Die wunderbare Welt der Fehlurteile
Jörg Schmadtke ist einer der erfolgreichsten Manager der Bundesliga des letzten Jahrzehnts, jedenfalls wenn man nicht auf Titelsammlungen oder Tabellenpositionen allein schaut. Denn Schmadtke ist, seit er 2001 bei Alemannia Aachen in der Zweiten Bundesliga erstmals Manager wurde, weder deutscher Meister geworden, noch hat er den Pokal geholt. Außergewöhnlich ist Schmadtkes Leistung, weil er überall beständig über den Möglichkeiten blieb. Er führte die hoch verschuldeten Aachener nämlich nicht nur ins Pokalfinale und dadurch in den Europapokal, sondern 2007 nach über drei Jahrzehnten in der Zweitklassigkeit sogar wieder in die Bundesliga. Als Schmadtke von 2009 bis 2013 Sportdirektor bei Hannover 96 war, qualifizierte sich der Klub zweimal für die Europa League und spielte die beste Bundesligasaison seiner Vereinsgeschichte. Den damaligen Zweitligisten 1. FC Köln führte er nicht nur in die Bundesliga zurück, sondern 2017 erstmals nach 25 Jahren wieder in einen internationalen Wettbewerb.
In der Bundesliga gibt es unterschiedliche Interpretationen des Jobs eines Sportdirektors, bei Schmadtke hat immer das Scouting von Spielern eine besondere Rolle gespielt. Oft war er quasi der Chefscout und selbst viel unterwegs, dabei gelang es ihm immer wieder, spektakuläre Stürmer zu verpflichten. Bemerkenswert ist, dass Schmadtke sich beim Scouting unbewusst einem der großen Probleme im Fußball stellt, den allgegenwärtigen Wahrnehmungsfehlern. »Ich habe früher meine Scouts manchmal losgeschickt und ihnen nicht gesagt, an welchem Spieler ich interessiert bin«, erzählte er mir, als wir uns in London an jenem Tag trafen, an dem der 1. FC Köln beim FC Arsenal den ersten internationalen Auftritt seit einem Vierteljahrhundert hatte. Dass Schmadtke seine Scouts so rätseln ließ, war kein schräger Test ihrer Fähigkeiten oder eine Gehässigkeit, um sie zu verunsichern. »Es ging mir darum, dass sie unvorbelastet ins Spiel gehen, und idealerweise sollte der beste Spieler für sie der sein, der mich interessierte.« Schmadtke verengte den Blick seiner Scouts also nicht, er öffnete ihn, indem er intuitiv versuchte, das zu vermeiden, was in der Verhaltensökonomie Confirmation Bias genannt wird. Wenn ein Scout weiß, dass sein Sportdirektor an einem bestimmten Spieler interessiert ist, wird er diesen vielleicht anders wahrnehmen, als wenn er unvoreingenommen auf das Spielfeld blickt. Wir neigen nämlich dazu, Informationen auszufiltern, die nicht in unser Weltbild passen.
Doch das ist nur eine Variante dieses Bestätigungsfehlers, den es in einer Fülle unterschiedlicher Ausdrucksformen gibt. Wenn ein Scout dynamisch-kämpferische Spieler besonders mag, wird er vielleicht eher dazu neigen, technische Schwächen oder Mängel im Spielverständnis zu übersehen oder zumindest unterzubewerten. Mag er hingegen elegante Fußballer, wird er bei denen eventuell dazu neigen, vorhandene Schwächen im Spiel gegen den Ball milder zu bewerten.
»Wenn mir kalt wird, wird es schwierig«, sagte Schmadtke. Dann werde er nämlich übellaunig, und das Urteil über einen Spieler, den er gerade beobachte, falle möglicherweise schlechter aus, als es an einem lauschigen Sommerabend der Fall wäre. Wie vielen Spähern mag es an einem verregneten Nachmittag in Osteuropa oder an einem eisigen Abend in Skandinavien ähnlich ergangen sein? Bibbernd und in mieser Stimmung übersahen sie vielleicht das raffinierte Spiel eines Außenverteidigers oder die Durchsetzungskraft eines Mittelstürmers, die dann zum Konkurrenten wechselten, weil dessen Späher bei Sonne und gutem Wetter kamen. Oder man überschätzt einen Spieler, weil man sich an einem lauschigen Frühsommerabend unter südlicher Sonne in einem mit gut gelaunten Zuschauern voll besetzten Stadion befindet.
In den letzten Jahren ist den Wahrnehmungsfehlern allenthalben viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das hat nicht zuletzt mit der Arbeit des israelischen Ökonomen Daniel Kahnemann zu tun, der für seine Arbeit auf diesem Feld mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet wurde. Sein Buch »Schnelles Denken, langsames Denken« war sogar ein globaler Bestseller. Er und andere Forscher haben inzwischen 188 Arten von Wahrnehmungsfehlern beschrieben, die teilweise miteinander verwandt oder verbunden sind. Immer sind sie auf die gleiche Ursache zurückzuführen: Wenn wir schnell denken, also nicht geduldig und analytisch, überschätzen wir uns und kommen zu Urteilen und Schlüssen, die schlichtweg nicht besonders gut sind. Sie sind damit sozusagen die übergeordnete Kategorie jener Probleme, die Stefan Reinartz und Jens Hegeler dazu brachten, ihre eigenen Spieldaten zu entwickeln. Wobei Daten allein nicht zwangsläufig zu besseren Urteilen führen, denn man kann auch sie wunderbar in Bestätigungsfehler verwandeln. Wenn man sich bei der Bewertung eines Spielers nämlich einfach jene Statistiken herauspickt, die den eigenen Eindruck bestätigen, und jene übersieht, die ihm widersprechen. Auch Trainer tun das mitunter, wenn sie mit Blick auf die Zahlen etwa kopfschüttelnd feststellen, dass ein Spieler deutlich weniger Zweikämpfe geführt hat als üblich, wie sie schon vermutet hatten, dafür aber vielleicht übersehen, dass dieser Spieler deutlich mehr Sprints angezogen hat, um gegnerische Passwege zu verstellen.
Als Fußballfan versteht man sofort, warum der große schweizerische Schriftsteller Max Frisch seine Romanfigur Theo Gantenbein sagen lässt: »Wir probieren Geschichten an wie Kleider.« Den Fußball kann man als eine gigantische Geschichtenfabrik betrachten, denn jede Saison ist wie eine Staffel einer großen Serie namens »Bundesliga«, »Champions League« oder »Weltmeisterschaft«. Sie entwickelt ihren eigenen Plot, und je mehr verrückte Wendepunkte die Geschichte hat, umso besser. Es gibt Außenseiter, die unverhofft zu Helden werden, ob Mannschaften oder Spieler. Jeder Wettbewerb, jede Liga, jeder Klub schreibt seine Story. Wer hat nicht die Geschichte von Leicester City geliebt, des größten Außenseiters, der jemals englischer Meister wurde? Und die seines Torjägers Jamie Vardy, dessen Karriere eigentlich schon gescheitert schien, als er in einem unterklassigen Amateurklub kickte und dabei eine elektronische Fußfessel tragen musste, weil er wegen Körperverletzung verurteilt war? Und es gibt jene Mannschaften, von denen es niemand erwartet, dass sie in eine Krise geraten. Wie ebenjener 1. FC Köln just in der Saison, als er endlich in den Europapokal zurückkehrte. Was übrigens dazu führte, dass Jörg Schmadtke den Klub im Laufe der Saison verließ. Als Max Frisch von den Geschichten sprach, die wir anprobieren wie Kleider, beschrieb er genau das, was in Köln passierte. Eben noch passte die Geschichte vom zwar eigensinnigen, aber genialen Manager mit dem perfekten Auge für Talente wie angegossen, dann musste schon die nächste her. In diesem Fall vom Manager, der zu eigensinnig geworden war und darüber den Blick für Spieler verloren hatte.
Als Sportvorstand des VfL Wolfsburg hingegen begann Schmadtke die alte Geschichte wieder fortzuschreiben. Hatte der Klub 2018 noch in der Relegation um den Klassenerhalt in der Bundesliga spielen müssen, erreichte er im Sommer 2019 die Europa League. Einen Spitzenstürmer hatte Schmadtke auch gleich wieder gefunden: den Holländer Wout Weghorst, der für knapp elf Millionen Euro aus Alkmaar kam und in seiner ersten Bundesligasaison gleich 17 Tore schoss.
Wie diese Geschichtenproduktion funktioniert, wissen wir von uns selbst. Wir versuchen schließlich auch, aus den vielen Momenten und Einzelwahrnehmungen unseres Lebens eine irgendwie schlüssige Erzählung über uns zusammenzubasteln. Was da erzählt wird, ist zudem in beständigem Wandel. Kaum jemand erzählt heute noch dieselbe Geschichte über sich wie vor zehn Jahren. Andere Umstände sind wichtiger geworden, während wir den Lebensweg weitergegangen sind, und deshalb schauen wir auch auf unsere Vorgeschichte wieder anders. Das ist übrigens nicht notwendigerweise eine Lüge oder eine mutwillige Verbiegung der Fakten, sondern einfach der tief verwurzelte Wunsch, alles in sinnvoll schlüssig erscheinende Geschichten zu packen. Auch dafür gibt es einen Begriff: Story Bias.
Schauen wir beim Fußball, welche Geschichten wir anprobieren, wenn Trainer von Spiel zu Spiel große taktische Veränderungen vornehmen, viele Spieler wechseln oder gar beides tun. Bei Pep Guardiola ist das inzwischen zum festen Bestandteil der Story über ein Genie geworden, das die Grenzen des Denk- und Machbaren im Fußball immer weiter hinausschiebt. Diese positive Wahrnehmung hat aber nicht zuletzt damit zu tun, dass die von Guardiola betreuten Teams meistens gewinnen. Das jedoch ließe sich auch dadurch erklären, dass Guardiola stets die teuersten oder zweitteuersten Mannschaften eines Landes trainiert hat, die den meisten Konkurrenten also wirtschaftlich klar überlegen waren. In Barcelona, München und Manchester arbeitete er daher mit den besten Spielern zusammen. Meistens hatten sie in den Jahren vor ihm schon gewonnen und taten es weiter, nachdem Guardiola weg war. Vermutlich hätten diese Teams die meisten Spiele auch ohne avancierte taktische Entscheidungen gewonnen.
Trainer, die taktische Variabilität bei Klubs versuchen, die nicht so wirtschaftsstark sind und folglich öfter mal als Verlierer vom Platz gehen, laufen hingegen Gefahr, eine andere Story verpasst zu bekommen. Bei ihnen heißt es schnell, »Sie haben...