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Ich habe es satt!

Wie uns Ernährungsgurus krank machen

AutorNils Binnberg
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783518759530
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR

'Ich leide an Orthorexia Nervosa. Den Begriff kenne ich selbst erst seit kurzem, er beschreibt den Zwang, gesund zu essen. Klingt doch gut, meinen Sie? Ist es aber nicht. Ich folge zwanghaft jeder neuen Gesundheitslehre. Beim Verzehr alltäglicher Nahrungsmittel fühle ich mich mittlerweile wie ein Selbstmörder. Ich bin übrigens nur einer von einer Millionen Betroffenen in Deutschland. Beim Mittagessen können wir uns ganz ungezwungen über Fesselsex wie in »Fifty Shades Of Grey« unterhalten. Aber wir verkrampfen, wenn ein Brotkorb herumgereicht wird.

Wann hat unsere Dauer-Diät begonnen? Was versuchen wir zu kontrollieren? Ist es wirklich nur der Wunsch nach grenzenloser Jugend und überirdischer Schönheit? Oder brauchen wir eine Ersatzreligion, weil wir sonst nichts mehr haben, woran wir glauben können? Ich suche Antworten auf diese Fragen und fange bei mir an. Weil mein Leben, wie ich mir eingestehen muss, gerade den Bach runtergeht. . . '



<p>Nils Binnberg, 1976 in Hannover geboren, studierte in K&ouml;ln Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, englische Philologie und V&ouml;lkerkunde. Nach vielen Jahren als Autor und Reporter f&uuml;r die Deutsche Welle und den WDR schrieb er f&uuml;r GQ, WamS und die Wochenendbeilage der S&uuml;ddeutschen Zeitung. Heute lebt er in Berlin und ist Autor f&uuml;r Radiofeatures.<em> Ich habe es satt!</em> ist sein erstes Buch.</p>

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Leseprobe

Der Tag, an dem das Essen
seine Unschuld verlor


Wie die meisten erinnere ich mich an den Moment, an dem ich mich das erste Mal zu dick fühlte. Ich kann auch mit absoluter Genauigkeit abrufen, wie sich mein Wille formte, meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.

Menschen wollen aus den unterschiedlichsten Motiven Gewicht verlieren. Bei dem einen ist es ein Besuch beim Arzt, die schockierende Diagnose, nicht gesund zu sein. Andere stellen eines Tages beim Wiegen fest, dass sie, ohne es zu merken, eine Art Kampfgewicht erreicht haben. Wieder andere erleben einen Moment der Selbstentfremdung. Der Anblick im Spiegel oder auf einem Foto wird von heute auf morgen zum Weckruf. Sie erkennen den Pfundsmenschen, der ihnen entgegenschaut, einfach nicht mehr.

Tatsächlich sind diese drei Ereignisse die häufigsten Auslöser für eine Diät. In meinem Fall war es die Waage. Doch ehe ich überhaupt auf die Idee kam, eine zu betreten, bedurfte es eines anderen Zwischenfalles. Er liegt schon etliche Jahre zurück.

Mein Freund und ich waren gemeinsam für ein paar Tage nach Italien gereist, in unseren Sehnsuchtsort Neapel. Es war Spätsommer, Neapel verströmt um diese Jahreszeit eine wilde Hitze, die die Ruhe des bevorstehenden Herbstes noch nicht erahnen lässt. Wir wohnten in einem malerischen Barockhaus in Sanità, einem alten Mafia-Viertel.

Die Stadt ist für so viele Dinge berühmt. Ihre kunstvollen Kapellen und den Blick auf die Amalfiküste mit dem Vesuv im Hintergrund. Die exklusiven Kunstgalerien und die fantasievollen Taxipreise. Am meisten aber für ihre Küche. Für mich war das Essen fast immer das Ausschlaggebende auf einer Reise. Während andere die Routen ihres Lebens nach den weichsten Stränden oder kennerischsten Kunstsammlungen planten, führte mich die Liebe zum Essen rund um die Welt; so auch zu Neapels leicht verbrannter Pizza, die mit ihrem charakteristischen Geschmack aus säuerlichem Teig und dem Püree süßer DOP-Tomaten immerhin zum Weltkulturerbe zählt.

Wir besuchten einfache Trattorien in der Camorra-Zone, in denen sich der warme Duft von sautiertem Speck wie Nebel über den Raum legte, nussige Parmesan-Aromen aus der Küche wehten und der Salzwasserdampf von frischer Pasta unsere Nasen kitzelte. An anderen Abenden aßen wir in einem kleinen Weinkeller oder gönnten uns ein Fine-Dining-Menü am Hafen. Ich hätte mir in diesen rauschhaften Momenten nie vorstellen können, beim Essen irgendwann einmal kein Glück mehr zu empfinden. Oder dass die Neugierde auf Aromen, die Freude an einem geselligen Abend bald nur noch Erinnerungen wären.

Doch genau in diesem Urlaub entstanden sie, die ersten Risse in meiner Liebe. Es war erst nur ein Bauchgefühl. Doch das nistete sich für viele Jahre in meinem Kopf ein.

Wir hatten den vorletzten Tag auf Capri verbracht. Es war mein 33. Geburtstag. An sich kein bemerkenswertes Datum im Leben eines Menschen, und doch hat es sich in meine Erinnerung gebrannt, als Tag meines letzten Festmahls.

Wir hatten einen Tisch beim romantischsten Italiener der Insel reserviert. »Da Paolino« liegt inmitten eines Zitronenbaumwäldchens, damals, zur Erntezeit, baumelten uns faustgroße Zitronen vor der Nase. Wir bestellten den Klassiker »Spaghetti Paolino«, handgemachte Pasta mit gerösteten Kirschtomaten, Anchovis und Kapern. Danach ein scharf gebratenes Kalbskotelett. Zum Anstoßen gönnten wir uns ein paar Gläschen Limoncello. Ein bonbonwassersüßer Schnaps, aus den Zitronen des Wäldchens gebrannt.

Noch vor dem zweiten Gang wurden wir Zeuge einer Szene, die sich zwei Tische entfernt abspielte. Eine kleine Traube japanischer Touristen stand wild kichernd vor dem Tisch einer unscheinbaren, recht übergewichtigen Frau mit einem sympathischen lauten Lachen. Als sich die kleine Ansammlung auflöste, mussten wir mehrmals hinschauen, um zu erkennen, auf was sie den Blick freigegeben hatte. War das nicht dieser James-Bond-Schauspieler? Pierce? Wie heißt er noch gleich? Brosnan?!

Was uns noch eingehender beschäftigte als der Hollywood-Star war die Frage, warum ausgerechnet er, der den Gentleman par excellence verkörperte und zum Sexiest Man Alive gewählt worden war, nicht ein scharfes Bond-Girl à la Ursula Andres oder Famke Janssen an seiner Seite hatte. War seine Begleiterin überhaupt seine Frau? Wir tippten die Begriffe »Brosnan« und »Ehefrau« in die Google-Suchfelder unserer Smartphones. Da waren die Beweisfotos; sie waren ein Ehepaar. Ich schämte mich schon im selben Moment für meine miesen, boshaften, oberflächlichen Gedanken. Noch wusste ich ja auch nicht, was sich sonst noch alles dahinter verbarg.

Abschiedssentimental fuhren wir mit dem Schnellboot zurück in die Stadt und spazierten vom Hafen durch die feuchte Nachthitze zum Hotel zurück.

In Deutschland wartete unser neues gemeinsames Zuhause auf uns. Nach einem Jahr Pendeln war ich von Berlin nach München zu meinem Freund gezogen. Ich tat es für unsere Beziehung. Die Entfernung hatte uns einsam gemacht. Es kriselte.

Ich war nie meisterhaft darin gewesen, meine dunklen Gefühle in Worte zu fassen; er konnte sie lesen wie ein Spürhund. Ich konnte Menschen ein Gefühl von Sicherheit geben. Das liebte er an mir. Ich hatte einen Hang zur Perfektion. Er beherrschte den Stilbruch. Wir ergänzten uns. Es wäre ganz und gar verrückt gewesen, diese Liebe für meinen mies bezahlten Autoren-Job bei einem Berliner Modemagazin zu riskieren. Eher wollte ich die Unsicherheit wagen, ein freier Journalist zu sein. Auch wenn ich München nicht viel abgewinnen konnte.

Unser neues Miteinander hatte sich schnell zurechtgeruckelt, das erste Fremdeln war überwunden, so dachte ich noch, bevor wir nach Neapel fuhren.

Dann kam der letzte Abend vor unserer Rückreise. Die Koffer waren schon gepackt, die Fahrzeit vom Taxi zum Flughafen berechnet, als ich mich, nur in Unterhose, über meinen Freund hinweg auf meine Bettseite warf.

Da traf mich sein Blick. Vielmehr traf sein Blick meinen Bauch. Prüfend.

Ich sah an mir herab. Außer einem Leberfleck oberhalb des Bauchnabels und einer bleistiftdünnen Narbe an einer Stelle, an der ein weiterer Leberfleck gesessen hatte, war mir mein Bauch nie besonders erschienen. Weder hatte ich ein Sixpack noch eine charakteristische Behaarung. Mein Bauch war einfach mein Bauch.

Zeit meines Teenagerlebens hatte ich eine ganz andere Problemzone gehabt: meine Arme. Trommelstabdünn schlenkerten sie beim Gehen so eigenwillig hin und her, als führten sie ein Eigenleben. Selbst bei Brüllhitze trug ich unter dem T-Shirt ein Longsleeve, damit ich nach mehr aussah. Meist trug ich sogar noch ein leichtes Hemd darüber. Mit Schulterklappen, die meinen Oberkörper breiter schummelten.

Als Kind hatte ich von Tanten, den Großeltern und Klassenlehrern häufig zu hören bekommen, ich sei zu dünn – für einen Jungen. Irgendwann hatte ich es selbst geglaubt. Durch diese alte Brille bemerkte ich nicht, dass sich meine Problemzone verschoben hatte.

In Neapel sah ich plötzlich deutlich, wie sich eine ganz und gar nicht kleine Speckrolle über das breite Gummiband meiner Unterhose wölbte. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenkniff, einen dicken Kloß umschnürte. Ich fühlte mich bloßgelegt, wie ein mehrteiliger Zellkörper unter einem Brennglas; gnadenlos schien das Licht auf den Makel. Mein Freund sagte irgendetwas Süffisantes, wie: »Na was haben wir denn hier?«

Ich habe den genauen Wortlaut vergessen, verdrängt.

Er bestreitet die Szene bis heute.

An jenem Abend verzog ich mich wie eine Schnecke, die man an ihren Fühlern berührt hat, unter die Bettdecke. Wortlos. Auch am nächsten Tag: keine Worte. Der Vorfall blieb unkommentiert, trotzdem stand er im Raum. Der Blick meines Freundes hatte meinen Blick auf mich selbst verändert. Im Badezimmer streifte ich mir meine Anziehsachen geräuschlos über, hielt dabei kurz die Luft an. So rollte sich mein Speck wie ein ausgewrungener Waschlappen in eine Bauchfalte.

Man sagt,...

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