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Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen

Remix 3

AutorBenjamin von Stuckrad-Barre
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783462318524
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
» ... gehört zum Schönsten und Besten, was Stuckrad-Barre je geschrieben hat.« Süddeutsche Zeitung. »Panikherz« war eine Reise ins Innere - in »Remix 3« geht es in die umgekehrte Richtung: nach draußen, zu den anderen. Mit Boris Becker schaut Stuckrad-Barre in Wimbledon das berühmte Finale von Wimbledon. Mit Helmut Dietl scheitert er in Berlin wegen Berlin an Berlin. Dem Freund Christian Ulmen schaut er zu bei der Verwandlung in »Christian Ulmen«. Und Pharell Williams singt den Sommerhit zum Herbstanfang, verspätet sich aber - der Autor fährt unterdessen ein letztes Mal an den See. Nach der Reise ans Ende der Nacht wird die Welt nun bei Tageslicht betrachtet. Benjamin von Stuckrad-Barre öffnet weit die Augen und schaut, wie die anderen das hinkriegen: das Leben. Die hier versammelten Texte liefern ein akkurates Selbstporträt über Bande, es ist eine Suche nach dem Wir. Das Ergebnis: eine Familienaufstellung. Eine Heldenparade. Eine Götzendämmerung. Der Befund des von der Wirklichkeit irritierten Autors fällt melancholisch aus: Es geht uns nicht gut - wir müssen uns alle mal irgendwo hinlegen. Nur wohin? »Remix 3« endet folgerichtig dort, wo »Panikherz« entstand: am Sunset Boulevard.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

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Leseprobe

4. Satz


Kommentator: Erstes Spiel, vierter Satz, Curren führt 30:15, die krachende Vorhand des Boris Becker – und 30 beide.

Lilly: Warst du nicht erschöpft?

BB: Nee, ich hab gemerkt, dass ich jetzt nah dran bin, zu breaken und endgültig die Nase vorn zu haben, dann nur noch meine Aufschläge durchbringen muss, um das Match nach Hause zu bringen.

Kommentator: Und noch ein Return vom gleichen Kaliber, diesmal mit der Rückhand.

 

Auf der Tribüne klatscht nun sogar Ion Tiriac. Die Curren-Freundin ist verzweifelt.

 

Kommentator: Currens Anhang leidet mit ihm, Becker führt im vierten Satz 5:3, vielleicht ist in wenigen Minuten alles vorbei. Matchball Becker.

BB: Das hätt’s schon sein können, aber so kurz vor dem möglichen Sieg wurde ich nun doch nervös, Arme werden schwer, Beine werden schwer – fast Angst vorm Sieg.

Kommentator: Der Amerikaner aus Südafrika hat nicht immer gut gespielt, aber es gelang ihm wenigstens, diesen Matchball abzuwehren.

 

Currens Freundin auf der Tribüne greift sich in die Haare, untersucht ihre Fingernägel, ob es da noch was zu kauen gibt.

 

Kommentator: Und jetzt schlägt der blonde Junge auf.

BB: So, und jetzt war ich hektisch, das weiß ich noch heute genau.

 

Beckers erster Aufschlag berührt die Netzkante, Tiriac krault sich den Schnurrbart, Currens Freundin wirkt, als müsse sie mal dringend aufs Klo.

 

BB: So, jetzt beim zweiten Aufschlag, da hatte ich auf einmal überhaupt kein Gefühl mehr – bupp, Doppelfehler! Da schrei ich mich selbst an, um mich so’n bisschen aus der Nervosität zu befreien.

Kommentator: Wird Becker Geschichte schreiben?

BB: Die Bedeutung und die Historie begreift man in dem Moment nicht. Ion Tiriac hat mich sehr beschützt, damit ich meinen Rhythmus nicht verliere. Dass da zum Finale meine Eltern eingeflogen sind, zwischenzeitlich mein Großvater gestorben war, und was in Deutschland für ein »Unser Boris«-Ausnahmezustand herrschte – das habe ich alles gar nicht mitgekriegt.

 

Man muss wohl all die unter dem Vergrößerungsglas der Massenmedien fortan ihm widerfahrenen Fehler und Kapriolen als Protest gegen diese massive nationale Vereinnahmung werten. Übrig bleibt dann: ein Held. Nächster Aufschlag, tipptipp, gucken, Schwung holen, gucken, Zunge über die Lippen, Ball in die Luft, Körper hochschrauben – und rummms! Wie hat man bei diesen Aufschlägen, diesem Zunge-über-die-Lippen-Theater jahrelang mitgefiebert!

 

Kommentator: Currens Rückhandball ist im Aus, 30:15.

 

Es folgt ein Ass, 40:15, Matchball! Becker lässt beide Fäuste nach vorn schnellen, pustet dann in die rechte, trabt zurück zur Grundlinie. »Quiet please, ladies and gentlemen, thank you, quiet please!« – die Ladies and Gentlemen auf den Tribünen können sich kaum beruhigen. Und auch hier, in Beckers echtem Wohnzimmer, sind jetzt alle nervös – er wird gewinnen, wird er doch, oder?

 

BB: Ich nehm’s schon mal vorweg, ich mach jetzt nochmal einen Doppelfehler.

 

Der erste Aufschlag landet im Aus, der zweite im Netz, Becker schimpft mit sich, Raunen im Publikum, wird er jetzt unsicher?

 

Kommentator: Ausgerechnet jetzt ein Doppelfehler. Zeigt der bisher so coole Junge doch Nerven?

Lilly: Warst du sauer, Darling?

BB: Ja, sauer auf mein Nervenflattern.

 

Wir sehen: Bosch kratzt sich am Kopf, Tiriac hat tatsächlich seine Sonnenbrille abgesetzt, selbst er, der Pate, wirkt nun nervös. Becker holt Schwung, Zungentheater, Ball in die Luft und –

 

BB: So, überlege ich mir, wohin habe ich vorher zweimal gut serviert, also nochmal: in die rechte Ecke. Geschafft! Und jetzt kommt hier der Shuffle …

 

Becker ist noch in der Vorwärtsbewegung, die aus der Wucht dieses letzten, spielbeschließenden Aufschlags resultiert, ballt dann die Fäuste, kommt trippelnd zum Stehen, schreit vernehmlich »Yeeeaah!«, reißt die Arme in die Luft, wirft den Kopf in den Nacken. Klick – dieses Bild hängt bald darauf als Poster in Hunderttausenden deutschen Kinder- und Jugendzimmern.

 

Kommentator: Ein 17-jähriger Junge, der das Spiel auf den roten Ascheplätzen seiner Heimat lernte und alles so flüssig auf den kurzgeschorenen Rasen Wimbledons übertrug.

BB (lacht stolz): Hehehe – na, Lilly?

 

Der Becker auf dem Bildschirm dreht sich zu Bosch und Tiriac, geht dann zum Netz, pustet nochmal in die rechte Hand, Händeschütteln über der Netzkante mit dem unterlegenen Curren, geht zu seinem Stuhl, dreht sich nochmal zur Tribüne um, winkt, lächelt.

 

Lilly: Wem winkst du da?

BB: Ich hatte meine Eltern entdeckt, die saßen auf der Tribüne hinter Tiriac und Bosch.

 

Er setzt sich auf den Stuhl, fährt sich durch die Haare, zieht die legendäre hellblaue Trainingsjacke an, ein Zeremonienmeister flüstert ihm, was protokollarisch nun von ihm erwartet wird, dann – ja, doch – schreitet er zur Trophäenüberreichung durch die Herzogin von Kent.

 

Kommentator: Der Pokal, auf dem als 99. Name nun der des Boris Becker eingraviert wird.

Lilly: Musstest dich beherrschen, da nicht zu weinen, hm?

BB: Nein, nein, ich lächle einfach, weinen musste ich nicht.

 

Bosch und Tiriac, wie alle der über 13000 Zuschauer im Stadion, applaudieren stehend, Tiriac hat die Sonnenbrille wieder aufgesetzt, klatscht nur in der halben Geschwindigkeit Boschs und all der anderen, er ist jetzt wieder Mr. Cool, denn nun ist es an ihm, diesen Erfolg zu Geld zu machen, er hat da auch schon ein paar Ideen, das sieht man ihm direkt an, zwei Stunden Interview= 150000 Mark, so die Richtung, an jede Werbevertragssumme mindestens eine Null dranhängen; Currens Freundin weiß, dass sie gefilmt wird, und tut also, was in diesem Fall zu tun ist: Sie kämpft mit den Tränen.«

 

BB: Ich weine nicht – DIE weint!

 

Deutschland derweil verfiel in einen bis heute anhaltenden Becker-Taumel: »Diese Vorhand schockt die Welt!«, »Jubelschrei durch Deutschland: Boris, du bist der Wahnsinn«, und so dröhnend weiter. Der nüchternste, hellsichtigste Kommentar stand etwas später in der »Washington Post«, lesen wir ihm doch den mal vor: »Vielleicht war er zu jung, um zu wissen, dass er zu jung war, um Wimbledon zu gewinnen.«

 

BB: Tja, wäre mein Leben anders verlaufen, hätte ich es leichter gehabt, wenn ich mein erstes Wimbledon nicht mit 17, sondern vielleicht mit 22 gewonnen hätte? Ich glaube: ja. Ich habe diesen frühen Sieg manchmal wirklich als Fluch empfunden, plötzlich war ich Legende und Denkmal, obwohl meine Entwicklung als Spieler noch gar nicht abgeschlossen war. Jeder wollte plötzlich was von mir, Menschen haben ihre Kinder nach mir benannt, das hat mir Angst gemacht.

 

Lilly will jetzt Fußball gucken und die Sofas umpositionieren, sie hat da so eine Idee zur Wohnzimmerverschönerung, also weitersprechen im – sowas hat er wirklich – Pokerzimmer.

 

BB: Da blieb irgendwann nur noch die Flucht ins Ausland. Mein Hauptwohnsitz ist in der Schweiz, aber ich bin oft und gern hier in Wimbledon, hier sind die Menschen diskret und freundlich. Es war mir immer klar, dass ich hier mal herziehen würde. Hm, vielleicht gehen wir einfach mal kurz rüber zum Centre Court, dann erklärt es sich, glaub ich, von selbst.

 

In einem Bilderrahmen neben Beckers Haustür, ungefähr auf seiner Augenhöhe, hängt das Gedicht »If –« von Rudyard Kipling, aus dem zwei Zeilen am Torbogen des Spielereingangs zum Centre Court zu lesen sind:

If you can meet with triumph and disaster

And treat those two imposters just the same

 

BB: Mit 17 kann man gar nicht verstehen, was das wirklich bedeutet, aber ein paar Jahre später, nach...

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