»Hat es was mit Säugetieren zu tun?«
»Ja.«
»Mit Haaren?«
»Äh … komische Frage, aber irgendwie ja.«
»FRISEUSE.«
»Das heißt heute politisch korrekt FriseuRIN.«
»Nee, Hairstylistin.«
»Wie auch immer: nein. Das war dein letzter Bierdeckel, geht noch ein Kölsch an mich.«
Ich liebe dieses Spiel. Beruferaten am Tresen. Ja-Nein-Fragen, für jedes Nein geht ein Bierdeckel flöten, zehn verlorene Deckel heißen ein Kölsch für mich. Bei meinem Beruf ein Garant für rauschende Nächte mit überschaubaren Kosten.
Ich bin Ameisenbärenforscherin und mag schon allein das Wort wegen seiner enormen Länge. Unsere Sprache ist lustig – man hängt so viele Wörter aneinander, bis der angestrebte Sinn rauskommt. An Bären forschen, die Ameisen fressen. Wobei Ameisenbären gar keine Bären sind und die Blaue Elise vom Rosaroten Panther übrigens auch kein Ameisenbär ist, sondern ein Übersetzungsfehler. Der Cartoon heißt im Original »The ant and the aardvark«, also »Die Ameise und das Erdferkel«. Erdferkel fressen zwar auch Ameisen, leben aber ausschließlich in Afrika und sind weder verwandt noch verschwägert mit unserem südamerikanischen Freund, dem Ameisenbären. Das muss gleich zu Anfang so eines Buches geklärt werden, damit die Produktenttäuschung nicht erst auf Seite 200 kommt. Bärenfans und Comicfreunde können dieses Buch hier also getrost zurück ins Bücherregal stellen.
Ameisenbären sind mit Faultieren und Gürteltieren verwandt und gehören damit zur ziemlich illustren Säugetierfauna Südamerikas. Einer komischer als der andere, am merkwürdigsten vermutlich der Große Ameisenbär, wenn man als Parameter Exzentrik in Charakter und Optik ansetzt. Das Wort »Großer« vor »Ameisenbär« schreibe ich übrigens nicht aus übersteigertem Geltungsdrang ständig dazu, das gehört zu seinem vollständigen Artnamen. Außerdem stimmt das schon: Von den vier Ameisenbärenarten ist der Große Ameisenbär (Myrmecophaga tridactyla) die körperlich größte. Seine Rumpfgröße entspricht der eines Schäferhundes, dazu kommen die lange Schnauze und der buschige Schwanz. Insgesamt immerhin zwei Meter. Den haarigen Schwanz hat er, um sich damit beim Schlafen zuzudecken. Kein Witz. Die restliche Körperform erinnert etwas an einen zweidimensionalen Pappaufsteller. Das deshalb leicht komplexbehaftete Tier zeigt sich daher bei Bedrohung immer von der Seite. So denkt jeder erst mal: »Ui, ist der groß«, und es entsteht nicht der Eindruck, dass der Ameisenbär beim nächsten Windstoß umkippt. Die lang gestreckte Kopfform des Großen Ameisenbären lässt es bereits vermuten: In so einer behaarten Gesichtsbanane ist nicht viel Platz für ein anständiges Gehirn. Tatsächlich ist der Ameisenbär mit seinem kleinen Erbsenhirn nicht unbedingt die hellste Kerze auf der Torte. Anders gesagt: Er kann sich immer nur auf eine Sache konzentrieren. Monotasking Deluxe, die männlichen Leser wissen schon, was ich meine …
Vor genau einem Jahrzehnt bin ich beruflich an diesen weltfremden Zauseln hängen geblieben. Da war ich gerade nach Würzburg gezogen, um Tropenökologie und Verhaltensbiologie zu studieren. Säugetierforschung, pfff. Da zeigt einem schon im Grundstudium jeder den Vogel: »Wenn du Tiere kuscheln willst, bist du hier falsch! Am Ende landen alle im Labor oder der Frittenbude.« Und dann tut man tapfer so, als hätte man das eh nie vorgehabt.
Umso mehr geriet mein Herz in Aufruhr, als ich an der neuen Uni einen Aushang am schwarzen Brett sah: »Wer kann sofort nach Brasilien … blabla … irgendeine Studie mit Großen Ameisenbären … blabla.« Dazu ein Foto von einem komischen Säugetier (mit Fell, juchhu!), das mit wehendem Schweif und hochmütig erhobener, bananenförmiger Schnauze aus einer Baumplantage gestapft kommt. »PÖH«, denkt es. Glaubte ich.
Ameisenbären? Nie gehört. Brasilien? Nie gewesen. Würzburg ging mir aber mächtig auf den Keks, und dieses irgendwie anarchistische Tier auf dem Foto war mir sofort sympathisch. Also los, man ist ja spontan. Eine Woche später stand ich mit Impfstoff vollgepumpt bei 50 °C auf dem Äquator in der Savanne. Vor mir hampelte mein erster Großer Ameisenbär herum, und das war ausgerechnet eine Ameisenbären-Mama! Das kleine, flaschenkürbisförmige Baby lag schlafend auf ihrem Rücken, während sie den Boden auf der Suche nach Ameisen und Termiten durchpflügte. Von mir, die ich im fassungslosen Glückstaumel zwei Meter neben ihr stand, bekam sie nichts mit, vollkommen konzentriert auf die Nahrungssuche. Von so einem Flow-Erlebnis träumt jede Montessori-Lehreinrichtung. Zu diesem Zeitpunkt war ich vermutlich schon verloren und diesen Geschöpfen, die sich geistig in einem Paralleluniversum aufzuhalten scheinen, hoffnungslos verfallen.
Jetzt sitze ich zehn Jahre später im Forscherhaus einer Rinderfarm im nächtlichen brasilianischen Nirgendwo. Draußen das übliche akustische Frosch/Grillen/Whatever-Spektakel, drinnen kreisen die Fledermäuse um die Lampe. Mein Haar sturmgepeitscht, denn der Ventilator versucht Hitze und Mosquitos wegzublasen – vergeblich, wohlgemerkt. Hier sammle ich Daten für meine Doktorarbeit zum Verhalten des Großen Ameisenbären. Also nicht direkt im nächtlichen Forscherhaus, sondern am Tag und um das Haus rum im wunderschönen Pantanal, einem großen Feuchtgebiet, an der Grenze zu Paraguay und Bolivien. Jetzt ist Montag und ich trinke TROTZDEM Bier. Eigentlich habe ich seit einigen Wochen den Bierstopp eingeführt. Man wird ja vernünftig und so. Ausnahmen sind Wochenenden und Tage, an denen man fast gestorben ist. Heute trifft Letzteres zu.
Überhaupt war der heutige Tag mal wieder ein Wechselbad der Gefühle, irgendwie typisch für die Ameisenbärenforscherin oder die Ameisenbärenforschung überhaupt. Allerdings bin ich mir gar nicht so sicher, was hier typisch ist, man kann es ja nicht überprüfen, denn ich bin hier die Einzige, die diese Viecher erforscht. Stichprobengröße n = 1. Fragt jemand, wie der übliche Alltag einer Ameisenbärenforscherin aussieht, kann ich also guten Gewissens erzählen, was heute los war:
Morgens: Gefühlsduselei und Zeckenalarm
Winter im brasilianischen Pantanal bedeutet gemeinhin: kalte Nächte und warme Tage. Wenn die Sonne am Morgen über den Horizont lugt, fangen Seen und Wiesen an zu dampfen. Über allem liegt dichter Bodennebel, in dem sich die noch roten Sonnenstrahlen fangen. Ich laufe fürs Frühstück vom Forscherhaus zur Küche. Einen Kilometer, durch ein Wäldchen, um einen Teich, quer über die Flugzeuglandebahn und dann noch die Sandstraße hinunter zur kleinen Holzbrücke. Der MP3-Player spielt U2, meine Beine verschwinden in rosa Wolken, die Pferde nur als Schemen vor dem dampfenden See erkennbar … So viel Schönheit, und ich breche prompt mal in Tränen aus. Also ich muss wirklich daran arbeiten, wenigstens ein bisschen das Klischee des deutschen Kühlschranks zu erfüllen. So geht das ja nicht weiter!
Nach dem Frühstück fahr ich mit dem Jeep raus, Bäume mit Kratzspuren von Ameisenbären vermessen. Die kratzen möglicherweise zu Kommunikationszwecken und reiben die Duftdrüsen der Brust an der Rinde. Eventuell geht es um Hierarchien, die Markierung sagt also z.B.: »Ich bin stark. Darum klettere ich am Weitesten und bin somit der Chef im Viertel.« Langsam wird es heiß, und meine Datenbögen schlagen wegen des ganzen Schweißes, der von meinem Gesicht drauftropft, langsam Wellen … Mittagszeit. Ab nach Hause, auf meiner Hose krabbelt alles, wir haben Zeckensaison. Eine Dusche vorm Mittagessen wäre nett … denke ich, und schon steht ein Ameisenbär mit trantütigem Blick auf dem Weg. Typisch. Wenn man EINMAL früher nach Hause möchte, echt ey. Kleine Wanderung über die große Ebene für ein Bild vom doofen Bären für mein Fotoregister – immerhin, die Zecken auf der Hose freuen sich über Gesellschaft. Na gut. Jetzt aber wirklich schnell nach Hause. Wird schon knapp mit der Dusche … Und dann: der nächste Ameisenbär am Seeufer … Murphys Law. Wie immer. Danke auch.
Mittags: ein Königreich für ein Erbsenhirn-Paralleluniversum
Während die restlichen Farmbewohner vier Kilometer weiter anfangen, ans Mittagessen zu denken, hampelt also Ameisenbär Lucas am Seeufer entlang. In Zeitlupe, bloß kein Stress. Überall Wildschweine, aber gut, ich bin ja kein Schisshase, die sind weit genug weg. Während ich mich wegen des lahmarschigen Ameisenbären im Blumengestrüpp langweile, kommt mir die Geschichte von einem der Cowboys hier in den Sinn: Der wollte mal ein Schwein erschießen und hat nicht richtig getroffen, woraufhin ihm das Schwein mit seinen riesigen Zähnen so den Bauch aufgeschlitzt hat, dass die Gedärme rausgequollen sind. Als das Schwein dann einen Hauer neben der Hauptschlagader in den Oberschenkel gerammt hat, konnte der Cowboy ihm im letzten Moment mit seinem Messer den Hals durchschneiden und hat tatsächlich überlebt. Also der Cowboy, nicht das Schwein. So was erzählt man sich hier während des Frühstücks bei Kaffee und Honigbrot. Inklusive umfassender Demonstration der zugehörigen Narben.
Das Schlammloch links hatte ich gleich zu Beginn bemerkt. Vielleicht läuft der Ameisenbär ja dahin und badet? Ich würde sooo gerne endlich mal gute Fotos und Filmaufnahmen von badenden Ameisenbären machen. Das ist immer unfassbar süß!
Und, tatsächlich, ein Schnaufen, ein energischer Sprung und der Bär kuschelt sich genüsslich in die Schlammmulde (hihi, neue Rechtschreibung). Puh, erst mal ausruhen, ein bisschen die Augen zu (zu Hause sind sie jetzt wohl...