Prolog
Die Gross-Familie aus Aachen hatte unser Ferienhaus über AirBnB gebucht – und bereits bezahlt. Auch ein grosser Hund sollte sie begleiten. Scuol lag unter einer frischen Schnee-Decke, was für diese Jahreszeit eher ungewöhnlich ist. In der Regel wird es kurz vor Weihnachten nochmals etwas wärmer, wie auch in den vergangenen zwei Jahren. Frau Holle hatte damals erst im Januar ihre Tätigkeit aufgenommen. Als die Aachener eintrafen, schien die Sonne, der Himmel zeigte sein schönstes Blau, welches nur in den Bergen so klar sein kann.
Wir führten sie durch das wiederbelebte, traditionelle Rundbogen-Portal hindurch in den vollständig restaurierten Piertan hinein. Bereits beim Öffnen der Türe hörte ich ein leises «Ohh, wie schön» hinter mir. «Das ist ja der Hammer!» meinte einer der Jungs und blieb beim Eingang stehen, sodass die anderen nicht eintreten konnten. Noch während wir uns gegenseitig vorstellten und erste Tipps für den Aufenthalt abgaben, überreichte uns der «Hammer-Junge» ein Willkommens-Geschenk, welches sie aus Aachen mitgebracht hatten: Aachener Printen. Wenn Du diese süsse, etwas nach Lebkuchen schmeckende Spezialität nicht kennen solltest sei gesagt: «sie sind der Hammer!».
Die Woche verging wie im Flug. Bei uns begann sich bereits wieder eine leichte Nervosität aufzubauen. Einerseits interessierte es uns, ob sich die Aachener bei uns wohl gefühlt hatten. Andererseits hatten sich bereits die nächsten Ferien-Gäste angekündigt, zwei Familien mit Kindern aus dem Unterland, wie wir die Leute nennen, die nicht in den Bergen leben. Unser Unbehagen war unbegründet. Die Aachener meinten beim Abschied, dass sie schon viele Ferienorte und Ferienhäuser besucht hätten, aber so etwas Tolles hätten sie noch nie erlebt. Der Bericht bei AirBnB, welchen man sich gegenseitig als Bewertung schreibt, war entsprechend überschwänglich positiv und sehr detailliert.
Ecke in einer Stüva eines einfachen Engadinerhauses, welches später vollständig restauriert wurde.
restauriertes Zimmer mit Tisch und zwei Stabellen. Die Wand wurde mit Altholz verkleidet, der Boden geschliffen.
Der Zufall wollte es, dass die nächsten Gäste Ferien-Profis waren, was wir erst bei deren Begrüssung feststellen durften. Der eine Gast arbeitete schon längere Zeit bei Schweiz-Tourismus. Würden diese das Haus kritischer beurteilen und wenn ja, was würden wir von ihnen lernen können? Auch diese Gäste, welche beim erstmaligen Eintreten mehrere «Aahs» und «Ohhs» ausgestossen hatten, verliessen das Haus mit viel Lob – und reservierten es erneut für die kommende Saison. Bei den dritten Gästen war die Frau Architektin, welche auf Umbauten von Fachwerk-Häusern in Deutschland spezialisiert war – also ein weiterer Profi. Bei ihr mussten wir schon gar nicht abwarten, bis ihre Ferien abgeschlossen waren. Schon bei ihrer Ankunft lief sie begeistert durch alle Räume und lobte unsere Arbeit in den höchsten Tönen. Unser Start schien geglückt.
Die «Chasa Arquint» am Rande der historischen Dorfkern-Zone von Scuol-Sot wurde nach dem Dreissig-Jährigen-Krieg um 1650 gebaut und ging Anfang 2017 in unseren Besitz über. Für uns war bereits bei Vertragsunterzeichnung klar, dass wir es vollständig restaurieren wollten. Engadinerhäuser verströmen seit jeher für Feriengäste einen Zauber, der sich vielleicht auch damit erklären lässt, dass man sich darunter «die gute, alte Zeit» vorstellt. Will man es aber ganzjährig bewohnen, zeigen sich für den modernen Menschen einige Nachteile, welche erst mit der Zeit zu Tage treten. Sie sind fast nicht ausreichend warm zu kriegen. Sie verfügen über kleine Fenster und sind daher im inneren eher dunkel. Sie wurden oft in engen Gassen nahe aneinandergebaut. Da sie damals als Bauernbetriebe erstellt wurden, legte man keinen Wert auf Parkplätze oder gar Garagen. Sie knarren und sind sehr ringhörig. Das damals eingesetzte Mobiliar ist heute zwar nett anzuschauen, aber für moderne Bedürfnisse nur für Abenteurer interessant. Wer will sich heute schon bei Minus-Graden auf ein Plumps-Klo setzen? Wer liebt es, mehr als zehn Minuten auf einer Stabelle, einem ungemütlichen Holzstuhl, an einen wackeligen Tisch setzen? Wer kann es sich vorstellen, in einem Bett mit den Ausmassen sechzig mal einssiebzig auf einer beinharten Matratze zu übernachten? Wer findet es echt lustig, auf einem mit Holz gefeuerten Herd mehr als eine Suppe aufzukochen?
Ehemalige Knechten-Kammer im Dachgeschoss eines Engadinerhauses. Das Zimmer wurde von aussen im kalten Estrich isoliert, sodass es von innen immer noch aussieht wie vor mehreren Generationen.
Wir hatten geplant, das Haus als Ferienhaus für Unter- und Ausländer zu konzipieren, weil wir aus Erfahrung und vielen Äusserungen wussten, wie begeistert diese Gäste ihre schönste Zeit im Jahr in einem «Schellenursli-Haus» (so nannte es ein Berliner-Gast) verbringen würden. Wir standen vor der Herausforderung, wie man diese Nachteile überwinden könnte, ohne den Charme der historischen Bausubstanz zu zerstören. Deshalb hatten wir uns folgende Ziele gesteckt:
- Unsere Gäste sollten gut schlafen können. Die Qualität der Betten musste einwandfrei sein, speziell diejenige der Matratzen.
- Sie würden es sich gemütlich machen wollen. Gemütlich kann man es sich nur machen, wenn man gemütlich sitzen kann. Daher sollten die Stühle und Sitzgelegenheiten qualitativ hochwertig sein.
- Die heutigen Hygiene-Vorstellungen müssten erfüllt sein. Kompromisse bei den sanitären Installationen und der Küche einzugehen, war daher nicht vorgesehen.
- Wir wollten Schränke so zur Verfügung stellen, dass man unbedenklich Kleider darin unterbringen kann.
- Frieren sollten Gäste auf keinen Fall. Daher wollten wir nicht nur in den Wohnräumen, Nasszellen und in der Küche, sondern auch in den Schlafzimmern Heizungen installieren. Das gesamte Haus sollte so isoliert werden, dass viel weniger Wärme entweichen würde, als in nicht isolierten Engadinerhäusern.
- Sie sollten da und dort ein Stück von «damals» erleben dürfen. Alles, was obigen Punkten nicht grundsätzlich widersprach, wollten wir auch traditionell zeigen.
Der Umbau wurde im Januar 2017 gestartet, im April und Mai für fünf Wochen unterbrochen und im August 2017 abgeschlossen. Das Einrichten des Hauses dauerte noch bis zum Start der Winter-Saison 2017/18, wobei auch diese Arbeiten für sechs Wochen im November unterbrochen wurden. Zur Geschichte der «Chasa Arquint in Scuol» und deren Renovation entstand ein Buch mit vielen Bildern, welches unter der ISBN Nr. 9 783744 882859 in allen Buchhandlungen und im Internet erhältlich ist.
Mein bester Freund war einer der ersten Leser des Buches. Als Fan des Unterengadins und dessen Kultur kannte er das Haus noch vor dessen Restauration. Auch während der Umbau-Arbeiten sah er immer wieder mal hinein. Bei der Besichtigung des End-Ergebnisses meinte er, nachdem auch er sich sehr positiv über das Resultat geäussert hatte:
«Du hast in den vergangenen zehn Jahren schon etliche Häuser im Unterengadin in ein Bijou verwandelt. In Deinem Buch beschreibst Du wunderbar, wie Du die «Chasa Arquint» restauriert hast. Ich denke aber, es könnte noch viele Menschen, vor allem Nicht-Architekten und Nicht-Bau-Spezialisten interessieren, wie Du eine solche Aufgabe angehst».
«Wie meinst Du das?» wollte ich von ihm wissen.
«Du weisst ja, dass auch ich mich sehr für alte Häuser, im Speziellen für Engadinerhäuser interessiere. Ich verfüge über etwas Flair für die Frage was-könnte-man-aus-diesem-Objekt-machen, bin aber Laie in der Umsetzung. Ich habe mich deshalb noch nie an ein solches Projekt herangewagt»
Ich überlegte kurz, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Bevor ich zu einer Frage zur Klärung ansetzen konnte, ergänzte er noch:
«Ich habe schon überlegt, ob auch ich so ein Projekt ohne Architekt, ohne Bauleiter, ohne Ingenieur angehen könnte. Ist so etwas möglich und wenn nein, ab wann sollte man diese Spezialisten hinzuziehen? Worauf müsste man achten? Wie ist das mit den gesetzlichen Bestimmungen und so?» er räusperte sich und fuhr gleich wieder fort «all diese Dinge, Du weisst schon. Das wäre doch Stoff für ein Buch, oder etwa nicht?»
Das darauffolgende Wochenende verbrachte ich in unserem Wohnzimmer, weil es draussen schneite. Die gesamte vergangene Woche hatte ich immer wieder über seine Worte nachgedacht. Ich setzte mich in meinen gemütlichen Sessel, klappte meinen Laptop auf und begann das Konzept eines Fachbuches zu skizzieren. Erst als meine Frau mich liebevoll auf die Schulter tippte und mich fragte, ob ich weiter im Dunkeln sitzen wolle, bemerkte ich, dass viele Stunden verstrichen waren. Aber sie hatte sich einen idealen Zeitpunkt für ihre Frage ausgesucht: das Konzept für das...