Eine Geschichte statt eines Vorworts
Rückblick: 9. April 2009
Ich bin mit unserem Sohn Raphael im Zug unterwegs nach Berlin, zu einem Kinesiologen, der wahre Wunder bei allen möglichen Krankheiten und Problemen vollbringen soll. Ob der Mann endlich die ersehnte Besserung in Bezug auf das Verhalten unseres Kindes bewirken kann? Doch ich komme gar nicht so weit, den Gedanken der Hoffnung zu Ende zu spinnen, denn Raphael klettert auf seinem Sitz herum. Ich ermahne ihn, das zu unterlassen. Er hört mich aber nicht, er ist im Kletterfieber, denn er will einen Marienkäfer am oberen Fensterrand erhaschen, und - wie ich ihn kenne - das Tier in die Freiheit entlassen. Ich fordere ihn nochmals auf, sich hinzusetzen, diesmal lauter. Noch immer keine Reaktion. Der Herr uns gegenüber zieht eine Augenbraue hoch. Nein, mir ist das nicht entgangen. Nach jahrelangem, unfreiwilligem »Training« erkenne ich derartige Anzeichen des Missfallens wegen der »Ungezogenheit« unseres Kindes sofort.
Gerade will ich ansetzen, ihm zu erklären, dass mein Sohn zwar kein organisches Hörproblem habe, aber ein psychisches: Die Schallwellen würden zwar bis zu seinem Trommelfell vordringen, dann aber nicht bis zum Gehirn weitergeleitet werden. Zumindest ist es das, was ich mir als Laie so vorstelle, weil ich es täglich erlebe, wie Raphael mich einfach wirklich nicht hört, obwohl mein Ton schon leicht über der Zimmerlautstärke liegt. Wenn er in etwas vertieft ist, hilft nur mehr eine Berührung, oder wenn das nicht möglich ist bzw. einem schon der Geduldsfaden reißt, bleibt nur, noch lauter zu werden.
Ich sehe den Herrn also noch mal kurz an, um abzuschätzen, ob eine solch unverständliche und eigentlich auch unglaubliche Erklärung bei ihm überhaupt ankommen würde. Doch dann lasse ich es sein. Ganz egal, wie er reagieren würde, ich bin es leid, der Verwandtschaft, den Nachbarn, den Erziehern in Kindergarten und Schule, aber auch Fremden ständig zu erklären, dass Raphael nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist, dass er eben anders ist. »Warum?« wäre die verständliche Frage. Und was sollte ich dann sagen? Ich weiß es selbst nicht mal.
Ich berühre meinen Sohn also am Bein und erkläre ihm, dass er mit seinen Schuhen den Sitzbezug beschmutzen könnte und der nächste Fahrgast damit wenig Freude hätte. Raphael schaut mich an wie einer, den man von weit hergeholt hat. Noch mal ein Blick zum Marienkäfer, den er gerne hätte; es rattert in seinem Kopf. Doch dann nickt er verständnisvoll, setzt sich hin und sagt: »Klar, Mama, würd ich auch nicht wollen, dass mir einer meinen Sitz versaut.« Fragezeichen in den Augen beim Herrn gegenüber. »So viel Einsicht und kein Zurückmotzen hätten Sie wohl von diesem ›Bengel‹ nicht erwartet?«, würde ich am liebsten sagen. Doch ich bleibe stumm.
Und das ist auch gut so, denn zwei Minuten später steigt Raphael erneut auf den Sitz, um sich etwas aus seinem Rucksack zu holen, der auf der Gepäckablage liegt. »Raphael, ich habe doch gesagt, du sollst nicht mit den Schuhen auf den Sitz steigen!« Abermals zuckt die Augenbraue gegenüber. »Au weia, Mama, hab ich vergessen.« Raphael setzt sich wieder und sieht leicht zerknirscht aus. Ich gebe ihm ein Puzzle, damit er beschäftigt ist, doch er blickt aus dem Fenster und hält den Spielkarton nur in der Hand. Sein starrer Blick verrät mir, dass er schon, während ich das Spiel gesucht habe, ins Traumland abgetaucht ist. Seine Hand hat er allenfalls unbewusst nach dem Puzzle ausgestreckt. Genauso unbewusst, wie er nun mit den Füßen zu zappeln beginnt und dem Herrn gegenüber dabei gegen das Schienbein tritt. Das merkt er allerdings nicht mal. Ich halte Raphaels Beine fest und entschuldige mich bei dem Mitreisenden. Mein Sohn sieht mich fragend an, als ob er sagen wollte: »Wofür entschuldigst du dich? Bist du ihm auf die Füße getreten?« Wie so oft ist es völlig an ihm vorübergegangen, dass er an jemanden oder etwas angestoßen ist. Auf meine Entschuldigung hat besagter Reisegast im Übrigen nur mit einem verächtlichen Schnauben reagiert.
Ich merke, wie unser Gegenüber beginnt, sich nach einem anderen Sitzplatz umzusehen. Doch der Zug ist leider voll, abgesehen von dem Platz neben ihm, wo seine Aktentasche steht. Ich hoffe daher inständig, dass Raphael seine Zappeligkeit für die nächsten drei Stunden halbwegs unterdrücken kann. Aber es sieht nicht so aus. Denn kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, beginnt mein Sohnemann damit, den Müllbehälter aufzumachen. Dann wieder zu. Auf, zu, auf, zu, … Wieder ermahne ich ihn, damit aufzuhören, wieder werde ich nicht gehört. Nach dem dritten »Raphael« werde ich laut, weil auch ich schon genervt bin – nicht zuletzt vom vorschnell urteilenden Gegenüber. »Raphael, hör endlich auf, mit dem Müllbehälter zu spielen!!!« Meine Stimme ist nun alles andere als ruhig.
Plötzlich habe ich die Blicke der Fahrgäste des gesamten Waggons auf mir. Am liebsten würde ich unter die Bank kriechen, denn die Hälfte der Leute denkt mit Sicherheit: »Mein Lieber, wenn der mir gehören würde, dem hätte ich schon den Hintern versohlt!«
»Ihr habt doch alle keine Ahnung!!!«, würde ich am liebsten durch den gesamten Zug schreien, aber nachdem niemand etwas gesagt hat, würden mich alle vermutlich nur für noch verrückter halten, als sie dies ohnehin schon tun, weil ich dem bunten Treiben dieses »Bengels« nicht mit Gewalt ein Ende setze.
Ich überlege kurz, ob ich Raphael mein Handy geben soll, da dann mit Sicherheit für mindestens eine Stunde Ruhe wäre. Doch in mir wehrt sich alles, Kinder mit solchen »Idiotengeräten«, wie ich sie immer nenne, ruhig zu stellen. Außerdem kann ich dann schon wieder die unausgesprochenen Kommentare vor allem der älteren Generation im Waggon hören: »Kein Wunder, dass der Junge so durchgedreht ist, wenn ihn die Mutter mit dem Teufelszeug spielen lässt. Weiß wahrscheinlich nicht mal mehr, wie ein Ast oder ein Stein aussieht, der Kleine, weil er den ganzen Tag nur auf den Knöpfchen von dem Ding rumdrückt.« Und dann müsste ich schon wieder rufen, dass alle keine Ahnung hätten, denn unsere Kinder bekommen solche Dinge so gut wie nie zum Spielen.
Plötzlich fährt der Zug in einen Tunnel ein. Im Waggon brennt nur ein kleines Notlämpchen. Geblendet von der Sonne, die gerade noch den Himmel in strahlendem Blau erleuchten ließ, sehe ich kaum etwas. Mit einem Mal dämmert mir, dass mein Geblendetsein und meine Blindheit durch die Dunkelheit des Tunnels mein Leben als Mutter eines, wie ich später erfahren soll, ADHS-Kindes genau abbildet: Ich tappe im Dunkeln und das seit Jahren, da ich – geblendet von den Anforderungen der Gesellschaft und des Lebens, aber auch von gut und weniger gut gemeinten Ratschlägen derer, die unser Kind kennen – keinen klaren Blick mehr dafür habe, was wichtig für Raphael bzw. für uns als Familie ist.
Seit seiner Geburt vor acht Jahren habe ich weder die Zeit noch die innere Ruhe gefunden, sein Verhalten genauer zu hinterfragen, in Büchern darüber nachzulesen oder zu einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu gehen. Ich war gefangen im Alltag, im täglichen Erziehungskampf, in dem Raphael mir gezeigt hat, dass für ihn nicht dieselben Maßnahmen wirksam sind, wie für seinen älteren Bruder und überhaupt für andere Kinder.
Im Kindergarten war er ja noch einigermaßen in den Griff zu bekommen, aber nun ist er im zweiten Grundschuljahr und täglich kommen neue Hiobsbotschaften. Sein Mitteilungsheft bzw. mein E-Mail-Posteingang sind voll mit Meldungen über vergessene Schulbücher, Träumen oder Stören im Unterricht, nicht gebrachte Hausaufgaben, fehlendes Sportzeug und Streitigkeiten mit Klassenkameraden. Bis vor Kurzem dachte ich immer noch, wir würden das Problem, sprich Raphaels Verhalten, irgendwie als Familie in den Griff bekommen. Doch in der Zwischenzeit sind wir alle am Ende unserer Kräfte. Der Kinesiologe wird zum Hoffnungsträger …
Diese fiktive Schilderung steht für die Geschichten all jener, die sich mit der Erziehung eines Zappelphilipps überfordert fühlen. Viele wissen nicht, was mit ihrem Kind los ist, konsultieren Homöopathen, Energetiker, Kinesiologen, Wunderheiler. Häufig werden Eltern bei der oft verzweifelten Suche nach der Lösung für ihr Problem an den Rand des finanziellen Ruins getrieben, Familien zerbrechen an der Aufgabe, ein Kind mit dieser Störung großzuziehen. Denn es ist eine extrem schwierige Herausforderung, diese Kinder so zu behandeln, dass ihr Wille nicht gebrochen wird bzw. sie nicht weitere zusätzliche Störungen entwickeln, während sie gleichzeitig dennoch die nötige Führung und Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um sich zu »vollwertigen, funktionstüchtigen Mitgliedern unserer Gesellschaft« entwickeln zu können.
Doch ich habe gute Nachrichten: Raphael, unser jüngerer Sohn, der an ADHS leidet, ist in der Zwischenzeit 14 Jahre alt und hat sich großartig entwickelt. Allerdings haben sowohl er als auch wir einen nunmehr 14 Jahre dauernden Kampf hinter uns. Denn Raphael war vom Tag seiner Geburt an – und eigentlich schon davor – auffällig. Und wenn ich von »Kampf« spreche, dann meine ich das genau so. Kinder mit ADHS und deren Eltern sehen sich, wie dieses Buch zeigen wird, rund um die Uhr, Tag für Tag, Jahr für Jahr besonderen Herausforderungen gegenüber. Weil Eltern (und die Erziehenden im Umfeld) damit aber fast immer an Grenzen geraten, erfahren viele Kinder mit dieser Störung nicht die angemessene Unterstützung, die sie brauchen, um...