party, kein Spaß – keine Hobbys, keine Diskussion mehr, kein Nachdenken, kein kritisches Hinterfragen. Mein Leben orientierte sich an der Sunna, der Handlungsweise des Propheten Mohammed aus dem Frühmittelalter. Weltliche Gesetze kümmerten mich nicht. Als einzige Richtschnur folgte ich der Scharia, der islamischen Gesetzessammlung, die untreue Eheleute steinigen lässt und Dieben die rechte Hand abtrennt.
Doch das ist jetzt vorbei.
»Hör auf, über die Leute Lügen zu verbreiten«, schallt es zu mir herauf. Ismail redet sich weiter in Rage.
»Ich habe es nicht nötig, mich mit dir auseinanderzusetzen«, sage ich in die Sprechanlage. »Ich habe auch keine Angst vor dir.«
»Das ist mir egal«, erwidert Ismail, »die Zeit des Streichelns ist vorbei«, droht er in seiner sonderbar blumigen Sprache, die so typisch ist für Salafisten.
Lange Zeit dachte ich genauso wie der Randalierer an meiner Haustür, verblendet von der Idee, dass im Islam nur ein Gut oder Böse existiert. Wer nicht richtig glaubt, wer am Tag nicht fünf Mal die Gebete spricht und sich an die archaisch-salafistische Auslegung der Gebote des Propheten hält, der war in meinen Augen kein richtiger Muslim.
Ich folgte den Hasspredigern Pierre Vogel und Sven Lau, inzwischen Stars der stetig wachsenden Islamisten-Szene hierzulande. Vogel, ein Ex-Boxer aus Köln, gab mir im Jahr 2006 kurz nach meinem Übertritt zum Islam den Namen Musa, arabisch für Moses.
Schon damals erkannten beide die Bedeutung der Propaganda via Internet. Sven Lau machte mich zu seinem Videoproduzenten, der seine Botschaften über eigene YouTube-Kanäle ins World Wide Web einspeiste.
Ich gehörte zum engsten Kreis, als die salafistischen Ideologen in Mönchengladbach die Organisation »Einladung zum Paradies« (EZP) gründeten, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, und eine ganze Stadt gegen sich aufbrachten.
Ich war Zeuge, wie Vogel und Lau über die Jahre hinweg ihre Anhänger radikalisierten, und bekam hautnah mit, wie sie ihre ursprünglichen Werte verrieten.
Durch die Werbung im Netz erfuhr das Projekt EZP weit über die niederrheinischen Grenzen hinaus ein Riesenecho. Pierre Vogel avancierte zu einem der führenden Web-Imame der Republik. Im Netz erreichte die Salafisten-PR schnell die Resonanz, die die alte Predigergarde um den Leipziger Vorbeter Hassan Dabbagh mit ihren Islam-Seminaren nie erreicht hatte.
EZP schien der Schlüssel für Da’wa zu sein, für die Mission, für den Siegeszug der Salafisten in Deutschland. Ein islamischer Gottesstaat zwischen Schleswig-Holstein und Bayern? Nicht lachen bitte. Es gibt Eiferer, die von so etwas träumen. Diese Menschen wollen keine Wahlen, kein Grundgesetz, kein Parlament, keine Toleranz, kein Miteinander der Religionen. Ginge es nach ihnen, herrschte fortan eine dumpfe islamisch-religiöse Diktatur, gälten Scharia und Todesstrafe.
Davon will ich in diesem Buch erzählen – von der geistigen Brandstiftung, die eine friedliche Religion wie den Islam für ihre militanten Zwecke pervertiert. Ich will von meinem Leben unter radikalen Salafisten berichten, von einem Dasein in einer Sekte, von der schleichenden Gehirnwäsche, an deren Ende ein junger Mann namens Dominic sein ganzes früheres Ich, sein kritisches Denken, sein Selbst ausgeknipst hatte, als würde er seine Seele verkaufen.
Ich erging mich in hohlen Phrasen. Schnell verfestigte sich bei mir das Bild der unterdrückten Muslime durch den Westen, angeführt durch die USA. Unsere Religion macht uns stark, hieß es. Wir weichen keinen Millimeter zurück, lautete die Devise.
Von diesem Standpunkt aus war der Weg nicht mehr weit zur späteren Dschihad-Ideologie. Der Heilige Krieg gegen die Ungläubigen, ausgetragen anfangs in Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York, fortgesetzt in Somalia, im Jemen, im nordafrikanischen Maghreb, im Irak und in Syrien – stets erzählte man uns, diese kriegerischen Auseinandersetzungen seien einzig die Schuld des Westens.
Die Flugzeugattacken in die zwei Türme des World Trade Center werteten wir als Fake. Nicht Osama Bin-Laden und sein Terrornetzwerk Al-Qaida standen hinter dem Massenmord. In unserem Kreis kursierten absurde Verschwörungstheorien: Entweder fungierten die Israelis als Drahtzieher oder gar die US-Amerikaner. Wir glaubten, die damalige republikanische Regierung Bush wolle auf diese Weise ihren imperialistischen Feldzug gegen die Muslime legitimieren.
Ich glaubte jedes Wort, jeden Satz...