23Das Klischee dürfte ihm nicht gefallen, aber Walter Benn Michaels ist durchaus mit Kontroversen vertraut. Anfang der achtziger Jahre schrieb er gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Steven Knapp einen Artikel mit dem Titel »Against Theory«, in dem sie argumentierten, literarische Werke hätten lediglich die von ihren Autoren beabsichtigte Bedeutung.1 Im Jahr 2006 löste er mit The Trouble with Diversity eine Kontroverse aus, die nicht auf den Elfenbeinturm beschränkt blieb.2 In dem Buch stellte er die These auf, eine Konzentration auf kulturelle Diversität bei gleichzeitiger Abwendung vom Problem der wirtschaftlichen Gleichheit habe den Widerstand gegen den Neoliberalismus untergraben.
Der Neoliberalismus wird oft als einheitliche, homogene Ideologie dargestellt. Hingegen unterscheiden Sie zwischen einem »linken« und einem »rechten« Neoliberalismus. Wo liegt der Unterschied und welcher der beiden Neoliberalismen dominiert gegenwärtig in der amerikanischen Politik?
Walter Benn Michaels: Wenn ich zwischen linkem und rechtem Neoliberalismus unterscheide, will ich damit nicht sagen, einer der beiden bekenne sich nicht zu vom Wettbewerb geprägten Märkten und zur Aufgabe des Staates, diesen Wettbewerb aufrechtzuerhalten. Der Unterschied zwischen beiden Richtungen besteht in meinen Augen darin, dass sich die »linken Neoliberalen« selbst nicht als Neoliberale betrachten. Sie glauben, ihr Kampf gegen 24Rassismus, Sexismus und Homophobie stelle eine Kritik am Neoliberalismus dar. Aber wenn man sich die Geschichte der neoliberalen Idee ansieht, erkennt man rasch, dass der Neoliberalismus eben aus einem Bekenntnis zu diesem Kampf hervorgeht.
Zu den ersten wichtigen amerikanischen Arbeiten auf dem Gebiet der neoliberalen Ökonomie zählt The Economics of Discrimination.3 In diesem Buch versuchte Gary Becker zu zeigen, dass sich die Akteure in vom Wettbewerb geprägten Volkswirtschaften keine Diskriminierung leisten können. Michel Foucault sah die Anfänge des Neoliberalismus in Europa in dem Horror angesichts der Taten des nationalsozialistischen Staates und der Erkenntnis, dass man dem Staat eine sehr viel befriedigendere Legitimierung verschaffen könne, indem man ihn zum Hüter des Marktwettbewerbs statt zum Hüter des Volkes ernannte. Und die heutige neoliberale Orthodoxie besagt, dass soziale Gerechtigkeit vor allem auf der Verteidigung des Eigentums und dem Kampf gegen Diskriminierung beruht. Das ist der Kern des Neoliberalismus. Die rechten Neoliberalen verstehen das, die linken Neoliberalen verstehen es nicht.
Im Mittelpunkt Ihrer Arbeit steht die These, dass wir uns auf gleichberechtigte Ausbeutung zubewegen oder dass dies zumindest das ideologische Ziel der herrschenden Klasse ist. Was erklärt also die Verschiebung gegenüber dem historischen Vorgehen des Kapitals, das heißt dem Einsatz von ethnischen Gegensätzen, um die Arbeiterklasse besser ausbeuten zu können?
25Ich denke, es steht außer Frage, dass es so ist. Im 19. Jahrhundert und über weite Strecken des 20. Jahrhunderts war der Kapitalismus klassisch imperialistisch, und der Imperialismus ist ohne Rassismus, ohne klares Bekenntnis zur Überlegenheit der europäischen und amerikanischen Weißen, eigentlich nicht möglich. Aber zu den Dingen, die offenkundig geworden sind ‒ wenn wir die Frage des Rassismus und die Frage der Diskriminierung im Allgemeinen beiseitelassen ‒, gehört die Tatsache, dass sich die Bedingungen für das Kapital im 20. Jahrhundert radikal geändert haben. Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Erklärungen dafür. Selbst jene auf der Linken, die zustimmen, dass die sinkende Profitrate eine zentrale Rolle gespielt hat, sind sich nicht darüber einig, ob dies eine strukturelle Notwendigkeit oder eine kontingente Entwicklung ist. Aber es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Neoliberalismus mit einer Internationalisierung einherging, die nicht auf Imperialismus reduziert werden kann, und dass er vor allem die Notwendigkeit der Mobilität nicht nur des Kapitals, sondern auch der Arbeitskräfte mit sich brachte.
Bekanntlich gewann Stalin zwar die Diskussion, verlor jedoch den Krieg um die Frage, ob der Sozialismus in einem Land möglich war. Hingegen hat nie jemand auch nur eine Millisekunde lang geglaubt, den Neoliberalismus könne es nur in einem Land geben. Eine einfache Interpretation würde lauten, die Bedingungen der Mobilität von Arbeit und Kapital hätten nach dem Zweiten Weltkrieg einen außergewöhnlichen Anstieg der Immigration erforderlich gemacht. In den Vereinigten Staaten leben heute rund 38 Millionen Menschen, die im Ausland gebo26ren wurden; das entspricht etwa der Bevölkerung Polens. Dies ist ein Ergebnis der Abstimmung von Kapitalmobilität und Arbeitskräftemobilität, und wenn man beginnt, eine solche multiethnische oder multinationale Erwerbsbevölkerung aufzubauen, die wir heute als multikulturelle Bevölkerung bezeichnen würden, braucht man natürlich Technologien, um sie zu steuern.
In den Vereinigten Staaten intensivierte sich diese Entwicklung mit dem Immigration Act von 1965, der in der Praxis den ausdrücklichen Rassismus des Einwanderungsgesetzes von 1924 verwarf und durch im Wesentlichen neoliberale Kriterien ersetzte. Bis dahin hatte es fast ausschließlich von ethnischen ‒ oder, um den damals bevorzugten Begriff zu verwenden, »nationalen« ‒ Kriterien abgehangen, ob ein Mensch in die Vereinigten Staaten einwandern durfte. Wenn ich mich richtig erinnere, lag zum Beispiel die Quote für Einwanderer aus Indien im Jahr 1925 bei 100 Personen. Ich weiß die Zahl der indischen Einwanderer in die USA seit 1965 nicht aus dem Gedächtnis, aber seit damals wandern vermutlich jeden Tag innerhalb von anderthalb Stunden 100 Inder ein. Der damit einhergehende Antirassismus ist offenkundig zu begrüßen, aber er diente vor allem dazu, die Grenzen für Menschen zu öffnen, die der amerikanischen Wirtschaft zugutekommen würden. Es handelt sich vielfach um hoch qualifizierte Arbeitskräfte ‒ um Ärzte, Rechtsanwälte und Geschäftsleute. Ein hoher Prozentsatz der asiatischen Einwanderer in den siebziger und achtziger Jahren gehörte in ihren Herkunftsländern der Oberschicht und der oberen Mittelschicht an und erlangte diesen Status rasch auch in den Vereinigten Staaten. Gleichzeitig stieg die Zahl gering 27qualifizierter mexikanischer Einwanderer, die Jobs übernahmen, für die sich sonst niemand gefunden hätte ‒ oder zumindest nicht zu dem Preis, den das Kapital zu zahlen bereit war. In gewissem Sinn erfordert der Internationalismus des neoliberalen Prozesses also eine Form von Antirassismus, und der Neoliberalismus hat in zweierlei Hinsicht tatsächlich sehr guten Gebrauch von der Form des Antirassismus gemacht, den wir entwickelt haben, das heißt vom Multikulturalismus.
Erstens gibt es kein einziges amerikanisches Unternehmen, dessen Personalabteilung sich nicht darauf verpflichtet, die Unterschiede zwischen den Kulturen zu respektieren, und bemüht ist, dafür zu sorgen, dass die Kultur der Mitarbeiter ungeachtet ihres Lebensstandards respektiert wird. Zweitens sind Multikulturalismus und Diversität besonders wirksame Legitimierungswerkzeuge, denn sie besagen, dass das Ziel der sozialen Gerechtigkeit in einer neoliberalen Volkswirtschaft nicht darin besteht, die Unterschiede zwischen Reichen und Armen zu verringern ‒ tatsächlich wächst der Unterschied zwischen Reichen und Armen in der neoliberalen Wirtschaft in der Regel eher, als dass er schrumpfen würde ‒, sondern darin, dass keine Kultur mit Neid betrachtet werden sollte und dass eine Vergrößerung der wirtschaftlichen Unterschiede im Grunde in Ordnung ist, solange die zunehmend erfolgreichen Eliten so wie die zunehmend erfolglosen Nichteliten aussehen. In diesem Modell der sozialen Gerechtigkeit lautet das Ziel also nicht, dass die Reichen nicht so viel und die Armen mehr verdienen sollten, sondern dass die Reichen verdienen können, so viel sie wollen, solange ein angemessener Prozentsatz von ihnen 28Frauen sind oder Minderheiten angehören. Das ist eine lange Antwort auf Ihre Frage, aber es handelt sich um eine wichtige Frage. Die Essenz der Antwort ist eben, dass die Internationalisierung, die neue Mobilität von Kapital und Arbeit, einen Antirassismus hervorgebracht hat, der nicht dem Widerstand gegen oder auch nur der Kritik am Kapital, sondern dessen...