Kapitel 1
Der Tanz am Rand des Abgrunds
Der Abgrund und das Verstörtsein
Ein Trauma erschüttert einen Menschen in seinen Grundfesten. Wie sich das im Einzelnen zeigt, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es gibt keine Listen mit bestimmten Symptomen, aufgrund derer man sagen kann, dass ein Mensch traumatisiert ist. Das Gesamtbild des Menschen und sein Gesamt-Erleben sind entscheidend. Wir müssen bei all den verallgemeinernden Beschreibungen immer berücksichtigen, wie ein Mensch das Trauma und die Traumafolgen individuell und subjektiv erlebt. Jedes Symptom, jede Erscheinungsform kann unterschiedliche Ursachen haben. Angstgefühle zum Beispiel können Folgen von Traumatisierungen sein, aber auch aus vielen anderen Alltagserfahrungen herrühren.
Ein Faktor ist den meisten Menschen, die Traumata erlebt haben, gemeinsam: die Erfahrung einer existenziellen Erschütterung. In vielen – unserer Erfahrung nach vor allem bei Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben – entsteht als Ausdruck ihrer Erschütterung das Bild eines Abgrundes, in den sie gefallen sind oder an dessen Rand sie stehen und in den sie zu stürzen drohen. »Ich balanciere am Rande des Abgrunds«, sagte eine traumatisierte Frau. Eine andere nannte es »aus der Welt gefallen«. Traumatisierte Kinder malen solche Abgründe z. B. als schwarze Löcher oder als Monster, die sie zu verschlingen drohen, oder zeichnen Bilder, in denen sie ins Nichts fallen. Viele träumen in solchen Bildern oder von Feuer, Bomben, übermächtig erscheinenden Menschen, die Zerstörung bringen oder Zerstörung »sind«. Oft herrscht das Empfinden tiefer Einsamkeit vor.
Das Hauptmerkmal, mit dem sich Folgen traumatischer Erfahrungen, vor allem in der unmittelbaren Zeit danach bemerkbar macht, ist, dass die traumatisierten Menschen verstört sind. Das fällt vor allem anderen auf. Nicht eine Liste von konkret definierbaren Störungen, sondern ein Verstörtsein, das den ganzen Menschen erfasst zu haben scheint, tritt in den Vordergrund. Die traumatisierten Menschen benennen diesen Zustand selbst mit Sätzen wie: »Ich stehe neben mir.«, »Ich bin durcheinander.«, »Ich löse mich auf.«, »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.« Und wieder andere beschreiben sich, als hätten sie »einen Schlag auf den Kopf bekommen« oder behaupten von sich: »Ich bin blöd geworden.«
Wenn Sie zehn Menschen darum bitten, einen Zustand des Verstörtseins zu beschreiben, dann werden Sie zehn verschiedene Beschreibungen erhalten. Doch allen wird etwas gemeinsam sein, nämlich dass die vorhandenen bekannten Muster und Ordnungen des Lebens und Erlebens erschüttert und noch keine neuen vorhanden sind, dass eine Verwirrung und ein Durcheinander herrscht, eine Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit in den Gefühlswelten und in den Verhaltensweisen.
Bei vielen Menschen, Kindern wie Erwachsenen, beobachten wir, dass sie nach einer traumatischen Erfahrung plötzlich »anders« sind. Wenn Sie mit einem Flüchtling in Kontakt kommen, der traumatisiert ist, dann können Sie natürlich einen Vergleich zwischen Vorher und Nachher nicht anstellen. Und doch wird Ihnen sein Verstörtsein wahrscheinlich auffallen. Wichtig ist, dass Sie ein solches Verhalten nicht ausschließlich auf kulturelle Unterschiede zurückführen, sondern als eine Traumafolge betrachten oder zumindest dies in Erwägung ziehen.
Zu diesem Anders- und Verstörtsein trägt auch bei, dass vorhandene Familienstrukturen und familiäre Rollen nicht mehr so sind, wie vor dem Beginn des traumatischen Prozesses. Ein Beispiel:
Saad hatte seinen Vater immer als stark und kraftvoll erlebt. Nun hatte er mehrmals auf der Flucht mitbekommen, dass der Vater auch hilflos war und traurig, dass er manchmal nicht mehr weiterwusste. Ihm fiel vor allem negativ auf, dass er sich von fremden Leuten herumkommandieren ließ, er, der doch immer so viel Wert darauf gelegt hatte, den Kurs der Familie selbst zu bestimmen. Nun wusste Saad nicht, was er davon halten sollte. Er wollte doch immer so werden wie sein Vater, so stark und kräftig, und seine Mutter und seine Schwestern beschützen. Und wenn er seine Mutter betrachtete, dann hatte auch sie sich verändert. Früher hatte sie immer sehr auf ihn aufgepasst und auf seine Schwestern. Doch jetzt war es manchmal so, als würde ihr dafür die Kraft nicht reichen. Oft schaute sie einfach ins Leere, minutenlang, und war gar nicht ansprechbar. Das alles verwirrte ihn.
Der Vater tat so, als wäre alles wie immer, und auch die Mutter bemühte sich darum. Saad wollte auch so tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre alles wie früher, doch er wusste, das war nicht so. Und was an die Stelle seiner alten Sicherheiten getreten war, das war noch völlig offen.
Wie in dieser Flüchtlingsfamilie, so ist bei vielen anderen auch manches durcheinandergeraten, in den Menschen selbst, aber auch in ihren Beziehungen untereinander: Geschlechter- und Generationsrollen, familiäre Rollen sind erschüttert. Wie soll es auch anders sein in einem solchen traumatischen Prozess, den diese Menschen durchmachen mussten und müssen?
Viele versuchen, das Gewohnte aufrechtzuerhalten, oft in dem verzweifelten Bemühen, die Geborgenheit innerhalb der Familienstruktur zu bewahren. Manche glauben fest daran, sie bräuchten nur ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit, und dann würde alles so wie vorher. Doch wie vorher kann es nicht werden. Es braucht neue Prozesse, neue Erfahrungen, neue Verbindungen, neue Identitäten und ein neues Selbst- und Rollenverständnis innerhalb der Familie. Und diese notwendigen Prozesse brauchen Zeit. Der Weg durch das Verstörtsein und am Abgrund entlang bzw. aus dem Abgrund wieder hinauf, ist lang und mühsam.
Erstarren und Verstummen
Ein häufiger Versuch, unerträgliche Erfahrungen und damit eine häufige Traumafolge zu bewältigen, besteht darin, dass Menschen erstarren und auch verstummen. Hier ein Beispiel:
Als Walid endlich eine Schule besuchen konnte, sprach er kein Wort. Die Lehrerinnen versuchten alles Mögliche, um ihn zum Sprechen zu bewegen, doch er blieb stumm. Auch im Kontakt mit den Mitschülerinnen und Mitschülern sagte er kein Wort. Mit seinen großen, offenen Augen betrachtete er alles, was er in der Schule vorfand. Er schrieb auch brav ab, was er abschreiben sollte, doch kein Wort kam über seine Lippen.
Ein solches Verhalten ist oft ein Ausdruck des Erstarrens. Manchmal zeigt sich das Verstummen weniger offensichtlich. Dann betrifft es vor allem das Seelenleben, emotionale Äußerungen. Kinder oder Erwachsene können erzählen und reden, aber ohne innere Beteiligung und ohne das Mitgefühl anderer Menschen emotional zu berühren.
Sehr häufig erstarren Menschen rein körperlich:
Als die Familienhelferin, Frau K., die Mutter endlich aufsuchen konnte, bekam sie keinen Kontakt, keine innere Verbindung zu ihr. Ihre kurdische Klientin, Frau Ö., saß starr am Küchentisch, als sie Frau K. empfing. Ihr Blick wirkte leer, sie schaute ihre Besucherin nicht an, äußerte einige höfliche Floskeln, ihr Atem war flach und angestrengt. Frau K. dachte erst, sie hätte etwas falsch gemacht. Dann führte sie dies auf die möglichen kulturellen Unterschiede zurück. Gebot es vielleicht der Respekt vor ihr, dass Frau Ö. den Blick gesenkt hielt? Doch als sie genauer hinschaute und sich darauf einließ, wie sie die Begegnung erlebte, spürte sie, was dieser Frau und ihrer Familie widerfahren war, auch wenn sie nichts Genaues wusste, sondern nur vermuten konnte, dass es schlimme Erfahrungen waren, die diese Familie auf der sechs Monate langen Flucht erlebt hatte.
Eine Erstarrung kann unterschiedliche Formen haben, körperliche Erstarrung und seelische Erstarrung sind nicht voneinander zu trennen. Fast immer hat die Erstarrung zur Folge, dass Kontaktmöglichkeiten mit Kindern und anderen Familienangehörigen sehr eingeschränkt sind, dass es den Menschen buchstäblich »die Sprache verschlagen« hat, dass sie sich nur noch sehr eingeschränkt zeigen und kaum mitteilen können.
Seelische Minen
In eine existenziell bedrohliche Situation zu geraten, ist nervlich extrem aufregend. Und so wird es nicht erstaunen, dass ein erhöhtes Erregungsniveau gerade auch bei Flüchtlingen eine Folge von traumatischen Erfahrungen ist.
Die Erregungsverläufe der Menschen sind individuell unterschiedlich. Manche sind z. B. eher ruhige »Gesellen«, andere schnell »auf 180« oder befinden sich zumindest auf einem höheren Erregungsniveau als die meisten anderen. Bei einer traumatischen Erfahrung schießt nun die Erregung in die Höhe, ganz gleich von welchem Niveau ausgehend. Das vegetative System schaltet in einen Alarmzustand als Versuch, alle Abwehrkräfte zu mobilisieren, um eine Bedrohung abzuwenden. Doch die Meereswellen, die um das Schlauchboot branden, sind durch erhöhte Erregung genauso wenig abzuwehren wie Schüsse oder Bomben. Deswegen gehört zu den Folgen traumatischen Erlebens sehr oft, dass die Menschen nach Erfahrungen der Wirkungslosigkeit eines Alarmzustandes auf einem erhöhten Erregungsniveau bleiben. Sicherlich können Trost und Schutz in der Zeit unmittelbar nach der traumatischen Erfahrung die Erregung dämpfen und die Menschen wieder »herunterfahren«. Doch wer von den Flüchtlingen bekommt schon Trost und Hilfe, Parteilichkeit und Wärme?! Vor allem, da der traumatische Prozess für die meisten Flüchtlinge sehr lange dauert und sich durch viele Stationen zieht, führt das dazu, dass sich das erhöhte Erregungsniveau bedauerlicherweise festigt.
Muhammed erzählt: »Ich bin jetzt 30 und fühle mich wie 60. Immer bin ich müde. Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne...